I. Einleitung
Anstoss zu dieser Arbeit gab Google: Obwohl es das erklärte Ziel dieses Unternehmens ist, «den Zugang zu Informationen weltweit und in jeder Sprache zu ermöglichen"[3], und obwohl Google selbst kommuniziert, dass im Jahr 2010 in der Schweiz acht «Court Orders" (gerichtliche Anordnungen) bezüglich «Content Removal» (Entfernung von Inhalten) eingegangen sind[4], besteht keine Möglichkeit, an diese Urteile zu gelangen. Dies ist sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus anwaltlicher Sicht und nicht zuletzt für Gerichte, die sich mit solchen Fällen zu befassen haben, unbefriedigend. Den endültigen Entschluss zum Verfassen dieser Arbeit habe ich nach erfolglosen Anfragen um Zustellung von Urteilen bei Gerichten in den Kantonen Basel-Stadt[5], Bern[6], Thurgau[7] und Zug[8] gefasst.
Während Beschlüsse der Exekutive und Legislative sowohl auf eigednössicher als auch auf kantonaler Ebene allgemein zugänglich sind, gilt dies nur beschränkt für Gerichtsurteile. Die Gründe dafür sind, abgesehen vom Aufwand, der eine Publikation mit sich bringt, nicht auf den ersten Blick ersichtlich - im Gegenteil: Schutzzwecke der Urteilsöffentlichkeit sind die Unterbindung von Geheimjustiz, die Transparenz der richterlichen Erkenntnisse und die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Rechtspraxis[9]. Es ist jedoch fraglich, ob diesen Schutzzwecken mit dem Wortlaut der Verfassung Genüge getan wird, wenn diese in Art. 30 Abs. 3 BV nur die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung verlangt.
Das Bundesgericht hat die Bedeutung der Justizöffentlichkeit und der daraus abgeleiteten Informationsrechte folgendermassen konkretisiert: «Sie sorgen für Transparenz in der Rechtspflege, was eine demokratische Kontrolle durch das Volk erst ermöglicht, und bedeuten damit eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Ohne Gerichtsöffentlichkeit sind Spekulationen, ob die Justiz einzelne Prozessparteien ungebührlich benachteiligt oder privilegiert, unvermeidlich. Kritik an einseitiger oder rechtsstaatlich fragwürdiger Ermittlungstätigkeit oder mangelhafter Verfahrensleitung bliebe ausgeschlossen»[10]. Das Bundesgericht hat mit seiner Rechtsprechung zu Art. 30 Abs. 3 BV, der nur Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung für öffentlich erklärt, den Geltungsbereich dieser Bestimmung somit ausgedehnt[11].
Die vorliegende Arbeit vermittelt zunächst den Status quo der Urteilspublikation auf Bundesebene und in den Kantonen, bevor untersucht wird, ob und in welchem Umfang Urteile publiziert werden müss(t)en und was allenfalls dagegen sprechen könnte. Ein nicht selten gegen die Publikation von Urteilen vorgebrachtes Argument ist der Anonymisierungsaufwand. In diesem Zusammenhang ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch zu prüfen, ob eine durchgängige Anonymisierung nötig und sinnvoll ist, wobei auch der Aufwand für die Anonymisierung von Urteilen berücksichtigt werden soll.
II. Aktuelle Publikationspraxis der Gerichte in der Schweiz
Die vier Gerichte des Bundes publizieren grundsätzlich all ihre Urteile. Seit der vom Volk im Jahr 2000 angenommenen[12] Justizreform ist die Information der Öffentlichkeit über die Rechtsprechung im Bundesgerichtsgesetz (Art. 27 BGG[13]), im Verwaltungsgerichtsgesetz (Art. 29 VGG[14]) und im Strafbehördenorganisationsgesetz (Art. 63 StBOG[15]) festgehalten; ebenso wird sie im Patentgerichtsgesetz verlangt (Art. 25 PatGG[16]).
Das Bundesgericht veröffentlicht seit 1875[17] eine Auswahl von Leitentscheiden in der amtlichen Sammlung (BGE[18]) und ist im Jahr 2000 dazu übergegangen, zusätzlich ungefähr die Hälfte aller Urteile[19] und ab 2007 sämtliche End- und Teilentscheide sowie die vom Abteilungspräsidium bezeichneten Vor- und Zwischenentscheide in anonymisierter Form im Internet aufzuschalten[20].
Bundesverwaltungsgericht und Bundesstrafgericht veröffentlichen seit der Aufnahme ihrer Tätigkeit alle Urteile online[21], ebenfalls durchgängig anonymisiert. Vergleichbar mit den BGE bringen auch das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht eine amtliche Sammlung heraus[22]: die Entscheide des schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts (BVGE) bzw. die Entscheide des schweizerischen Bundesstrafgerichts (TPF).
Auch das Bundespatentgericht als - im wahrsten Sinne des Wortes - jüngstes Gericht veröffentlichte von Anbeginn, d.h. seit dem Jahr 2012, sämtliche Entscheide auf seiner Webseite. Im Unterschied zu den anderen Gerichten des Bundes wird hier aber von einer Anonymisierung im Grundsatz abgesehen[23] und es existiert auch keine amtliche Sammlung von Entscheiden des Bundespatentgerichts[24].
