I. Zum Sachverhalt
Herr Lopez Pastuzano, ein kolumbianischer Staatsangehöriger, erhielt im Oktober 2013 in Spanien eine langfristige Aufenthaltserlaubnis (EU) nach der Richtlinie 2003/109/EG[1] (Daueraufenthaltsrichtlinie). Im April 2014 wurde er zu zwei Freiheitsstrafen von zwölf bzw. drei Monaten verurteilt. Im Januar 2015 trat er seine Haftstrafe an, woraufhin ein Ausweisungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Im Juni 2015 erging eine Ausweisungsentscheidung, verbunden mit einem Einreiseverbot für 5 Jahre und dem Erlöschen der langfristigen Aufenthaltserlaubnis von Herrn Lopez Pastuzano. Hiergegen klagte dieser.
Nach spanischem Recht gibt es zwei Arten der verwaltungsrechtlichen Ausweisung: Eine Ausweisung, die als Strafe für bestimmte verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen verfügt wird (Art. 57 Abs. 1 des Organgesetzes 4/2000), sowie eine Ausweisung als Rechtsfolge einer Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr (Art. 57 Abs. 2 des Organgesetzes 4/2000).
Art. 57 Abs. 5 des Organgesetzes 4/2000 setzt die Vorgaben von Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG in spanisches Recht um, wonach vor dem Erlass einer Verfügung über die Ausweisung die persönlichen Umstände der betroffenen Person zu berücksichtigen sind, d.h. die Dauer ihres Aufenthaltes in Spanien, Bindungen zu Spanien, Alter, Folgen für die betroffene Person und ihre Familienangehörigen und Bindungen zum Staat, in den die Person zurückgeschickt werden soll. Dieser Artikel wurde von der Rechtsprechung in Spanien bislang überwiegend dahingehend ausgelegt, dass er nur für Ausweisungsverfügungen gelte, die als Strafe für verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen erlassen wurden (also denjenigen nach Art. 57 Abs. 1), nicht aber bei Straftaten nach Art. 57 Abs. 2 des Organgesetzes. In letztgenannten Fällen findet daher nach herrschender Auffassung keine Abwägung der Umstände des Einzelfalls statt, die den Voraussetzungen von Art. 12 der Richtlinie genügen würde.
Da Herr Lopez Pastuzano zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt worden war, ging die Behörde in der Entscheidung betreffend Herrn Lopez Pastuzano davon aus, dass Art. 57 Abs. 5 des Organgesetzes 4/2000 nicht anwendbar sei.
Das Verwaltungsgericht Nr. 1 Pamplona legte dem EuGH daher eine Frage nach der Auslegung von Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie und dessen Tragweite vor.
II. Zu den Ausführungen des Gerichtshofs
Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil zunächst klar, dass es sich bei der vorgelegten Frage um eine zulässige Vorlagefrage handle (Rz. 16 bis 21).[2] Die erbetene Auslegung stehe nämlich nicht «offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsstreits» oder sei ein Problem «hypothetischer Natur». Die spanische Regierung hatte gerügt, es handle sich bei der Vorlagefrage in Wahrheit um eine nach der Auslegung des spanischen Rechts, die nicht Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vor dem EuGH sein könne. Diese Einschätzung teilte der Gerichtshof jedoch nicht.[3]
In materieller Hinsicht äusserte sich der EuGH wie folgt:
Das vorrangige Ziel der Richtlinie 2003/109/EG sei die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind.[4] Langfristig Aufenthaltsberechtigte sollten daher nach dem Willen des Unionsgesetzgebers einen verstärkten Ausweisungsschutz geniessen. Daher könnten Mitgliedstaaten nach Art. 12 der Richtlinie langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige nur dann ausweisen, wenn diese eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellen.
Zudem bestimme Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten vor der Verfügung einer Ausweisung gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen eine Abwägung vornehmen müssten; diese umfasse folgende Faktoren: die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet, das Alter der betreffenden Person, die Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie die Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat. Es sei unerheblich, ob die Ausweisung als verwaltungsrechtliche Sanktion ausgesprochen werde oder Folge einer strafrechtlichen Verurteilung sei.
Der EuGH verwies sodann auf sein Urteil im Fall Ziebell[5], in dem er 2011 bereits klargestellt hatte, dass eine Ausweisung nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung verfügt werden könne, sondern dass stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen sei, die alle in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie genannten Gesichtspunkte abwäge.
