Die kontrollierte Abgabe von Cannabis als
wissenschaftliche Forschung aus rechtlicher Sicht
Samuel Schweizer
Das Bundesamt für Gesundheit verweigerte der Universität
Bern eine Ausnahmebewilligung für die Abgabe von Cannabis zu
Genusszwecken im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie. Das
Betäubungsmittelgesetz sieht die Abgabe von
Betäubungsmitteln ausnahmsweise zu wissenschaftlichen Zwecken
vor. Nach der Auffassung des Autors wäre eine begrenzte Studie
nach geltendem Recht grundsätzlich bewilligungsfähig.
Zitiervorschlag: Samuel Schweizer, Die kontrollierte Abgabe von
Cannabis als wissenschaftliche Forschung aus rechtlicher Sicht, in: sui-generis 2018, S. 205
URL: sui-generis.ch/69
DOI:
https://doi.org/10.21257/sg.69
I. Einleitung
Am 10. Mai 2017 beantragte die Universität Bern beim Bundesamt
für Gesundheit (BAG) eine Ausnahmebewilligung für die Abgabe von
Cannabis zu Genusszwecken im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie. Die
Studie sah vor, dass die Teilnehmenden den Cannabis über Apotheken
beziehen können. Durch die Studie sollte untersucht werden, wie sich
ein regulierter Verkauf von Cannabis auf die Konsumierenden und auf den
illegalen Cannabismarkt in der Stadt Bern auswirken würde.[1]
Das BAG lehnte ab und teilte Folgendes mit:
«In der Schweiz sind unter anderem Anbau, Herstellung,
Inverkehrbringen, Besitz und Konsum von Cannabis gemäss dem aktuell
gültigen Betäubungsmittelgesetz verboten. Für
wissenschaftliche Forschungsprojekte oder für die beschränkte
medizinische Anwendung können Anbau, Herstellung und Inverkehrbringen
von Cannabis ausnahmsweise bewilligt werden. Der Konsum zu Genusszwecken,
wie ihn die vorliegende Studie vorsieht und voraussetzt, bleibt aber in
jedem Fall verboten und kann nach Betäubungsmittelgesetz nicht
bewilligt werden, auch nicht im Rahmen von wissenschaftlichen Studien. Aus
diesem Grund konnte das BAG die Ausnahmebewilligung nicht erteilen.
(…)
Um solche Studien bewilligen zu können, müsste das
Betäubungsmittelgesetz mit einem Experimentierartikel ergänzt
werden. Damit könnte das Verbot des Konsums von Cannabis zu
Genusszwecken während einer bestimmten Zeit und beschränkt auf
bestimmte Orte und einen bestimmten Adressatenkreis für
wissenschaftlich begleitete Studien ausser Kraft gesetzt werden.»[2]
Das BAG ergänzte, dass ein solcher «Experimentierartikel»
ein gesundheitspolitisches Anliegen sei.[3]
Die Universität Bern akzeptierte den Entscheid des BAG und legte keine
Rechtsmittel ein.[4]
Der vorliegende Beitrag soll untersuchen, ob die rechtliche Analyse des BAG
korrekt ist oder ob eine derartige Studie bereits auf der Grundlage des
geltenden Rechts hätte bewilligt werden können.
II. Hintergrund und Gegenstand der nicht bewilligten Studie
Cannabis ist das in der Schweiz am häufigsten konsumierte verbotene
Betäubungsmittel.[5]
In den letzten Jahren haben u.a. Uruguay (2013) sowie die US-Bundesstaaten
Colorado und Washington (beide 2012), Oregon und Alaska (beide 2014), sowie
Kalifornien, Nevada und Massachusetts (alle 2016) Cannabis
entkriminalisiert. Weitere (Bundes-)Staaten planen die Entkriminalisierung. Eine Entkriminalisierung des
Cannabiskonsums wird in der Schweiz seit Jahren diskutiert. Uruguay war der
erste Staat, der die Substanz Ende 2013 legalisierte.[6]
Vor diesem Hintergrund hätte die Studie vom Clinical Trials Unit (CTU)
Bern, einer Abteilung der medizinischen Fakultät der Universität
Bern, durchgeführt werden sollen.[7]
Methodisch hätte die Studie auf zwei zufällig (randomisiert)
ausgewählten Vergleichsgruppen von regelmässigen
Cannabiskonsumenten basiert, die sich in dem Punkt unterschieden
hätten, dass die eine Gruppe früher als die andere Zugang zu
reguliertem Cannabis erhielt. Den einzelnen Mitgliedern der
Vergleichsgruppen wären regelmässig verschiedene quantitative und
qualitative Fragen gestellt worden. Die Befragungen wären anonym
gewesen.[8]
Die Website, die für die Studie aufgeschaltet wurde, fasste das
Studiendesign wie folgt zusammen:
«In einer ersten Phase wird eine randomisiert-kontrollierte Studie
durchgeführt. Sie hat das Ziel, die gesundheitlichen und
sozialen Auswirkungen des Cannabiskonsums in zwei verschiedenen Gruppen zu
vergleichen. Eine Gruppe kann von Beginn weg Cannabis in Apotheken kaufen,
die andere Gruppe kann dies in den ersten 6 Monaten noch nicht. Im
Anschluss an die randomisierte Studie erhalten alle Studienteilnehmenden
die Möglichkeit, für mindestens 12 und maximal 30 Monate Cannabis
in der Apotheke zu erwerben. Diese zweite Phase erlaubt uns, die sich
hieraus ergebenden gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Stadt vor und
nach dem bewilligten Verkauf zu vergleichen.»[9]
Die Berner Studie wollte, so steht es im zweiten Satz, die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen von zwei
Vergleichsgruppen untersuchen (nämlich von regelmässigen
Cannabiskonsumenten, welche Cannabis quasi-legal erwerben, und solchen, die
Cannabis illegal erwerben). Im letzten Satz ist die Rede davon, dass die
gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Stadt untersucht werden sollen.
Die folgenden Outcome-Parameter hätten vor, während und nach der
Einführung der regulierten Cannabisabgabe erfasst werden sollen:
-
Veränderungen im Konsumverhalten wie Konsumkompetenz
oderproblematischer Konsum, Risikowahrnehmung und Befinden.