Weit weniger einheitlich wird die Publikation von Gerichtsurteilen auf kantonaler Ebene gehandhabt, wie eine in sämtlichen Kantonen durchgeführte Umfrage (Stand 2012[25]) zeigt. Mit Ausnahme des Kantons Glarus[26] publizierten im Jahr 2012 zwar alle Kantone Urteile, kein Kanton verfolgt aber dabei den Grundsatz, dass sowohl inhaltlich als auch bezogen auf die verschiedenen Gerichte und Instanzen sämtliche Entscheide zu publizieren sind. Insgesamt 6 Kantone (BL, GR, LU, TI, VD, ZH) veröffentlichen allerdings schon alle Sachurteile des Kantons-/Obergerichts bzw. der oberen kantonalen Gerichte. Alle anderen Kantone nehmen eine inhaltliche Auswahl vor, wobei die meisten Kantone (Ausnahmen: AI, BS, GE, VS, ZG) zusätzlich eine Beschränkung auf die oberen kantonalen Gerichte kennen.
In neun Kantonen bestehen Pläne zum Ausbau der Publikation von Urteilen: Im Kanton Basel-Stadt war ursprünglich für 2013 die Einführung einer eigenen elektronischen Publikation der Urteile des Appellationsgerichts geplant. Im Kanton Bern ist seit 2012 eine Webpublikation mit besseren Suchmöglichkeiten geplant. Im Kanton Freiburg sieht das am 1. September 2012 in Kraft getretene Reglement über die Information der Öffentlichkeit in Gerichtssachen[27] eine vermehrte Publikation von Gerichtsurteilen vor. Im Kanton Genf gibt es zusätzliche personelle Ressourcen für die Anonymisierung und im Kanton Glarus werden seit Kurzem einzelne Urteile des Obergerichts (Zivil- und Strafsachen) und des Verwaltungsgerichts auf dem Internet publiziert. Der Kanton Zug prüfte im Jahr 2012, ob die jährlich als Gerichts- und Verwaltungspraxis (GVP) publizierten Entscheide in Zukunft fortlaufend, d.h. nicht mehr erst im folgenden Jahr, publiziert werden sollen und hat sich offenbar dagegen entschieden oder den Entscheid bisher nicht umgesetzt[28]. Schliesslich war auch in den Kantonen Genf, Luzern, Nidwalden und Wallis ein Ausbau geplant, wobei im Zeitpunkt der Umfrage noch keine konkreten Pläne vorlagen.
In den meisten Kantonen werden sämtliche Urteile anonymisiert. Ausnahmen kennen die Kantone Appenzell Innerrhoden (wenn eine Streitsache bereits öffentlich bekannt ist), Genf (Anonymisierung nur bei «décisions sensibles»[29]), Luzern (i.d.R. keine Anonymisierung im Medienraum[30]), Schaffhausen (keine Anonymisierung bei fehlendem Schutzinteresse[31]), Waadt (Anonymisierung abhängig vom Rechtsgebiet[32]) und Zürich (allenfalls keine Anonymisierung bei namens- und markenrechtlichen Angelegenheiten).
Mit Ausnahme des Kantons Thurgau können die Urteile in allen Kantonen beim Gericht vor Ort eingesehen werden. In 13 Kantonen[33] können die vollständigen Urteile eingesehen werden, in 8 Kantonen[34] nur das Dispositiv [35]. Meistens ist diese Einsichtsmöglichkeit zeitlich beschränkt: die Dauer bewegt sich zwischen 3 Tagen im Kanton Zug und 3 Monaten im Kanton Basel-Stadt, verbreitet sind 30 Tage[36]. 7 Kantone kennen keine zeitliche Beschränkung[37].
In allen Kantonen ausser Appenzell Innerrhoden, Obwalden, Thurgau und Uri können Urteile beim Gericht bestellt werden. Die Kantone Freiburg, Solothurn, Wallis und Zug schränken diese Möglichkeit auf begründete Fälle wie z.B. Geltendmachung eines wissenschaftlichen Interesses ein. Einem Gesuch um Zustellung aller Urteile aus einem bestimmten Rechtsgebiet (z.B. Immaterialgüterrecht) würde in 9 Kantonen entsprochen[38], in 13 Kantonen würde es dagegen abgelehnt[39] und 4 Kantone behalten sich eine Einzalfallprüfung vor[40]. 10 Kantone gaben an, ihre Publikationspraxis durch das Inkrafttreten der ZPO angepasst bzw. ausgebaut zu haben[41].
III. Rechtsgrundlagen für eine Publikationspflicht
Nachfolgend wird untersucht, ob eine allgemeine Publikationspflicht in Bezug auf Urteile besteht bzw. auf welche Rechtsgrundlagen sich eine solche allenfalls stützt. Nebst der verfassungs- und völkerrechtlich festgeschriebenen Pflicht zur öffentlichen Urteilsverkündung werden die Pflicht zur Publikation normativer Akte, das Akteneinsichtsrecht sowie die Öffentlichkeitsgesetze herangezogen, bevor abschliessend ein Blick auf Art. 54 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung geworfen wird. Dieser lautet: «Die Entscheide werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.»
1. Pflicht zur öffentlichen Urteilsverkündung
Im Kapitel Grundrechte verlangt die Verfassung die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (Art. 30 Abs. 3 BV). Die Gerichtsöffentlichkeit hat sowohl eine rechtsstaatliche als auch eine demokratische Funktion: In ihrer rechtsstaatlichen Komponente dient die Transparenz der fairen Behandlung der Prozessbeteiligten, in ihrer demokratischen Funktion erlaubt sie es der Bevölkerung, sich an konkreten Beispielfällen über die Rechtsdurchsetzung zu informieren und über die wirksame und angemessene Erfüllung der Richteraufgabe zu wachen[42].