Daraus folge, dass gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nicht allein deshalb eine Ausweisungsentscheidung ergehen könne, weil er zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt worden sei. Art. 12 stehe daher einer Regelung wie der spanischen entgegen, die - jedenfalls durch einen Teil der spanischen Gerichte - dahingehend ausgelegt und angewendet werde, dass sie nicht jede behördliche Ausweisungsverfügung gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vom Vorliegen der in Art. 12 aufgestellten Voraussetzungen (insbesondere der Durchführung einer Abwägungsentscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls) abhängig mache.
III. Kommentar
1. Zur Daueraufenthaltsrichtlinie
Die Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie) ist Teil des unionsrechtlichen Acquis im Bereich der regulären Einwanderung von Drittstaatsangehörigen (vgl. die Rechtsgrundlage in Art. 79 AEUV). Die Richtlinie aus dem Jahr 2003 war die erste, die den Rechtsstatus von Drittstaatsangehörigen unionsrechtlich regulierte, und ist damit auch die älteste in diesem Rechtsgebiet. Sie wurde 2011 dahingehend angepasst, dass auch Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte eine Daueraufenthaltsberechtigung (EU) erwerben können.[6]
Die Daueraufenthaltsrichtlinie verleiht langfristig Aufenthaltsberechtigten eine besonders geschützte, in der ganzen EU einheitliche Rechtsstellung. Dazu gehören u.a. Ansprüche auf Gleichbehandlung (Art. 11), eine beschränkte Freizügigkeit («kleine Freizügigkeit» bzw. «citizenship light»[7]) innerhalb der EU (Art. 14 und 15) und verbesserter Ausweisungsschutz (Art. 12). Die Aufenthaltserlaubnis für langfristig Aufenthaltsberechtigte nach der Richtlinie 2003/109/EG (langfristige Aufenthaltsgenehmigung-EG) ist unbefristet. Der Erwerb des Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in der EU ist möglich, wenn sich ein Drittstaatsangehöriger fünf Jahre ununterbrochen rechtmässig auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufgehalten hat, über feste Einkünfte (ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen) verfügt und eine Krankenversicherung besitzt; er darf zudem keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Art. 4 bis 6 der Richtlinie).
Bei den anderen Instrumenten im Bereich der regulären Migration von Drittstaatsangehörigen handelt es sich um die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG[8], die Blue-Card-Richtlinie 2009/50/EG[9], die Richtlinie 2011/98/EU über eine kombinierte Erlaubnis[10], die Saisonarbeiterrichtlinie 2014/36/EU[11], die ICT- Richtlinie 2014/66/EU[12] und die Richtlinie über Forscher und Studenten 2016/801/EU[13].
Die genannten Richtlinien sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass 2001 ein Versuch der EU-Kommission, die Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen in die EU mithilfe einer transversalen Richtlinie[14] zu regulieren, am Widerstand der Mitgliedstaaten scheiterte. Seither verläuft der Rechtsetzungsprozess in Bezug auf die Rechtsstellung Drittstaatsangehöriger eher schleppend. Die Kommission hat sich statt für ein transversales für ein sektorielles Vorgehen (ausgehend von bestimmten Kategorien von MigrantInnen) entschieden.[15]
Dass eine verbesserte Rechtstellung von Drittstaatsangehörigen deren Integration fördert, wurde auf politischer Ebene erstmals 1999 im Rahmen des Europäischen Rates in Tampere[16] festgehalten. In der Zwischenzeit ist das Ziel der «gerechteren Behandlung» von Drittstaatsangehörigen und die Annäherung ihrer Rechtsstellung an die der Unionsbürger allerdings etwas aus dem Fokus der Mitgliedstaaten verschwunden, da insbesondere die Asylmigration viel mehr Aufmerksamkeit erforderte. Insgesamt leben mehr als 7 Millionen daueraufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige in der EU.[17] Diese Zahl wird sich nach dem «Brexit» vermutlich noch erhöhen, da britische Staatsangehörige dann wohl als Drittstaatsangehörige gelten.