-
Wissen über Cannabis, seine Wirkungen und Gefahren des
problematischen Konsums.
-
Spitaleinweisungen, Bussen und Verzeigungen, Entwicklungen auf dem
Schwarzmarkt.
-
Ökonomische Aspekte, die im Zusammenhang mit Cannabiskonsum
stehen.[10]
Es zeigt sich insgesamt, dass nicht gesundheitliche, sondern
gesellschaftliche Auswirkungen des Cannabis-Konsums im Vordergrund der
Studie hätten stehen sollen.
III. Grundsätzliches Verbot von
Cannabis
Gemäss Art. 2 lit. a BetmG[11]
gilt Cannabis, «sowie Stoffe und Präparate, die auf [dessen]
Grundlage hergestellt werden oder eine ähnliche Wirkung wie diese[s]
haben», als Betäubungsmittel.
Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. d BetmG
dürfen Betäubungsmittel des Wirkungstyps Cannabis «weder
angebaut, eingeführt, hergestellt noch in Verkehr gebracht
werden». Cannabis ist mit anderen Worten verboten (so auch die
Sachüberschrift zu Art. 8 BetmG: «Verbotene
Betäubungsmittel»).
In Anhang 1 BetmVV-EDI[12], dem gesetzlichen Verzeichnis der Betäubungsmittel, psychotropen
Stoffe, usw. wird sodann Cannabis ab einem THC-Gehalt von 1 Prozent,
Cannabisharz (Haschisch), Cannabissamen und Cannabisstecklinge mit einem
THC-Gehalt von mindestens 1 Prozent aufgeführt.
Der unbefugte Anbau, Handel, Besitz, usw. wird gemäss Art. 19 Abs. 1 BetmG mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet. Der
gewerbsmässige Handel mit Betäubungsmitteln wird mit mindestens
einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft (Abs. 2). Wer unbefugt
Betäubungsmittel vorsätzlich konsumiert oder wer zum eigenen
Konsum eine Widerhandlung im Sinne von Art. 19 BetmG begeht, wird dagegen
nur mit Busse bestraft (Art. 19a Abs. 1 BetmG).
Vorbereitungshandlungen für den eigenen Konsum geringfügiger
Mengen sind nicht strafbar (Art. 19b Abs. 1 BetmG),
wobei 10 Gramm Cannabis als geringfügige Menge gelten (Abs. 2). Der
Konsum von Cannabis bleibt aber strafbar, da auch der Konsum von Cannabis
in einem vereinfachten Verfahren mit einer Ordnungsbusse von CHF 100
bestraft wird (Art. 28b Abs. 1 und 2 BetmG).
Zusammengefasst kann festgehalten werden: Anbau, Handel, Besitz und Konsum
von Cannabis sind nach dem BetmG
grundsätzlich verboten. Jedoch hat der Gesetzgeber für Cannabis
im Vergleich zu andern Betäubungsmitteln Sondervorschriften
vorgesehen, die klar zum Ausdruck bringen, dass Cannabis im Vergleich zu
anderen grundsätzlich ebenfalls verbotenen Betäubungsmitteln als
weniger gravierend betrachtet wird.
IV. Der Ausnahmetatbestand gemäss Art. 8 Abs. 5 BetmG
Vom grundsätzlichen Verbot von Cannabis in Art. 8 Abs. 1 BetmG sieht derselbe
Artikel in Abs. 5 eine Ausnahme vor. Gemäss dieser Vorschrift kann das
BAG Ausnahmebewilligungen für den Anbau, die Einfuhr, die Herstellung
und das Inverkehrbringen erteilen, wenn kein internationales Abkommen
entgegensteht und diese Betäubungsmittel der wissenschaftlichen
Forschung, der Arzneimittelentwicklung oder der beschränkten
medizinischen Anwendung dienen.
Eine Ausnahmebewilligung liegt vor, wenn von der im Normalfall geltenden
Regelung - insbesondere von einer bestimmten polizeilichen Vorschrift - in
einzelnen Sonderfällen gestützt auf eine gesetzliche
Ermächtigung abgewichen werden darf.[13]
Vorab ist festzuhalten, dass es sich bei dieser Bestimmung um eine
Kann-Vorschrift handelt. Selbst wenn die Voraussetzungen der Bestimmung
erfüllt sind, ist das BAG nicht verpflichtet, eine Ausnahmebewilligung
zu erteilen.[14]
Es handelt sich um einen Fall von Entschliessungsermessen, da das Gesetz
den Eintritt der Rechtsfolge beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen
nicht zwingend vorschreibt.[15]
Auch wenn eine Vorschrift der zuständigen Behörde einen
Ermessensspielraum einräumt, bedeutet dies aber nicht, dass sie in
ihrer Entscheidung völlig frei wäre. Sie ist vielmehr an die Verfassung gebunden und muss insbesondere das
Rechtsgleichheitsgebot, das Verhältnismässigkeitsprinzip und die
Pflicht zur Wahrung der öffentlichen Interessen befolgen. Ausserdem
sind Sinn und Zweck der gesetzlichen Ordnung auch bei Ermessensentscheiden
zu beachten.[16]
Das bedeutet mit anderen Worten, dass das grundsätzliche
Cannabisverbot gemäss Art. 8 Abs. 1 BetmG nicht durch
jede wissenschaftliche Forschung ausgehebelt werden darf, sondern der
verfolgte legitime Zweck (wie z.B. die wissenschaftliche Forschung) von
einiger Bedeutung sein und im öffentlichen Interesse liegen muss.[17]
Letztlich ist also eine Interessenabwägung notwendig.
Im Übrigen sieht Art. 8 Abs. 5 BetmG nur zwei
kumulative Bedingungen vor für die Ausnahmebewilligung für den
Anbau, die Einfuhr, die Herstellung und das Inverkehrbringen von
grundsätzlich verbotenen Betäubungsmitteln:
-
Die Betäubungsmittel «dienen» der wissenschaftlichen
Forschung, der Arzneimittelentwicklung oder der beschränkten
medizinischen Anwendung (Zweckbindung).
-
Es darf kein internationales Abkommen der Ausnahmebewilligung
entgegenstehen.