Aus dem Wortlaut von Art. 30 Abs. 3 BV lässt sich kein direkter Anspruch auf Öffentlichkeit des Urteilstextes ableiten, da nur die Verkündung des Urteils genannt ist. Übereinstimmend besagt Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass das Urteil öffentlich verkündet werden muss[43] und gleiche Garantien enthält auch Art. 14 Ziff. 1 UNO-Pakt II[44]. Eine aus BV, EMRK oder UNO-Pakt II direkt abgeleitete Pflicht zur Verkündung der Urteile durch Publikation besteht somit nicht[45].
Mit Blick auf Sinn und Zweck der verfassungs- und völkerrechtlich garantierten Urteilsöffentlichkeit ist es jedoch fraglich, ob eine einmalige Verlesung oder die zeitlich beschränkte Auflage im Gerichtsgebäude genügen. Schutzzwecke der Urteilsöffentlichkeit sind die Unterbindung von Geheimjustiz, die Transparenz der Justiztätigkeit und die Schaffung von Vertrauen in den Rechtsstaat[46]. Während bei einer öffentlichen Urteilsverkündung von Geheimjustiz nicht die Rede sein kann, wird das Vertrauen in den Rechtsstaat durch die Publikation eines Urteils zweifellos zusätzlich gestärkt. Entscheidend ist aber m.E. die Transparenz der Justiztätigkeit, welche mit einer einmaligen öffentlichen Verkündung nur ansatzweise erreicht wird und erst bei einer Urteilspublikation vollumfänglich gegeben ist.
Die Schutzzwecke der Urteilsöffentlichkeit sind insbesondere auch nicht etwa abhängig von der Instanz, welche das in Frage stehende Urteil gefällt hat[47]. Die Veröffentlichung von Urteilen ist nicht zuletzt auch Basis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gerichtspraxis, was wiederum für die Weiterentwicklung von Rechtsprechung und Gesetzgebung grundlegend ist[48]. Das Bundesgericht hat bereits im Jahr 2001 festgehalten, dass dem Zweck des Verkündungsgebots mit einer Publikation in Periodika oder auf dem Internet besser gedient sein dürfte als mit einer mündlichen Eröffnung des Urteils an einer Gerichtsverhandlung, da das Publikum faktisch nur begrenzte Möglichkeiten hat, an derartigen Verhandlungen teilzunehmen[49].
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass bereits die Pflicht zur öffentlichen Urteilsverkündung gemäss Verfassung, EMRK und UNO-Pakt II mit einer Urteilspublikation ungleich besser erfüllt wird als mit dem einmaligen Verlesen im Gerichtssaal ggf. kombiniert mit einer öffentlichen Auflage.
2. Anspruch auf Kopie eines Urteils
In einem Urteil aus dem Jahr 2006 (nicht als BGE publiziert) hat das Bundesgericht festgehalten, dass dem Anspruch auf öffentliche Urteilsverkündung dann Genüge getan wird, «wenn das Urteil bei einer der Öffentlichkeit zugänglichen Kanzlei aufgelegt wird, wo jedermann, der ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen kann, den vollständigen Text des Urteils einsehen oder sich gegen eine allfällige Gebühr eine Kopie erstellen lassen kann; weitergehende Ansprüche - insbesondere auf Zustellung einer Kopie - bestehen dagegen, gestützt auf die genannten Bestimmungen, nicht»[50].
3. Pflicht zur Publikation normativer Akte
Die Pflicht zur Publikation normativer Akte ist in der Verfassung nicht explizit erwähnt[51], ergibt sich aber aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 5 BV) und aus der Pflicht zur Wahrung von Treu und Glauben (Art. 9 BV)[52].
Im Rahmen der Globalisierung verschwinden zunehmend die Unterschiede zwischen dem präjudizienorientierten Common Law und dem ursprünglich einzig dem Gesetz verpflichteten Civil Law[53]. Auch in der Schweiz werden das Fallrecht und die Kenntnis desselben daher immer wichtiger[54]. Dies wiederum setzt voraus, dass das massgebende Fallrecht für jedermann zugänglich ist. Damit stellt sich die Frage, ob eine Unterscheidung in massgebendes und nicht massgebendes Fallrecht sinnvoll bzw. überhaupt möglich ist. Auf diese Frage wird im vierten Teil dieser Arbeit (Umfang der Publikationspflicht) eingegangen.
Die Publikation von Urteilen aufgrund ihres Präjudizcharakters ist auch für die Chancengleichheit im Prozess zentral, weil es Behörden und Richterinnen (die gleichzeitig auch als Anwältinnen tätig sein können[55]) insbesondere durch interne Datenbanken leichter fällt, sich über die Entwicklung der Rechtsprechung auf dem Laufenden zu halten[56].
4. Akteneinsichtsrecht
Das Akteneinsichtsrecht ist Bestandteil des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV[57]. Ein Gericht, das sich auf einen früheren, aber nicht publizierten Entscheid abstützt, verletzt elementare Aspekte der Fairness, wie sie die EMRK, der UNO-Pakt II und die BV garantieren[58]. Aufgrund der verbreiteten Copy-Paste-Technik im Rahmen der Begründung von Gerichtsentscheiden besteht darüber hinaus die Gefahr, dass eine bereits früher verwendete Argumentation übernommen wird, ohne dass dies für die Parteien ersichtlich ist.
