Wasch' mir den Pelz, aber mach mich nicht
nass!
Die Kritik am EGMR hält
wissenschaftlicher Betrachtung nicht stand
Ludwig A. Minelli
In der «Neuen Zürcher Zeitung»
vom 26. Juni 2014
[1]
hat sich der ehemalige Botschafter der Schweiz
beim Europarat in Strassburg (2007-2011), Paul
Widmer, in der Debatte über die Urteile
des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte (EGMR) in Schweizer Fällen
zu Wort gemeldet und in das bereits bekannte
Horn «Mehr richterliche Zurückhaltung
in Strassburg» gestossen. Er hat sich
damit in die Reihe jener gestellt, die seit
längerem den Versuch unternehmen, den EGMR
gegenüber der Bevölkerung mit
ähnlichen oder gleichlautenden und meist
populistischen Argumenten zu diskreditieren[2].
I. Geschichtliches
1. Was zeigt die wissenschaftliche Lupe?
Am 28. November 2014 kann die Schweiz die
40jährige Zugehörigkeit wenigstens zu
einem Teil der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) feiern[3].
Da erscheint es als angebracht, Widmers
Überlegungen unter die wissenschaftliche Lupe
zu nehmen und deren Gehalt anhand der Fakten zu
überprüfen.
Widmer hält zutreffend fest, dass die Schweiz
erst 1963 dem Europarat beigetreten ist und sich
viel Zeit gelassen hat, bis sie 1974 die EMRK[4].
Die Vorbehalte im Parlament seien gross gewesen,
doch habe der damalige Vorsteher des Politischen
Departements - wie das heutige Eidgenössische
Departement des Äusseren (EDA) vormals hiess
-, die Volksvertreter zu beschwichtigen gewusst.
2. Keine Bedenken im Ständerat
Der Glarner Ständerat Peter Hefti (FDP) wies
in seinem Referat als Kommissionspräsident
bezüglich der Ansätze zu Menschenrechten
weit in die Antike zurück, indem er den
Gegensatz zwischen den freiheitlichen alten
Griechen und den tyrannischen Herrschern des
antiken Persiens aus der Geschichtsschreibung
Herodots erwähnte[5].
Er sprach auch davon, dass es darauf ankomme,
«auf welche Weise die Menschenrechte in
der Praxis angewendet werden. Ihr Gehalt, ihre
Tragweite, ihr Erfolg oder ihr Misserfolg, ihr
letzten Endes wohltuender oder denken wir an
die Weimarer Republik - schädigender
Einfluss ergibt sich erst aus der Praxis des
Behörden, welche über die Anwendung
entscheiden. Bei keinen anderen Rechtsnormen
trifft das auch nur entfernt so zu wie hier.
Dass diesen Behörden ein weiter Spielraum
verbleibt, ist allgemein anerkannt und hat die
Geschichte immer wieder gezeigt. Ich zitiere
aus einem Artikel in der „Neuen
Zürcher Zeitung" von Professor Wildhaber,
der sich seinerzeit auf Professor Hans Huber
berief: „Die Konkretisierung der
Grundrechte durch den Verfassungsrichter ist
eine spezifisch rechtsschöpferische,
über die normale Auslegung hinausgehende
Aufgabe, mehr Sinngebung als
Sinndeutung."»[6]
3. Von fremden Richtern kann nicht die Rede
sein
Raymond Broger (AI, CVP) betonte in seinem Votum,
«(d)ie in dieser vorliegenden Konvention
geschützten Menschenrechte sind im Grunde
genommen durchaus selbstverständlich. Wir
bewegen uns damit innerhalb der
westeuropäischen Rechtskultur, und es
fällt uns kein Stein aus der Krone, wenn
wir dies durch die Ratifikation auch
ausdrücklich anerkennen. Im vorliegenden
Fall kann von einem fremden Richter
überhaupt nicht die Rede sein.»[7]
Mathias Eggenberger (SG, SP) begrüsste die
Vorschläge des Bundesrates vorbehaltlos.
«Es ist schon durch Herrn Broger darauf
hingewiesen worden, dass doch ein ganz
wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem,
was die alten Eidgenossen als fremde Richter
bezeichnet und was sie abgelehnt haben, und
dem, was wir jetzt zu tun im Begriffe sind.
Jene fremden Richter sollten uns von aussen,
von einer fremden Rechtsauffassung her,
aufgezwungen werden; wir entscheiden
völlig autonom und frei über den
Beitritt zur Konvention und damit auch zur
Anerkennung des europäischen
Gerichtshofes.»[8]
4. Präventive Wirkung der Konvention
Ferruccio Bolla (TI, FPD) fragte den
Ständerat, was ein wirkliches oder
vermeintliches Opfer eines Missbrauchs oder einer
willkürlichen Entscheidung im Bereich der von
der EMRK geschützten Bereiche wohl denke: ob
es durch die inländische Rechtsprechung oder
aber durch den internationalen Schutz besser
gestellt werde? Er wies dann auf die bisherige
Statistik der damaligen Europäischen
Menschenrechtskommission hin, wonach nur
gerade zwei Prozent der eingereichten
Beschwerden überhaupt geprüft werden. Die
Wirkung der EMRK erfolge weniger durch die auf ihr
beruhenden Urteile, denn auf dem Einfluss, welchen
sie durch ihre blosse Existenz auf die Handhabung
des Rechts in den Mitgliedstaaten ausübe[9].