V. Wesentliche Argumente des BAG
In der Verfügung vom 13. November 2017, welche dem Autor vorliegt,
begründete das BAG die Ablehnung des Gesuchs für eine
Ausnahmebewilligung nach Art. 8 Abs. 5 BetmG im
Wesentlichen wie folgt:
-
Der Zweck des Vorhabens besteht in der wissenschaftlichen Forschung im
Sinne von Art. 8 Abs. 5 BetmG.[18]
-
Es stehen keine internationalen Abkommen in grundsätzlicher Weise
entgegen.[19]
Dieser Auffassung schliesst sich der Autor an. Es soll deshalb auf diese
Voraussetzung nicht mehr weiter eingegangen werden.
-
Die Erteilung der Bewilligung scheiterte jedoch daran, dass nach Ansicht
des BAG auch im Rahmen einer Ausnahmebewilligung gemäss Art. 8 Abs. 5 BetmG nicht
«generell» von den übrigen Vorgaben des
Betäubungsmittelrechts abgewichen werden könne.
-
Gegenstand der Ausnahmebewilligung gemäss Art. 8 Abs. 5 BetmG sei die
Aufhebung des Verbots des Anbaus, der Einfuhr, der Herstellung oder des
Inverkehrbringens verbotener Betäubungsmittel.[20]
Dagegen biete diese Bestimmung keinen Raum für
«Pilotversuche» im Rahmen einer «experimentellen
Gesetzgebung», bei der die Grundordnung während einer bestimmten
Zeit ausser Kraft gesetzt werde, um evidenzbasierte Entscheidgrundlagen
für spätere, definitiv gedachte Erlasse zu schaffen.[21]
Solche ausdrückliche Experimentierartikel gäbe es z.B. in Art. 68quarter IVG[22], aber eben nicht im BetmG. Zwar
könne das BAG in Abweichung von Art. 8 Abs. 1 BetmG das
Inverkehrbringen von Cannabis zum Zweck der wissenschaftlichen Forschung
ausnahmsweise erlauben. Davon unberührt bleibe jedoch «die
Anwendbarkeit aller weiteren auf das konkrete Vorhaben anwendbaren
Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes und des
Ausführungsrechts».[23]
-
Gemäss Art. 13 BetmG
dürfe die Abgabe von Betäubungsmitteln in Apotheken nur aufgrund
einer ärztlichen Verordnung erfolgen.[24]
Art. 11 BetmG
halte jedoch fest, dass Ärzte verpflichtet sind, Betäubungsmittel
nur in dem Umfang zu verwenden, abzugeben und zu verordnen, wie dies nach
den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig sei.[25]
Mit Blick auf die Lehre sei die Verwendung aus medizinischer Sicht
allerdings nur dann notwendig, «wenn damit Krankheiten gelindert oder
Schmerzen bekämpft werden sollen.» An einer medizinischen
Indikation fehle es insbesondere, wenn ein Betäubungsmittel zu reinen
Genusszwecken oder zur Erholung verwendet werde,[26]
wobei zu beachten sei, dass der Gesetzgeber die Legalisierung des
Cannabiskonsums wiederholt abgelehnt hat.[27]
-
Selbst wenn man von diesen grundlegenden Hürden absähe, liegt
aufgrund der Tatsache, dass eine unbegrenzte Anzahl Personen in die Studie
eingeschlossen werden könne und folglich auch die benötigte Menge
Cannabis unbestimmt sei, kein Sonder-, sondern ein Regelfall vor. Der
Regelfall aber ist das Verbot von Cannabis.[28]
Eine Erteilung einer Ausnahmebewilligung hätte jedenfalls voraussetzt,
dass die Anzahl der teilnehmenden Personen sowie die benötigte Menge
Cannabis von Beginn weg festgelegt und begrenzt gewesen wäre.[29]
-
Schliesslich werde für die beschränkte medizinische Anwendung
gemäss Art. 28 Abs. 2 lit. d BetmSV[30]
eine schriftliche Erklärung der Patientin oder des Patienten
vorausgesetzt, wonach sie oder er mit der Anwendung einverstanden ist. Dies
gelte zwar nach dem Gesetzeswortlaut nicht für die wissenschaftliche
Forschung. Da ein ähnliches Erfordernis auch für die
betäubungsmittel- und die heroingestütze Behandlung von
abhängigen Personen gelte (Art. 9 und 21 BetmSV), sei auch im Kontext
der wissenschaftlichen Forschung notwendig, dass die Identität der
Teilnehmenden der Bewilligungsbehörde bekannt gegeben werde.[31]
Zudem sei im gewählten Studiendesign nicht sichergestellt, dass keine
unbefugte Weitergabe von Cannabis - namentlich an Minderjährige -
erfolge, da bis zu 24 Gramm Cannabis pro Monat für Konsum in
Privaträumen abgegeben werde.[32]
Damit werde die Zielsetzung des BetmG einer lückenlosen
Kontrolle der Betäubungsmittel vom Anbau bis zum Konsum nicht
genügend Rechnung getragen.[33]
Zusammenfassend hielt das BAG fest, dass das BetmG das Inverkehrbringen von
Cannabis zu nichtmedizinischen Zwecken (d.h. zum Genusskonsum) auch nicht
im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung erlaube.[34]
Zwar bestehen neben diesen grundlegenden Hindernissen auch Probleme
bezüglich persönlicher und mengenmässiger Beschränkung
der Studie, fehlende Identifizierung der Teilnehmenden und fehlender Schutz
gegen Weitergabe des Cannabis an Dritte. Das BAG war jedoch der Meinung,
dass diese Vorbehalte (wohl) mit einer Anpassung des Studiendesigns
hätten ausgeräumt werden können.[35]
VI. Würdigung des Entscheids des BAG
Das BAG begründet die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass ein
Forschungsprojekt, bei welchem Cannabis zu Genusszwecken abgegeben werde,
unter dem geltenden BetmG nicht
bewilligungsfähig ist. Dabei stützt es sich insbesondere auf Art. 11 i.V.m. 13 BetmG, wonach die Abgabe in
Apotheken nur zulässig sei, sofern ein Arzt ein Betäubungsmittel
aufgrund einer medizinischen Indikation verschrieben habe. Das bedeutet,
dass letztlich nur klinische Forschung im Hinblick auf eine medizinische
Nutzung mit verbotenen Betäubungsmitteln aufgrund von Art. 8 Abs. 5 BetmG bewilligt
werden könnte.