Man sollte meinen, dass sich ein Gericht davor hütet, explizit auf einen früher gefällten, aber nicht publizierten Entscheid abzustellen. Eine Untersuchung von Entscheiden des Bundesgerichts aus der Zeit vor der Veröffentlichung aller Urteile hat allerdings ganz andere Ergebnisse zutage gefördert: So wurden z.B. in BGE 96 II 69 insgesamt 22 Präjudizien zitiert, wovon 11 amtlich unveröffentlichte Bundesgerichtsentscheide waren; in BGE 103 V 177 waren 8 von 14 zitierten Entscheiden nicht publiziert[59]. Es kommt auch vor, dass ein unpublizierter Entscheid einzig mit dem Datum zitiert wird, sodass ihn das entscheidfällende Gericht selbst auf Gesuch hin nicht mehr findet[60]. In einem anderen Fall hat die amtlich publizierte Rechtsprechung während 18 Jahren nicht der effektiven Rechtsprechung entsprochen, obwohl in dieser Zeit verschiedene Urteile zu dieser Rechtsfrage ergingen[61].
Diese Fälle zeigen, dass das Akteneinsichtsrecht letztlich nur dann vollumfänglich gewährt ist, wenn die Parteien bzw. ihre Vertreter die gleichen Möglichkeiten zur Einsicht und Recherche in den Urteilen eines Gerichts haben, wie dieses selbst. Dies ist zwar nicht einzig durch eine vollumfängliche Veröffentlichung der Rechtsprechung möglich. Der Aufbau einer umfassenden und durchsuchbaren Datenbank nur für Parteien und deren Vertreter erscheint indessen kaum sinnvoll bzw. es ist kein Grund ersichtlich, weshalb eine solche Datenbank nicht öffentlich zugänglich sein sollte.
5. Öffentlichkeitsgesetze
Das Öffentlichkeitsgesetz des Bundes heisst mit vollem Namen «Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung», was bereits daran zweifeln lässt, ob die Justiz in dessen Anwendungsbereich fällt. Art. 3 BGÖ (Sachlicher Geltungsbereich) hält denn auch fest, dass das Gesetz für den Zugang zu amtlichen Dokumenten betreffend Zivil- und Straf- sowie Verfahren der Staats- und Verwaltungsrechtspflege nicht gilt[62]. Entgegen den Ausführungen in der Botschaft, wonach Art. 3 BGÖ sowohl die hängigen als auch die abgeschlossenen Verfahren erfasst[63], wird mit überzeugenden Argumenten dafür gehalten, dass sich die Bestimmung nur auf hängige Verfahren beziehen kann[64]. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit spielt diese Streitfrage jedoch nur für ältere Urteile eine Rolle, weil die Gerichte auf Bundesebene ihre jüngeren Entscheide bereits gestützt auf die entsprechenden Prozessgesetze veröffentlichen.
Die meisten Kantone[65] (Ausnahmen: AI, GL, GR[66], LU[67], NW, OW und TG) haben ebenfalls ein Öffentlichkeits- oder Informationsgesetz bzw. entsprechende Verfassungsbestimmungen erlassen, wobei diese in der Mehrheit (Ausnahmen[68]: AG, SZ, SO, TI, UR, VD, ZH) auch für den Zugang zu Dokumenten der Justiz gelten[69]. In den Kantonen mit Öffentlichkeitsgesetz und ohne Ausnahmebestimmung für die Justiz besteht grundsätzlich ein allgemeiner (Ausnahme: AR[70]) Anspruch auf Einsichtnahme und Zustellung von Urteilen[71].
Auch wenn sich aus den Informations- und Öffentlichkeitsgesetzen kein Anspruch auf Publikation aller Urteile ergibt, besteht im Internetzeitalter die einfachste Möglichkeit zur Umsetzung des Öffentlichkeitsprinzips in der Zugänglichmachung der entsprechenden Informationen über das Internet. Zur passiven, rein duldenden Dimension des Öffentlichkeitsprinzips ist auch für Gerichte eine aktive, kommunikative Dimension hinzugetreten[72]. Dass ein zunehmendes Interesse am Zugang zu diesen Informationen besteht, zeigt ein Blick auf die Opendata- und Openscience-Bewegungen, welche die zeitnahe, vollständige Offenlegung relevanter Primärquellen und den einfachen Zugang auf direkt maschinenlesbare Daten fordern[73].Einzelne Kantone haben zudem die grundsätzliche Kostenlosigkeit des Zugangs zu amtlichen Dokumenten gesetzlich verankert[74]. Wenn für den Aufwand, welche die Zugangsgewährung mit sich bringt, keine Gebühren verlangt werden dürfen, könnten schliesslich auch Kostengründe für (und nicht gegen) die Aufschaltung der Urteile im Internet sprechen.
6. Pflicht zur Zugänglichmachung gemäss ZPO
Unter der Marginalie «Öffentlichkeit des Verfahrens» hält Art. 54 Abs. 1 Satz 2 ZPO fest: «Die Entscheide werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.» Aus dem Gesetzeswortlaut geht nicht eindeutig hervor, ob eine eigentliche Publikation verlangt ist. Der Begriff des Zugänglichmachens erscheint jedoch nicht erfüllt, wenn lediglich eine Einsichtsmöglichkeit am Sitz des Gerichts angeboten wird. Aus dem Wortlaut ergibt sich ferner, dass weder eine Auswahl von Urteilen noch eine zeitliche Beschränkung des Zugangs zulässig sind.