2. Zur Bedeutung des Urteils Lopez Pastuzano im Unionsrecht
Das Urteil Lopez Pastuzano ist bereits das elfte Urteil zur Auslegung der Daueraufenthaltsrichtlinie.[18] Schon 2011 im Fall Ziebell[19], den der EuGH auch im Urteil Lopez Pastuzano zitiert, war Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens. Der EuGH betonte in Lopez Pastuzano einmal mehr, dass nach Art. 12 der Richtlinie stets eine individuelle Abwägung vorzunehmen ist, die der Situation des Betroffenen und der seiner Familienangehöriger Rechnung trägt. Eine einzige strafrechtliche Verurteilung ist nicht ausreichend. Auch Automatismen sind nicht zulässig. Die Rechtsnatur der zugrundeliegenden Ausweisungsentscheidung ist schliesslich unerheblich; diese kann verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Ursprungs sein.
Die Person muss zudem eine «hinreichend schwere» Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellen; eine «einfache» Gefahr reicht somit nicht aus. Der EuGH macht hierzu allerdings keine weiteren Ausführungen, d.h. es bleibt offen, bei welchen Delikten eine «hinreichend schwere» Gefahr vorliegt.
Damit erfolgt eine Angleichung an die Rechtsstellung von Unionsbürgern, für die nach Art. 27 der Unionsbürgerrichtlinie[20] dieselben strengen Voraussetzungen gelten. Da es sich hier um Ausnahmen handelt, müssen diese laut EuGH restriktiv ausgelegt werden.[21] Der Gerichtshof hat diese Grundsätze - vor allem im Urteil Donatella Calfa[22] - bereits auf der Basis der Grundfreiheiten aufgestellt, noch bevor diese in der Unionsbürgerrichtlinie kodifiziert wurden.
Auch in den anderen Rechtsakten des europäischen Migrationsrechts finden sich Bestimmungen zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit.[23] Es kann inzwischen von einer parallelen Auslegung dieser Begriffe in allen migrationsrechtlichen Instrumenten ausgegangen werden.[24]
3. Zu den Auswirkungen des Urteils auf die Schweiz
In der Schweiz gilt bei der Zulassung von AusländerInnen ein duales Zulassungssystem[25]: UnionsbürgerInnen und ihre Familienangehörigen unterstehen dem Freizügigkeitsabkommen EU-CH[26] (FZA). Drittstaatsangehörige sind hingegen nicht freizügigkeitsberechtigt; für sie gelten die restriktiven Regelungen des Ausländergesetzes[27] (AuG), die in erster Linie die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ermöglichen (s. Art. 23 Abs. 1 AuG).
Da das Urteil Lopez Pastuzano die Daueraufenthaltsrichtlinie auslegt, die nicht Gegenstand eines bilateralen Abkommens ist, ist es für die Schweiz nicht verbindlich. Dennoch entfaltet es eine gewisse Signalwirkung: Denn auch im Freizügigkeitsabkommen findet sich - wie in Art. 27 der Unionsbürgerrichtlinie und in Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie - eine Klausel, die eine Ausweisung von unter das Abkommen fallenden Personen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit erlaubt (Art. 5 Anhang I FZA[28]). Bei diesen Termini handelt es sich um unionsrechtliche Begriffe, für deren Auslegung nach Art. 16 Abs. 2 FZA die einschlägige Rechtsprechung des EuGH heranzuziehen ist. Insbesondere das EuGH-Urteil im Fall Donatella Calfa[29] ist daher für die Schweiz verbindlich, da es vor Juni 1999 (Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens) erging. Auch nach dem FZA ist der behördliche Spielraum bei der Ausweisung von UnionsbürgerInnen daher begrenzt. So muss im Falle einer Ausweisung von straffällig gewordenen EU-BürgerInnen stets eine Einzelfallprüfung vorgenommen werden.[30]
Das Urteil Lopez Pastuzano bestätigt schliesslich einmal mehr, dass die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative[31] in Art. 66a StGB, der seit dem 1. Oktober 2016 in Kraft ist, nicht unproblematisch ist, da sie eine obligatorische (d.h.) automatische Landesverweisung bei Vorliegen bestimmter Delikte (Katalogtaten) vorsieht. Die Vereinbarkeit der Landesverweisung mit dem FZA hängt nun entscheidend von der Anwendung der Härtefallklausel in Art. 66a Abs. 2 StGB im Sinne der soeben besprochenen Rechtsprechung ab.[32] Das Bundesgericht hat jedenfalls den unbedingten Vorrang des FZA vor (später erlassenem) innerstaatlichem Recht (und damit das Bestehen einer Ausnahme zur Schubert-Praxis) bereits bestätigt.[33]
Konkrete Zahlen und Informationen über die Handhabung der Härtefallklausel sind bislang allerdings nicht verfügbar.[34]