1. Bedeutung der Notwendigkeit
einer ärztlichen Verordnung von Betäubungsmitteln und des
medizinischen Zwecks
Sofern sich die Argumentation des BAG auf Art. 11 und 13 BetmG stützt, wonach
Ärzte und Apotheken Betäubungsmittel nur verordnen und abgeben
dürfen, soweit dies nach den anerkannten Regeln der medizinischen
Wissenschaften notwendig ist, ist jedoch auch Art. 14 Abs. 2 BetmG zu beachten.
Diese Vorschrift sieht vor, dass Institute, die der wissenschaftlichen
Forschung dienen, mit Bewilligung des Kantons «nach Massgabe des
Eigenbedarfs Betäubungsmittel» anbauen, beziehen, lagern und
verwenden dürfen. Dieser Vorschrift ist keine Beschränkung auf
medizinische Zwecke zu entnehmen. Der Umfang der bewilligten Handlungen ist
dort vielmehr auf den Forschungszweck beschränkt. In diesem Sinne muss
die Beschränkung auf den «Eigenbedarf» verstanden werden.
Würde dieser Ausdruck die Abgabe von Betäubungsmitteln an Dritte
grundsätzlich beschränken, wäre auch klinische Forschung mit
Patienten unmöglich.
Im Rahmen von Art. 11 und 13 BetmG stellt sich deshalb nur
die Frage, ob diese Artikel es verbieten, Betäubungsmittel in
Apotheken abzugeben. Wäre dies der Fall, müsste die Abgabe durch
das Forschungsinstitut selber (bzw. seine Hilfspersonen) auf der Grundlage
von Art. 14 BetmG erfolgen.
Die grundlegende Frage ist nicht, ob und gegebenenfalls unter welchen
Umständen die zur Durchführung der Studie vorgesehenen
Medizinalpersonen Cannabis abgeben dürfen, sondern ob
wissenschaftliche Forschung im Sinne von Art. 8 Abs. 5 BetmG
bewilligungsfähig ist, bei welcher Cannabis zu nicht-medizinischen
Zwecken verwendet wird (nicht-klinische Forschung mit Cannabis). Dabei ist
insbesondere die Frage zu prüfen, ob Forschung zulässig ist, bei
der Cannabis an Studienteilnehmer zu Genusszwecken abgegeben wird.
2. Zulässigkeit der nicht-klinischen wissenschaftlichen Forschung
nach Art. 8 Abs. 5 BetmG
Wie soeben dargelegt ist die Frage zu beantworten, ob der Begriff der
wissenschaftlichen Forschung im Sinne von Art. 8 Abs. 5 BetmG auch
nicht-klinische Forschung einschliesst, bei welcher Cannabis wie in der
Berner Studie zu Genusszwecken an Studienteilnehmende abgegeben wird.
a) Grammatikalische Auslegung
Der Begriff der wissenschaftlichen Forschung setzt sich aus zwei
Wörtern zusammen: Wissenschaft ist gemäss Duden eine
«Wissen hervorbringende forschende Tätigkeit in einem bestimmten
Bereich»,[36]
Forschung
ist dagegen «das Arbeiten an wissenschaftlichen Erkenntnissen».[37]
Zusammengefasst geht es also um die Generierung von Wissen.
Gemäss Hug-Beeli wird unter wissenschaftlicher Forschung allgemein
verstanden, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmässiger
Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.[38]
Einen einheitlichen Wissenschaftsbegriff gibt es nicht.[39]
Der Begriff darf insbesondere vom Staat nicht zu eng ausgelegt werden, denn
dieser hat die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung zu beachten (Art. 20 BV).[40]
Der Wortlaut alleine legt damit meines Erachtens eher eine weite Auslegung
des Begriffs der wissenschaftlichen Forschung nahe. Eine Beschränkung
auf klinische Forschung lässt sich dem Begriff nicht entnehmen.
Im Sinne einer systematischen Gesetzesauslegung ist auch dem Grundsatz der
Einheit der Rechtsordnung und eines möglichst widerspruchsfreien
Zusammenwirkens der verschiedenen Rechtsgebiete Rechnung zu tragen.[41]
Deshalb kann auch berücksichtigt werden, wie der Begriff der
wissenschaftlichen Forschung in anderen Gesetzen und Rechtsgebieten
verstanden wird.
Der Begriff der wissenschaftlichen Forschung erscheint prominentin Art. 2 lit. a FIFG[42]. Er wird in dieser Vorschrift als «die methodengeleitete Suche nach
neuen Erkenntnissen» definiert.
Interessant ist in diesem Kontext, dass das BetmG selber mit Art. 3j einen Artikel über
die Forschungsförderung enthält. In diesem wird ausdrücklich
auf das Forschungsgesetz Bezug genommen. Gemäss dieser Bestimmung kann
der Bund im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln Forschungsvorhaben
betreffend Wirkungsweise abhängigkeitserzeugender Stoffe, Ursachen und
Auswirkungen suchtbedingter Störungen, präventiven und
therapeutischen Massnahmen, Verhinderung oder Verminderung suchtbedingter
Störungen oder Wirksamkeit von Wiedereingliederungsmassnahmen
fördern. Aus dieser Aufzählung wird jedenfalls klar, dass
Forschung im Sinne von Art. 3j BetmG nicht nur
medizinischer oder naturwissenschaftlicher Art sein kann, sondern - wenn es
um Ursachen und Auswirkungen geht - auch sozialwissenschaftlicher Art.
Auch das Humanforschungsgesetz (HFG)[43]
kennt eine ähnliche Definition wie das FIFG. Forschung wird in Art. 3 lit. a definiert als
«methodengeleitete Suche nach verallgemeinerbaren Erkenntnissen».