Die Botschaft hält zu diesem Satz lediglich fest, dass die Zugänglichmachung der Entscheide in der Vernehmlassung ausdrücklich gewünscht worden sei[75]. Aus der Zusammenstellung der Vernehmlassungen zum Vorentwurf ZPO geht hervor, dass eine mit «DDG ZH» abgekürzte Organisation[76] folgenden Wortlaut vorgeschlagen hat[77]: «Die Verhandlungen sind öffentlich. Die Entscheide werden veröffentlicht oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.» Zudem hat die Grüne Partei festgehalten[78]: «Aufgrund der in den letzten Jahren aufgetretenen Kontroversen über den Umfang und die Form, in bzw. mit der Gerichtsurteile der Öffentlichkeit (insbes. den Medienschaffenden) zugänglich gemacht werden sollen, halten wir es ferner für sinnvoll, diese Fragen nicht dem kantonalen Recht zu überlassen, sondern in der ZPO-CH entsprechende 'minimal standards' festzulegen.»
In der Lehre wird die Zugänglichmachung gemäss Art. 54 Abs. 1 Satz 2 ZPO als Publikation bzw. Veröffentlichung[79] verstanden, wobei eine Publikation im Internet im Vordergrund stehe[80]. Nach Ansicht von Sutter-Somm/Seiler ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Bestimmung, dass lediglich die vollständig ausgefertigten, d.h. mit schriftlicher Begründung versehenen Entscheide der Öffentlichkeit zugänglich zu machen seien[81]. Dieses Argument überzeugt nur beschränkt, weil Sinn und Zweck der Urteilsöffentlichkeit nebst Transparenz der richterlichen Erkenntnisse eben auch die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Rechtspraxis und die Unterbindung von Geheimjustiz sind. Daher müssen m.E. auch Urteile ohne schriftliche Begründung von dieser Bestimmung miterfasst sein.
Eine ähnliche Formulierung wie in Art. 54 ZPO hat der Ständerat bei der Beratung des BGG eingefügt, indem er der bundesrätlichen Fassung des heutigen Art. 27 BGG einen neuen Absatz angefügt hat mit dem Wortlaut: «Die Entscheide sind grundsätzlich in anonymisierter Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.»[82] Der Nationalrat hat den Absatz kommentarlos umformuliert zum später nicht mehr veränderten Wortlaut: «Die Veröffentlichung der Entscheide hat grundsätzlich in anonymisierter Form zu erfolgen.»[83] Dies legt den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber keinen Unterschied zwischen Zugänglichmachung und Veröffentlichung erkannte. Demgegenüber unterscheidet die zürcherische Kantonsverfassung die beiden Begriffe in Art. 78 KV-ZH, indem Abs. 1 festhält, dass Rechtspflegeentscheide auf angemessene Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, während Abs. 2 besagt, dass die Entscheidungspraxis veröffentlicht wird. Auch die Zugänglichmachung nach Abs. 1 verlangt jedoch eine aktive Information über die getroffenen Entscheide, d.h. sie wird mit einem passiven Dulden richterlicher Behörden gegenüber privater Einblicknahme in die justizielle Tätigkeit allein nicht erfüllt[84].
Auch wenn die in Art. 54 Abs. 1 Satz 2 ZPO verlangte Zugänglichmachung nicht zwingend als Pflicht zur Publikation verstanden werden muss, so ist dies doch die naheliegendste Lesart. Ganz abgesehen davon, dass eine Veröffentlichung der Entscheide im Internet die einfachste, kostengünstigste und auch publikumsfreundlichste Möglichkeit des Zugänglichmachens darstellt.
IV. Umfang der Publikation
Da in der Schweiz keine Bindung an die Rechtsprechung des höchsten Gerichts besteht[85], ist bei der Publikationswürdigkeit schon aus diesem Grund eine Unterscheidung nach Instanzen abzulehnen. Dass erst- und zweitinstanzliche Urteile regelmässig von genauso grossem Interesse sind wie diejenigen des Bundesgerichts, zeigen schon der Abdruck und die Besprechung solcher Richtersprüche in der juristischen Literatur. Gerade in Rechtsgebieten, die sich rasch weiterentwickeln, kann zudem eine juristische Frage innerhalb des Zeitrahmens, den der Instanzenzug konsumiert, bereits wieder veraltet sein. Schliesslich sei die These gewagt, dass gut begründete Urteile die Parteien überzeugen und sie deshalb tendenziell von einem Weiterzug absehen lassen. Auch dies führt zu einem mindestens so grossen öffentlichen Interesse an erst- und zweitinstanzlichen Urteilen wie an Bundesgerichtsentscheiden.
Die Tatsache, dass erst- und zweitinstanzliche Entscheide seltener zitiert werden als diejenigen des Bundesgerichts, ist die Folge (und nicht etwa ein Grund für die Beibehaltung) der mangelnden Zugänglichkeit dieser Richtersprüche. Eine Unterscheidung von massgebendem und nicht massgebendem Fallrecht je nach Instanz, d.h. die stärkere (oder gar ausschliessliche) Berücksichtigung von höchstinstanzlichen Urteilen bei der Publikation ist somit abzulehnen.