Franz-Xaver Leu (LU, CVP) hielt fest:
«Es war deshalb eine der vornehmsten,
wichtigsten und wesentlichsten Aufgaben des
Europarates, diese Menschenrechte in einer
Charta zusammenzufassen. Und dass das, was wir
in unserem Lande hochhalten und was in unseren
Verfassungen des Bundes und der Kantone
niedergelegt ist, in einer europäischen
Charta zugrunde gelegt wird, das kann uns nur
mit grosser Genugtuung erfüllen. Unser
Beitritt ist ein Akt der Solidarität mit
den freiheitlich und demokratisch gesinnten
Staaten Europas, und damit unterscheiden wir
uns in ganz wesentlichsten und entscheidenden
Punkten von den kommunistischen Staaten, die
diese Menschenrechte nicht kennen. Wir
müssen auch daran denken, dass gerade
durch diese Menschenrechte die Grundlage
geschaffen wird zur Verständigung der
Völker untereinander.»[10]
So konnte sich Bundesrat Pierre Graber am Schluss
der Debatte im «Stöckli» über
den einhellig zum Ausdruck gebrachten Willen
freuen, die Menschenrechte in der Schweiz durch den
Beitritt zur EMRK zu stärken[11].
5. Wie sah es im Nationalrat aus?
Im Ständerat ist somit von grossen Vorbehalten
gar nichts zu finden. Wie sah es im Nationalrat
aus?
Kommissionspräsident Walter Renschler (ZH, SP)
bemerkte in durchaus zutreffender Weise, die
Schweiz sei jenes Land, welches als
«einziges und letztes Mitglied des
Europarates» der EMRK noch nicht
angehöre; europäisch betrachtet sei
somit «der Beitritt der Schweiz zur
Menschenrechtskonvention nicht als mutiges
Vorrücken, sondern eher als notwendiges
Nachrücken zu bewerten»[12].
Pier-Felice Barchi (TI, FDP), zweiter
Berichterstatter, befasste sich vorwiegend mit dem
Rang der EMRK im Verhältnis zur
Bundesverfassung und zu Bundesgesetzen und hielt
fest, solange der Gesetzgeber beim Erlass eines
neuen Bundesgesetzes selbst nicht kundtue, dass er
darin eine Bestimmung in offenem Widerspruch zur
EMRK einfüge, sei davon auszugehen, dass jedes
Bundesgesetz, auch wenn es nach Beitritt
zur EMRK geschaffen worden sei, im Lichte der EMRK
ausgelegt werden müsse[13].
6. Freudig zustimmende SVP
Elisabeth Lardelli (GR, SVP) beantragte namens
ihrer Fraktion Zustimmung zum Beitritt zur EMRK:
«Die Fraktion ist der Auffassung, dass die
Menschenrechtskonvention, die aus der
Konfrontation der westlichen Demokratien mit
dem kommunistischen System entstanden ist, ein
wirksameres Mittel darstellt, um dem Gedanken
an ein geeintes Europa zu dienen... Unsere
Fraktion betont auch den Gedanken, dass wir
durch die Ratifizierung der Konvention ein
Bollwerk gegenüber den Staaten setzen
sollen, die die Menschenrechte mit Füssen
treten.»[14]
Gabrielle Nanchen (VS, SP) begrüsste namens
ihrer Fraktion, dass die Schweiz der EMRK endlich
beitrete; dieses Instrument entspreche zwei
Prinzipien der Sozialdemokraten: erstens die
Bestätigung und Garantie der individuellen
Freiheiten, und zweitens die Verstärkung
internationaler Solidarität. Die
schönsten Prinzipien gälten jedoch
lediglich in dem Umfange, in welchem sie durch die
Tatsachen gelebt werden[15].
7. Bedauern wegen fehlender Ratifikation zweier
Zusatzprotokolle
Der Fraktionssprecher des Landesrings der
Unabhängigen, Claudius Alder (BL), meinte, die
«heute zur Debatte stehende
Genehmigung der Europäischen
Menschenrechtskonvention bildet eine reichlich
späte Einlösung eines Versprechens,
des Versprechens des Bundesrates nämlich,
dieses bedeutendste Vertragswerk des
Europarates zu ratifizieren.»