In der Botschaft zu diesem Gesetz präzisierte der Bundesrat den
Begriff der Forschung wie folgt:
«Der Begriff Forschung ist definiert als die methodengeleitete Suche
nach verallgemeinerbaren Erkenntnissen. Die Präzisierung
'methodengeleitet' verweist auf die Anwendung von wissenschaftlich
anerkannten Vorgehensweisen zur Gewinnung der gesuchten Erkenntnisse. Dabei
kann es sich sowohl um natur- als auch um sozialwissenschaftliche Methoden
handeln. Die zu gewinnenden Erkenntnisse müssen zudem
verallgemeinerbar sein, d.h. sie müssen auch über den Kontext des
Forschungsprojekts hinaus Gültigkeit besitzen und dürfen nicht
einen nur individuellen Bezug aufweisen. Die Verallgemeinerbarkeit wird
z.B. mittels einer genügend hohen Fallzahl sowie einer
realitätsnahen Forschungsanlage angestrebt. Nicht unter die Suche nach
verallgemeinerbaren Erkenntnissen ist ein Wissenszuwachs ausschliesslich
bei einer Einzelperson (z.B. im Rahmen der Aus- und Weiterbildung) zu
subsumieren.»[44]
Das HFG basiert auf einem
Verfassungsartikel über Forschung am Menschen (Art. 118b BV). In der
Botschaft dazu äusserte sich der Bundesrat zum Begriff der Forschung
wie folgt:
«Im vorliegenden Entwurf wird ‚Forschung' umschrieben als
Tätigkeit, mit der neue, verallgemeinerbare Erkenntnisse gewonnen
werden sollen. Die Suche nach neuen Erkenntnissen muss systematisch,
methodengeleitet und überprüfbar sein, um als (wissenschaftliche)
Forschung gelten zu können. Forschung bezieht sich somit auf
Erkenntnisgewinn, der wissenschaftlichen Anforderungen entspricht bzw.
zumindest beansprucht, das zu tun. Ob die Art des Erkenntnisgewinns den
wissenschaftlichen Anforderungen genügt oder nicht, richtet sich
grundsätzlich nach den Standards der jeweiligen Forschergemeinschaft
(Scientific Community).
Für die Festlegung der Grenze zwischen Forschung und Praxis gibt es
verschiedene Ansätze. Der vorliegende Entwurf knüpft an das Ziel
an, das mit der betreffenden Tätigkeit verfolgt wird. Wird mit dieser
(wissenschaftliche) Erkenntnis angestrebt, so handelt es sich um Forschung.
Steht ein anderes Ziel (z.B. Hilfe für eine Patientin oder einen
Patienten) im Zentrum, so liegt grundsätzlich keine Forschung
vor.»[45]
Zusammengefasst lässt sich zum Begriff der (wissenschaftlichen)
Forschung Folgendes festhalten:
-
Ziel der wissenschaftlichen Forschung ist die Gewinnung neuer
Erkenntnisse bzw. neuen Wissens.
-
Dabei werden die Methoden einer jeweiligen Forschergemeinschaft
(Scientific Community) beachtet, wodurch die Erkenntnisse
überprüfbar werden.
-
Die Erkenntnisse, die gewonnen werden sollen, müssen
verallgemeinerbar sein.
-
Es können natur- oder sozialwissenschaftliche Methoden angewandt
werden (so explizit das HFG).
Nach diesen Massstäben ergibt sich für die Berner Studie das
Folgende:
-
Überwiegend sozialwissenschaftlicher Charakter der Studie: Die
Studie hätte im Wesentlichen die Auswirkungen auf Gesundheit,
Konsumverhalten sowie mit dem Konsum verbundene ökonomische Aspekte
der regulierten Cannabisabgabe erfasst. Während die menschliche
Gesundheit - wenn man so will - der Sphäre der naturwissenschaftlichen
Forschung zugeschlagen werden kann, handelt es sich bei Konsumverhalten und
ökonomischen Folgen der regulierten Abgabe um gesellschaftliche
Auswirkungen. Diese beiden Aspekte werden mit sozialwissenschaftlicher
Methodik erfasst.
-
Methodik: Die Studie hätte ein Setting mit zwei zufällig
(randomisiert) ausgewählten Gruppen umfasst, wobei die eine Gruppe
erst sechs Monate später Zugang zu (legalem) Cannabis erhalten
hätte. Allen Teilnehmern wären regelmässig qualitative und
quantitative Fragen gestellt worden. Die Befragung hätte anonym
stattgefunden. Ein solches Setting entspricht meines Erachtens
grundsätzlich grundlegenden, heute gängigen methodischen
Standards. Das Setting mit zwei Kontrollgruppen, dem Einbezug von
quantitativen Fragestellungen und die Anonymisierung erlauben die
Verallgemeinerung der Erkenntnisse.
Zusammengefasst handelt es sich meines Erachtens bei der Studie um eine
sozialwissenschaftliche Fragestellung. Die Methodik entspricht
grundsätzlich der in dieser Wissenschaftsgattung üblichen
Vorgehensweise; entsprechend sollten die Erkenntnisse verallgemeinerbar
sein.
Damit kann als Zwischenfazit festgehalten werden, dass die grammatische
Auslegung des Begriffs der wissenschaftlichen Forschung nicht der Annahme
entgegensteht, dass auch die Forschung der Berner Studie darunter
subsumiert werden könnte. In der Folge ist zu überprüfen, ob
sich aus einer historischen, systematischen und teleologischen Auslegung
Anhaltspunkte ergeben, die eine andere Schlussfolgerung nahelegen.
b) Historische Auslegung
Art. 8 Abs. 5 BetmG
wurde mit der Gesetzesrevision vom 20. März 2008 neu gefasst. Er ist
seit 1. Juli 2011 in Kraft. Ziel bei der Revision war in erster Linie, dass
der Anwendungsfall der Arzneimittelentwicklung und der beschränkten
medizinischen Anwendung für alle Betäubungsmittel geöffnet
wird (in einer früheren Version bezog sich die beschränkte
medizinische Anwendung auf gewisse Betäubungsmittel; Cannabis
gehörte nicht dazu).