Weiter ist zu prüfen, ob eine Auswahl von publikationswürdigen Urteilen aus der Gesamtheit der Entscheide einer bestimmten Instanz angezeigt ist. Das Bundesgericht hat während 125 Jahren ausschliesslich Urteile in Form der BGE, d.h. der amtlichen Sammlung ausgewählter Entscheide bzw. der wichtigsten Erwägungen daraus, publiziert. Dies war nur schon deshalb der einzig gangbar Weg, weil eine Publikation zu dieser Zeit ausschliesslich in gedruckter Form möglich war und der Druck sämtlicher Entscheide des Bundesgerichts hohe Kosten und Papierverbrauch mit sich gebracht hätte. Hinzu kommt aber auch die fehlende Möglichkeit zur effizienten Erfassung der Relevanz eines Urteils für eine bestimmte Frage. Die einzige Hilfe bestand in einer groben Einteilung nach Rechtsgebieten und kurzen Zusammenfassung in Form von Regesten.
Demgegenüber beginnt heute eine Recherche nach relevantem Fallrecht wohl fast immer mit einer computergestützten Suche; lediglich für die Lektüre der gefundenen Urteile wird allenfalls auf eine gedruckte Fassung zurückgegriffen. Eine Internetpublikation vereinigt die Vorteile der allgemeinen Verfügbarkeit und der tiefen Kosten sowohl auf Seiten des Gerichts als auch des Rechtsuchenden. Für eine Auswahl von zu verföffentlichenden Urteilen spricht die Tatsache, dass viele Entscheide das Ergebnis reiner Routinearbeit sind oder einen derart spezifischen Einzelfall betreffen, dass sie fast nur für die konkret betroffenen Parteien von Interesse sein können. Dies dürfte unbestritten sein; das Problem der Auswahl ist jedoch ein anderes und zwar die Möglichkeit zur Nichtpublikation aus sachfremden Gründen.
Auch wenn eine nachvollziehbare und hilfreiche Vorauswahl getroffen wird, bleibt immer der Verdacht, dass sich unter den nicht publizierten Entscheiden der eine oder andere juristisch oder anderweitig interessante Fall befinden könnte. Mögliche sachfremde Gründe für eine unterlassene Publikation können in einer wenig geglückten Begründung oder einem Abwarten, ob die eingeschlagene Praxis in späteren Urteilen ihre Probe besteht, liegen[86]. Auch das Bundesgericht hat die Erfahrung gemacht, dass die «wohlgemeinte Dienstleistung des Bundesgerichts in Form einer Ausscheidung der gänzlich unbedeutenden Urteile [...] nicht mehr gefragt [ist]; Vertrauen in eine gute Auswahl durch das Bundesgericht hat in den Augen Dritter nicht mehr den früheren Stellenwert.»[87]
Eine Analyse der Publikationspraxis des Bundesgerichts hat allerdings gezeigt, dass sogar Praxisänderungen teilweise unpubliziert geblieben sind[88]. Eine selektive Publikation ist systemimmanent dazu verurteilt, sich selbst Lügen strafen zu müssen, weil im Nachhinein unveröffentlichte Urteile eben doch als Präjudizien herbeigezogen werden[89]. Das Bundesgericht hat die Zeichen der Zeit erkannt und ist dazu übergegangen, sämtliche End- und Teilentscheide sowie die vom Abteilungspräsidium bezeichneten Vor- und Zwischenentscheide im Internet aufzuschalten[90]. Dies ist m.E. der einzig richtige Weg. Eine inhaltliche Auswahl von zu publizierenden Urteilen durch das Gericht ist primär aus Transparenzgründen, aber auch wegen der fehlenden Vorhersehbarkeit des Präjudizcharakters eines Entscheids abzulehnen[91].
V. Argumente gegen eine umfassende Publikationspflicht
1. Informationsüberflutung
Als das Bundesgericht vor Jahren den Medien die Versorgung mit sämtlichen Urteilen angeboten hat, haben diese offenbar entrüstet abgelehnt, mit der Begründung, dies käme infolge der zu erwartenden Informationsüberflutung einer indirekten Informationsverweigerung gleich[92]. Dieses Argument mag Gültigkeit gehabt haben, solange man noch keine computergestützten Recherchemöglichkeiten, insbesondere die Volltextsuche, zur Verfügung hatte[93].
Heute ist jedoch die umfassende Kenntnis des massgebenden Fallrechts ohnehin nur noch in sehr begrenzten Rechtsgebieten möglich. Weit wichtiger ist die Kompetenz zum Auffinden der relevanten Informationen anhand von Suchfunktionen, was sich schon daran zeigt, dass juristische Recherchekurse auf unterschiedlichen Niveaus angeboten werden[94]. Dass es einfacher ist, alle relevanten Urteile zu kennen, wenn die Zahl derselben tief bleibt, liegt auf der Hand. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass Urteile mit dieser Begründung nicht oder nur zurückhaltend veröffentlicht werden.
2. Anonymisierungsaufwand
Ein weiteres, oft gegen die Publikation von Gerichtsentscheidungen vorgebrachtes Argument, ist die Anonymisierung bzw. der dabei entstehende Aufwand. In diesem Sinne soll nachfolgend zunächst ein Blick auf die tatsächliche Höhe dieses Aufwands geworfen werden, bevor anschliessend die Notwendigkeit der ausnahmslosen Anonymisierung sämtlicher Urteile hinterfragt wird.