Der ursprüngliche Entwurf der zuständigen Kommission sah
folgenden Wortlaut vor:
Das Bundesamt für Gesundheit kann Ausnahmebewilligungen für die
Verwendung der Betäubungsmittel nach den Absätzen 1 und 3 in der
wissenschaftlichen Forschung oder für eine beschränkte
medizinische Anwendung erteilen, wenn:
-
die Voraussetzungen zur Guten Herstellungspraxis, zur Abgabe nicht
zugelassener Arzneimittel, zur Guten Laborpraxis oder zur Guten Praxis der
klinischen Versuche erfüllt sind;
-
die ethischen Grundsätze und Empfehlungen berücksichtigt sind;
und
-
diese Verwendungen im Einklang mit den internationalen
Übereinkommen stehen.[46]
Dieser Vorschlag wurde allerdings nicht ins Gesetz aufgenommen. Die
schliesslich von den Räten verabschiedete Fassung verzichtete
insbesondere darauf, dass die Voraussetzungen zur Guten Herstellungspraxis,
zur Abgabe nicht zugelassener Arzneimittel, zur Guten Laborpraxis und zur
Guten Praxis der klinischen Versuche erfüllt werden müssen. Die
schliesslich angenommene Fassung wurde von der Verwaltung im Auftrag der
Kommission ausgearbeitet. Der Kommission ging es darum,
«therapeutische Optionen nicht durch eine unsorgfältige
Formulierung oder durch ein explizites Verbot im
Betäubungsmittelgesetz strikt zu verunmöglichen oder eine
Anwendung dieser Stoffe mit einem unzumutbaren administrativen Aufwand zu
belasten».[47]
Im Vordergrund stand also wiederum die klinische Verwendung, doch machte
sich die Kommission allgemein Sorgen, dass sinnvolle künftige
«Anwendungen» durch unzumutbaren administrativen Aufwand
verunmöglicht werden könnten.
Selbst wenn der ursprüngliche Vorschlag Gesetz geworden wäre,
wäre für die Berner Studie eine Bewilligung nicht per se
ausgeschlossen gewesen: Zwar hätten entweder die Voraussetzungen zur
Guten Herstellungspraxis, zur Abgabe nicht zugelassener Arzneimittel, zur
Guten Laborpraxis oder zur Guten Praxis der klinischen Versuche
eingehalten werden müssen. Es ist aber nicht ersichtlich, wieso
zumindest die Voraussetzungen zur Guten Herstellungspraxis nicht
prinzipiell im Fall der Studie hätten eingehalten werden können.[48]
Die Hauptstossrichtung der Revision war, wie bereits erwähnt, nicht
die Anwendungen für die wissenschaftliche Forschung, sondern
beschränkte medizinische Anwendungen und die Arzneimittelentwicklung.
Entsprechend äusserte sich der Bericht der zuständigen
Ratskommission wie folgt:
«Nach Absatz 5 wird neu die Möglichkeit für
Ausnahmebewilligungen für die beschränkte medizinische Anwendung
für alle verbotenen Stoffe, einschliesslich Hanf, grundsätzlich
zugelassen. Dies sollte vor allem Multiple Sklerose-, Krebs- und
Aidspatienten und -patientinnen zugutekommen.»[49]
Damit wurde aber keine Aussage über die wissenschaftliche Forschung
getätigt, sondern über die beschränkte medizinische
Anwendung. Insbesondere lässt sich nicht daraus schliessen, dass der
Begriff der wissenschaftlichen Forschung eine Einengung erfahren
hätte. Der legitime Zweck der wissenschaftlichen Forschung war
nämlich bereits in der Fassung gemäss Bundesgesetz vom 20.
März 1975 (in Kraft seit 1. August 1975) und in der Urfassung von 1951
enthalten.[50]
Zur Tragweite des Vorbehalts für die wissenschaftliche Forschung
äusserte sich indessen keine der ursprünglichen Botschaften[51]. Gemäss Huber soll der historische Gesetzgeber damit Forschung im
Laboratorium gemeint haben; er bezieht sich dabei auf Botschaften des
Bundesrats aus den Jahren 1927 und 1951.[52]
Der Autor konnte aber in keiner der Botschaften, die Huber in seinem
Aufsatz zitierte, einen Beleg für diese Behauptung finden. Ohnehin
rückt ein derartiger Wille des historischen Gesetzgebers in den
Hintergrund, nachdem inzwischen Jahrzehnte vergangen sind.
Jedenfalls vertrat Albrecht vor der letzten Revision von Art. 8 Abs. 5 BetmG die
Auffassung, dass sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der
Entstehungsgeschichte ergebe, dass mit dem Begriff der wissenschaftlichen
Forschung bloss Laborversuche gemeint sein sollen.[53]
c) Systematische Auslegung
Die Ausnahmebestimmung des Art. 8 Abs. 5 BetmG sieht neben
dem Zweck der wissenschaftlichen Forschung, für welchen eine Ausnahme
bewilligt werden kann, alternativ auch die Zwecke der
Arzneimittelentwicklung und der beschränkten medizinischen Anwendung
vor.
Wenn der Begriff der wissenschaftlichen Forschung, wie es der Auffassung
des BAG entspricht, so ausgelegt wird, dass nur klinische Forschung zu
medizinischen Zwecken darunter subsumiert werden kann, so hätte dieser
Begriff neben der Arzneimittelentwicklung und der beschränkten
medizinischen Anwendung meines Erachtens gar keine eigenständige
Bedeutung mehr.
Das Gesetz darf aber im Zweifelsfall nicht so ausgelegt werden, dass eine
Variante des Ausnahmetatbestands im Ergebnis redundant ist. Es ist nicht
davon auszugehen, dass der Gesetzgeber überflüssige
Tatbestandsvarianten geschaffen hat.
d) Teleologische Auslegung
Gemäss dessen Art. 1 soll das BetMG:
-
Dem unbefugten Konsum von Betäubungsmitteln und psychotropen
Stoffen vorbeugen, namentlich durch Förderung der Abstinenz;
-
die Verfügbarkeit von Betäubungsmitteln und psychotropen
Stoffen zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken regeln;
-
Personen vor den negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen
suchtbedingter Störungen der Psyche und des Verhaltens schützen;
-
die öffentliche Ordnung und Sicherheit vor den Gefahren
schützen, die von Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen
ausgehen;
-
kriminelle Handlungen bekämpfen, die in engem Zusammenhang mit
Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen stehen.
Die Zwecke des Gesetzes sind entsprechend vielfältig. Das geltende BetmG ist kein reines
Repressionsgesetz, wenn auch die Abstinenz nach wie vor ein wichtiges Ziel
ist.[54]
Wenn das Gesetz aber «vor den negativen gesundheitlichen und sozialen
Folgen suchtbedingter Störungen der Psyche und des Verhaltens
schützen» will, dann verfolgt es auch sozialpolitische Ziele. Es
geht hier darum, die Allgemeinheit vor den sozialschädlichen
Auswirkungen von suchtbedingten Störungen zu schützen, womit
wiederum eruiert werden können muss, welche Substanzen überhaupt
zu suchtbedingten Störungen führen bzw. mithin
sozialschädliche Auswirkungen haben können.
Die Berner Studie hätte hier ansetzen und die sozialen und
gesundheitlichen Auswirkungen einer kontrollierten Cannabisabgabe
untersuchen sollen. Dies steht zwar in einem gewissen Widerspruch zum Ziel
der Förderung der Abstinenz von Betäubungsmitteln. Andererseits
dient es aber dem in Art. 1 BetmG
gleichwertig genannten Gesetzeszweck des Schutzes vor negativen sozialen
und gesundheitlichen Begleiterscheinungen des Konsums. Zudem gefährdet
der mit dem Cannabisverbot einhergehende Schwarzmarkt die öffentliche
Ordnung und Sicherheit. Insofern wird mit der Untersuchung der Auswirkungen
einer kontrollierten Abgabe auch untersucht, welchen Beitrag eine
Entkriminalisierung zur Verbesserung der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit leisten könnte.
Der Zweck des Gesetzes und des Ausnahmetatbestands wäre jedoch dann
nicht mehr eingehalten, wenn durch die Studie die Ausnahme quasi zur Regel
würde.[55]
Das Bundesamt für Justiz (BJ) äusserte sich in einem
Rechtsgutachten zur kontrollierten Abgabe harter Drogen an
Schwerstsüchtige zu dieser Thematik.[56]
Es folgerte, dass aufgrund der Ausnahmebestimmung des BetmG (des Vorläufers des
heutigen Art. 8 Abs. 5 BetmG) eine
Abgabe von grundsätzlich verbotenen Betäubungsmitteln nur
für «ein zeitlich beschränktes Versuchsprogramm mit einer
kleinen Anzahl von Abhängigen» erlaubt werden könnte.[57]
Nach der Beendigung eines solchen Programms müssten, so das BJ, die
Ergebnisse evaluiert werden, woraufhin eine Revision des Gesetzes im
Hinblick auf eine Drogenabgabe in grösseren Umfang ins Auge gefasst
werden könnte.[58]
Wenn das BJ in diesem Rechtsgutachten auch grundsätzlich skeptisch
gegenüber der Heroinabgabe an Schwerstsüchtige blieb, so ist dem
Gutachten auch klarerweise zu entnehmen, dass eine in zeitlicher und
persönlicher Hinsicht klar beschränkte, versuchsweise Abgabe
unter Art. 8 Abs. 5 BetmG
subsumiert werden könnte. Dabei kann die Versuchsanordnung auch den
Zweck haben, in kleinem und kontrolliertem Rahmen zu erproben, ob eine
Gesetzesrevision angezeigt ist. Die damals vom BJ diskutierte Heroinabgabe
war überdies prinzipiell nicht zeitlich befristet. Dies ist ein
gewichtiger Unterschied zur Studie der Universität Bern. Deshalb
spricht meines Erachtens vieles dafür, dass die zeitlich und
persönlich beschränkte Cannabisabgabe einer teleologischen
Auslegung des BetmG nicht
widerspricht.
VII. Fazit
Die Auslegung von Art. 8 Abs. 5 BetmG liefert keine
Hinweise, dass ein sozialwissenschaftliches Setting nicht
grundsätzlich im Sinne dieser Bestimmung als «wissenschaftliche
Forschung» verstanden werden kann.
Solange das Forschungsvorhaben in sachlicher Hinsicht auf Cannabis
beschränkt gewesen und darüber hinaus auch in zeitlicher,
persönlicher und räumlicher Hinsicht eng begrenzt geblieben
wäre, ist die nicht-klinische Forschung nach Art. 8 Abs. 5 BetmG
grundsätzlich bewilligungsfähig.
Nach dem Gesagten hätte eine nicht-klinische Studie, bei der Cannabis
an die Studienteilnehmenden zu Genusszwecken abgegeben wird, um die
sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen einer kontrollierten Abgabe zu
untersuchen, grundsätzlich bewilligt werden können. Wie sich aus
den Erwägung des BAG ergibt, stellten sich aber zusätzliche
Fragen:
-
Hätten die Studienteilnehmenden vorab definiert und gemeldet werden
müssen?
-
Wie hätte die gesamthaft abgegebene Menge vorab definiert werden
können?
-
Mit welchen zusätzlichen Massnahmen hätte verhindert werden
können, dass das abgegebene Cannabis an unbefugte Dritte
weitergereicht wird?
-
Ist die Abgabe in einer öffentlichen Apotheke ohne ärztliches
Rezept möglich? Oder hätte die Abgabe unmittelbar durch das
Institut erfolgen müssen?
Nach Auffassung des Autors - und wohl auch des BAG[59]
- stellt jedoch keine dieser Fragen ein unüberwindbares Hindernis dar,
das nicht durch eine Anpassung des Studiendesigns hätte beseitigt
werden können.
Die Begründung des BAG, dass die Bewilligung rechtlich aus
grundsätzlichen Überlegungen nicht möglich gewesen sei, ist
deshalb nicht korrekt. Wenn die entscheidende Behörde ein Ermessen
nicht ausübt, das ihr das Gesetz einräumt, liegt eine
Ermessensunterschreitung vor.[60]
Die Ermessensunterschreitung stellt eine Rechtsverletzung dar.[61]
Das BAG hätte, wo ihm ein Ermessen zukommt, sachliche Unterscheidungen
treffen und den besonderen Umständen des konkreten Falles angemessene
Rechtsfolgen anordnen müssen.[62]
Stattdessen wurde die Bewilligungsfähigkeit für derartige
wissenschaftliche Forschung in prinzipieller Art und Weise verneint.