2.1. Aufwand der Anonymisierung
In der in allen Kantonen durchgeführten Umfrage zur Urteilspublikation wurde auch die Frage gestellt, wie gross schätzungsweise der Anonymisierungsaufwand pro Urteil ist. Die von 17 Kantonen gemachten Angaben variieren zwischen 5 und 60 Minuten (Ausnahme Kanton Wallis: 120 Minuten), der Durchschnitt aller gegebenen Antworten beträgt 33 Minuten.
Der Kanton Zürich beschäftigt ein Anonymisierungsteam mit 100 Stellenprozenten, das sich überwiegend aus RechtsstudentInnen zusammensetzt[95]. Diese können von zuhause aus arbeiten und anonymisieren rund 200 Entscheide pro Monat. Ab Zustellung eines Urteils an die Parteien bis zur anonymisierten Online-Publikation vergehen durchschnittlich zweieinhalb Monate.
Der Anonymisierungsaufwand hängt auch massgeblich davon ab, wie anonymisierungsfreundlich ein Urteil verfasst wird[96]. Ist von Beginn an klar, dass ein Entscheid später publiziert werden soll, kann z.B. darauf geachtet werden, dass die Parteinamen nur im Rubrum und im Dispositiv vorkommen, während im Sachverhalt und den Erwägungen die Bezeichnungen gemäss der Rollenverteilung im Prozess (Beschwerdeführer / Gesuchsteller / Beschwerde- / Gesuchsgegner) verwendet werden. Schliesslich kann die Anonymisierung auch durch den Einsatz von Spezialsoftware[97] zumindest teilweise automatisiert und der Aufwand dadurch reduziert werden.
2.2. Notwendigkeit der Anonymisierung
Die Anonymisierung von zu publizierenden Urteilen wird im Bundesgerichtsgesetz, im Verwaltungsgerichtsgesetz, im Strafbehördenorganisationsgesetz und in verschiedenen kantonalen Gesetzen oder Richtlinien standardmässig verlangt[98]. In den Entwürfen des Bundesgerichtsgesetzes, des Verwaltungsgerichtsgesetzes, und des Strafgerichtsgesetzes war die Anonymisierung allerdings noch nicht vorgesehen[99], d.h. sie wurde erst im Rahmen der parlamentarischen Beratung eingefügt.
Nichtsdestotrotz ist die Rechtslage für Entscheide des Bundes-, des Bundesverwaltungs- und des Bundesstrafgerichts damit eindeutig. Es ist jedoch fraglich, ob eine durchgehende Anonymisierung sinnvoll und de lege ferenda geboten ist[100]. Art. 25 PatGG enthält denn auch keine solche Vorgabe mehr und das Bundespatentgericht hat in seinem Informationsreglement die Anonymisierung explizit als Ausnahme und damit die Nichtanonymisierung als Regel statuiert. Art. 3 Abs. 3 IR-PatGer lautet: «Die Veröffentlichung erfolgt in nicht anonymisierter Form, es sei denn, der Schutz privater oder öffentlicher Interessen erfordert eine Anonymisierung. Diese kann von Amtes wegen vorgenommen werden. Bei privaten Interessen wird die Anonymisierung vorgenommen, wenn sie beantragt wird und begründet erscheint.» Der zweite Satz («Diese kann von Amtes wegen vorgenommen werden.») wurde erst per 1. April 2013 ergänzt. In der Zeit ab Inkrafttreten des Reglements am 1. Januar 2012 bis zur Ergänzung des zweiten Satzes per 1. April 2013 gab es somit keine gesetzliche Grundlage zur Anonymisierung von Amtes wegen[101].
Schutzzweck der Urteilsöffentlichkeit ist u.a. die Schaffung von Transparenz. Darunter fällt auch die Möglichkeit der Öffentlichkeit zur Kontrolle der Gleichbehandlung durch die Gerichte[102]. Dass einflussreiche Personen von der Justiz nicht anders als alle anderen behandelt werden, kann nur nachgewiesen werden, wenn die Urteile nicht anonym sind[103]. Wenn zum Vornherein bekannt ist, dass eine berühmte Persönlichkeit vor Gericht steht, wird diese Überwachungsfunktion i.d.R. durch die Medien wahrgenommen. Dies dürfte jedoch nur selten der Fall sein[104], sodass in aller Regel nach einer öffentlichen Verkündung ohne Teilnahme der Öffentlichkeit inkl. Medien keine Möglichkeit mehr besteht, um herauszufinden, ob wirklich alle von einem Gerichtsurteil Betroffenen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Einfluss gleich behandelt werden. Die demokratische Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, gerichtliche Entscheidungen vollständig kennenzulernen, d.h. mitsamt Namen der Beteiligten[105]. Dies bestätigt auch das Bundesgericht, wenn es festhält: «Sofern keine besonderen, schutzwürdigen Geheimhaltungsinteressen - bei deren Vorliegen allenfalls die Öffentlichkeit ausnahmsweise von den Verhandlungen ausgeschlossen werden könnte - ersichtlich sind, hat der Berechtigte Anspruch auf Kenntnisnahme des vollständigen, ungekürzten und nicht anonymisierten Urteils»[106].
Damit soll nicht einer generellen Abkehr von der Anonymisierung von Gerichtsentscheiden das Wort geredet werden. Es gibt zahlreiche Fälle, gerade im Straf-, im Sozialversicherungs- oder im Familienrecht, in denen eine Anonymisierung mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen wichtig erscheint. In vielen anderen Rechtsgebieten, so z.B. im Wirtschafts- (inkl. Steuer-) oder im Verwaltungsrecht[107], ist jedoch auf den ersten Blick kein Grund zur generellen Anonymisierung ersichtlich. Auch das Bundesgericht hat festgehalten, dass mit der Anonymisierung eines Urteils einem berechtigten Interesse der Beschwerdeführerin am Persönlichkeits- und Datenschutz Rechnung getragen wird[108]. Ob ein in diesem Sinne berechtigtes Interesse vorliegt, wird indessen nicht im Einzelfall geprüft, was mit Blick auf Art. 27 Abs. 2 BGG (Veröffentlichung grundsätzlich in anonymisierter Form) auch nichts notwendig erscheint. Die Frage nach der Verfassungsmässigkeit von Art. 27 Abs. 2 BGG ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags mit Blick auf Art. 190 BV obsolet.
Gemäss Bundesrichter Seiler wird von einer Anonymisierung beim Bundesgericht insbesondere dann abgesehen, wenn eine öffentliche Verhandlung oder Beratung stattfindet, weil dann ohnehin die Namen der Parteien bekannt sind[109]. Dies würde allerdings dafür sprechen, grundsätzlich alle Urteile unanonymisiert zu publizieren, weil die Namen der Parteien mit wenigen Ausnahmen (Opferhilfe, Steuerrecht, internationale Rechtshilfe) in den Dispositiven vor Ort eingesehen werden können[110] und damit in vergleichbarem Masse bekannt sind wie bei der Durchführung einer öffentlichen Beratung oder Verhandlung.
Dass der Grundsatz der Anonymisierung auch aus Sicht der Menschenrechte nicht zwingend ist, zeigt zudem ein Blick auf die Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, die i.d.R. anhand der Parteinamen zitiert wird[111]. Die Namen der Beschwerdeführer werden in aller Regel publiziert, obwohl nicht selten Bereiche betroffen sind, die besonders sensibel sind und bei denen eine Nichtanonymisierung in der Schweiz undenkbar wäre, wie z.B. Kindsentführung[112], Verpflichtung zur Ermöglichung von Suizid[113], Adoption[114], Geschlechtsanpassung[115], die Umstände der Bestattung eines totgeborenen Kindes[116] oder die Kenntnis der eigenen Abstammung[117]. Mit Blick auf die Praxis des EGMR wird denn auch vertreten, dass die Bedeutung der Anonymisierung in der Schweiz überschätzt wird[118].
Auch im Vereinigten Königreich, in Frankreich und in Italien werden die Namen aller Prozessbeteiligten inkl. Parteien veröffentlicht, nicht aber in Österreich und Deutschland[119]. In der Schweiz wurden die Namen der Prozessparteien bis in die 1980er-Jahre in der Amtlichen Sammlung bekanntgegeben. Die Änderung der Veröffentlichungspraxis soll mit dem Inkrafttreten des Datenschutzgesetzes zusammenhängen, auch wenn nicht klar ist, inwiefern in der Publikation von Parteinamen eine Verletzung des Datenschutzes liegen soll[120].
VI. Fazit
Urteile vermögen ihre Wirkung im Rechtsstaat nur dann zu entfalten, wenn sie bekannt sind. Eine einzelfallweise Zustellung von schriftlichen Urteilen auf Anfrage genügt zwar vielleicht den Anforderungen der Verfassung, führt aber nur in sehr beschränktem Mass zur geforderten Transparenz. Nur mit einer Publikation sämtlicher Urteile aller Instanzen wird die von der Verfassung verlangte Urteilsöffentlichkeit eindeutig erfüllt, aber auch die Pflicht zur Publikation normativer Akte sowie die Zivilprozessordnung weisen den Weg in diese Richtung.
Nachdem das Bundesgericht zunächst nur eine Auswahl und dann Schritt für Schritt immer mehr und schliesslich sämtliche End- und Teilentscheide publiziert hat, ist inzwischen eine ähnliche Tendenz bei den Urteilen der obersten kantonalen Gerichte feststellbar. Dies ist zu begrüssen, zumal diese Urteile in ihrer rechtsstaatlichen Funktion denjenigen des Bundesgerichts kaum nachstehen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Publikation einer Auswahl von Urteilen nicht zur geforderten Transparenz führt. Hinzu kommt, dass mit der Digitalisierung und den damit einhergehenden Recherchemöglichkeiten heute keine guten Gründe mehr für eine inhaltliche Vorauswahl des zu Publizierenden bestehen. Es ist somit davon auszugehen, dass auch die obersten kantonalen Gerichte früher oder später dazu übergehen werden, all ihre Urteile zu publizieren. Das Gleiche gilt für die erstinstanzlichen Gerichte, deren Urteile heute in den meisten Kantonen noch gar nicht veröffentlicht werden.
Den verfassungsrechtlichen Vorgaben kann in der Regel nur mit einem Gang bis vor Bundesgericht[121] oder sogar an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Durchbruch verholfen werden. Es besteht aber eine gewisse Hoffnung, dass Art. 54 ZPO dem Gedanken des Zugänglichmachens über das Zivilrecht hinaus zum Durchbruch verhilft.