Exkurs: Bewilligung aufgrund
eines «Experimentierartikels»
de lege ferenda
Infolge der ablehnenden Verfügung des BAG beschloss die Kommission
für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates, «eine
Kommissionsinitiative zu ergreifen, um das BetmG dahingehend zu
ergänzen, dass auch wissenschaftliche Projekte/Versuche
durchgeführt werden können, die dem Zweck dienen, innovative
Regulierungsansätze zum gesellschaftlichen Umgang mit dem
Freizeitkonsum von Cannabis zu erproben».[63]
Eine Mehrheit der Kommission des Ständerats stimmte einer Motion zu,
welche den Bundesrat «beauftragt zu prüfen, wie im Rahmen der
geltenden Gesetzgebung befristete wissenschaftliche Studien zur Erprobung
innovativer Regulierungsansätze zum gesellschaftlichen Umgang mit dem
Konsum von Cannabis bewilligt werden können».[64]
In seiner Verfügung verwies das BAG als Beispiel für einen
Experimentierartikel auf Art. 68quater IVG.[65]
Dieser lautet wie folgt:
«Das Bundesamt kann zum Zweck der Eingliederung befristete
Pilotversuche bewilligen, die von den Bestimmungen dieses Gesetzes
abweichen können. Es hört vorgängig die Eidgenössische
Kommission für die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
an.»
Daran könnte sich der Experimentierartikel im BetmG orientieren. Er kann meines
Erachtens relativ allgemein gehalten werden und könnte entsprechend in
etwa wie folgt lauten:
«Das Bundesamt kann im Rahmen von örtlich, zeitlich und
persönlich beschränkten Pilotversuchen die Abgabe verbotener
Betäubungsmittel des Wirkungstyps Cannabis bewilligen, um die
gesellschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen des Genusskonsums
dieser Betäubungsmittel zu erforschen. Solche Pilotversuche
müssen wissenschaftlich begleitet sein.»
Die Einzelheiten solcher Versuche wären durch den Bundesrat in
allgemeiner Weise in einer Verordnung und im Anwendungsfall durch das
Bundesamt zu regeln.
[11]
Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die
psychotropen Stoffe vom 3. Oktober 1951 (SR 812.121).
[12]
Verordnung des EDI über die Verzeichnisse der
Betäubungsmittel, psychotropen Stoffe, Vorläuferstoffe
und Hilfschemikalien vom 30. Mai 2011 (SR 812.121.11).
[13]
Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 7. Aufl., Zürich/St. Gallen 2016, Rz. 2665.
[14]
Gustav Hug-Beeli, Kommentar zum Bundesgesetz über die
Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe vom 3. Oktober
1951, Basel 2015 (zit. als BetmG-Komm), Art. 8 N 54.
[15]
Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 13), Rz. 398.
[16]
Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 13), Rz. 409.
[17]
Hug-Beeli, BetmG-Komm (Fn. 14), Art. 8 N 67.
[18]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 22.
[19]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 23.
[20]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 24.
[21]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 25.
[22]
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959
(SR 831.20).
[23]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 25.
[24]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 29.
[25]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 26.
[26]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 26.
[27]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 27.
[28]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 32 ff.
[29]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 34.
[30]
Verordnung über Betäubungsmittelsucht und andere
suchtbedingte Störungen vom 25. Mai 2011 (SR 812.121.6).
[31]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 36 f.
[32]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 38.
[33]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 38.
[34]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 45.
[35]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 46.
[38]
Hug-Beeli, BetmG-Komm (Fn. 14), Art. 8 N 67.
[39]
Hug-Beeli, BetmG-Komm (Fn. 14), Art. 8 N 67.
[40]
Hug-Beeli, BetmG-Komm (Fn. 14), Art. 8 N 67.
[42]
Bundesgesetz über die Förderung der Forschung und der
Innovation vom 14. Dezember 2012 (SR 420.1).
[43]
Bundesgesetz über die Forschung am Menschen vom 30. September
2011 (SR 810.30).
[44]
Botschaft vom 21. Oktober 2009 zum Bundesgesetz über die
Forschung am Menschen (BBl 2009 8045), 8092.
[45]
Botschaft vom 12. September 2007 zum Verfassungsartikel über
die Forschung am Menschen (BBl 2007 6713), 6720.
[46]
Entwurf Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und
psychotropen Stoffe (BBl 2006 8629).
[48]
Man beachte, dass die Einhaltung der verschiedenen Guten Praxen
nicht kumulativ erforderlich gewesen wäre, sondern alternativ
(«oder») bzw. soweit einschlägig.
[49]
Parlamentarische Initiative Teilrevision des
Betäubungsmittelgesetzes, Bericht der Kommission für
soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (BBl 2006 8573), 8608.
[51]
Botschaft vom 12. April 1951 über die Revision des
Bundesgesetzes (BBl 1951 I 829), 855, und
Botschaft vom 9. Mai 1973 betreffend die Änderung des
Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel (1973 I 1348), 1363.
[52]
Christian Huber, Die gesetzliche Grundlage einer kontrollierten
Heroinabgabe, SJZ 88/1992 S. 48, FN 3.
[53]
Peter Albrecht, Die Opiatabgabe im juristischen Spannungsfeld
zwischen Hilfe und Repression, in: BAG (Hrsg.), Ärztliche
Verschreibung von Betäubungsmitteln, Bern 1996, S. 58 ff., 62.
[54]
Thomas Fingerhuth/Stephan Schlegel/Oliver Jucker, BetmG Kommentar,
3. Aufl., Zürich 2016, Art. 1 N 5.
[55]
Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 13), Rz. 2674.
[56]
Bundesamt für Justiz, Kontrollierte Abgabe harter Drogen.
Rechtsgutachten im Auftrag des BAG, in: BAG (Hrsg.), Ärztliche
Verschreibung von Betäubungsmitteln, Bern 1996, S. 64 ff.
[57]
Bundesamt für Justiz, Rechtsgutachten (Fn. 56), S. 76.
[58]
Bundesamt für Justiz, Rechtsgutachten (Fn. 56), S. 76.
[59]
Verfügung vom 13. November 2017, E. 46 a.E.
[60]
Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 13), Rz. 439.
[61]
Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 13), Rz. 439.
[62]
Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 13), Rz. 440.
[63]
Parlamentarische Initiative, Experimentierartikel als Grundlage
für Studien zur regulierten Cannabis-Abgabe (18.402).