Er brachte aber auch seine Enttäuschung zum
Ausdruck, dass das Zusatzprotokoll und das
Protokoll Nr. 4 nicht gleichzeitig ratifiziert
werden[16].
Carlo Speziali (TI, FDP) hielt fest, es sei
überraschend, wahrzunehmen, dass die
Länder, in welchen sich die grundlegende
Philosophie und Moral der Menschenrechte entwickelt
habe, nämlich Frankeich und die Schweiz, als
letzte Staaten der EMRK beitreten. Der Bundesrat
habe angesichts zahlreicher Einschränkungen
lange gezögert. Auch er bedauerte, dass das
Zusatzprotokoll nicht ratifiziert werden soll[17].
Elisabeth Blunschy (SZ, CVP) äusserte sich
dahingehend, es gehe darum,
«dass wir die Menschenrechte in unserem
eigenen Land anerkennen, als rechtlich
durchsetzbar erklären und darüber
hinaus mithelfen, dass diesen Rechten auch
völkerrechtlich Nachachtung verschafft
werde»[18].
8. Relativierte Bedenken von James
Schwarzenbach
James Schwarzenbach (ZH, Republikaner), war der
Einzige, der gegen eine Ratifikation sprach:
«Meine Bedenken, die gegen die
Ratifikation der Menschenrechtskonvention
vorzubringen sind, liegen demnach nicht in der
Erklärung an sich, sondern in der
neuerlichen Beschneidung unserer garantierten
Souveränität, indem in Zukunft die
schweizerische Legislative zu einer die
Wünsche des Auslandes
berücksichtigenden nachvollziehenden
Behörde wird und indem das Recht auf
Individualbeschwerde in Strassburg dem
Urbegehren der Bundesgründer, keine
fremden Richter zu dulden, doch ins Gesicht
schlägt».
Gleichzeitig jedoch hielt er fest, dies setze
voraus,
«dass wir selber gute Richter haben und
dass deren absolute Unabhängigkeit durch
Gesetz und rechtsverbindlichen Usus
gewährleistet sein muss».
Dass dem seiner Auffassung nach jedoch nicht so
war, ergab sich daraus, dass er die Führung
von Strafverfahren und insbesondere deren
Länge in der Schweiz harsch kritisierte[19].
Der Waadtländer Radikaldemokrat (FDP)
Jean-Jacques Cevey erklärte, wir würden
die EMRK mit dem Willen ratifizieren, es wesentlich
besser zu machen als mehrere andere
Unterzeichnerstaaten, im Respekt vor den
Grundsätzen des Völkerrechts, die wir im
Laufe unserer Geschichte unterzeichnet haben[20].
Als letzter Redner aus dem Plenum wandte sich
Claude Bonnard (VD, Liberale Partei) an den Rat und
unterstützte den Beitritt ebenso[21].
Von Bundesrat Pierre Graber ist auch im Nationalrat
kein einziges Wort der Beschwichtigung
ersichtlich; eine solche war angesichts dieser fast
durchwegs positiven, ja begeisterten Voten aus dem
Rate offensichtlich auch nicht notwendig.
Von den angeblich grossen Vorbehalten
gegenüber der Ratifikation der EMRK im
Parlament, von denen Paul Widmer zu wissen vorgibt,
somit keine Spur. Im Gegenteil: weitestgehende
Zustimmung und Erleichterung, dass der längst
fällige Schritt endlich vollzogen werden kann,
nachdem die bisher bedeutendsten Hindernisse, die
einer Ratifizierung im Wege standen - fehlendes
Frauenstimmrecht und konfessionelle Ausnahmeartikel
der Bundesverfassung - hatten beseitigt werden
können[22], [23].
Bundesrat Pierre Graber befasste sich in seinem
Schlusswort vor allem mit Fragen im Zusammenhang
mit einer eventuellen Unterstellung des
Beschlusses des Parlamentes unter das
fakultative Referendum - was er mit der Mehrheit
der meisten Redner ablehnte. Von einem
Bemühen, besorgte Volksvertreter zu
beschwichtigen, oder gar von einem Satz, es sei
unvorstellbar, dass die Schweiz mit ihren
hohen Standards je wegen Verletzung von
Menschenrechten verurteilt würde, berichtet
das Amtliche Bulletin der Verhandlungen nirgends[24]. Wiederum ist das Gegenteil richtig: Es
wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass eine
Verurteilung der Schweiz nicht etwa die Folge
hätte, dass dadurch ein Urteil des
Bundesgerichtes aufgehoben würde; damit
bleibe es der Schweiz überlassen, wie sie auf
ein solches Urteil reagiere, um das so
festgestellte Unrecht dann dauerhaft zu
beseitigen[25].
So muss denn schleierhaft bleiben, woher Paul
Widmer seine diesbezügliche Weisheit bezogen
hat[26].
II. Die «Bilanz» der Beschwerden
gegen die Schweiz
Was Paul Widmer zur sogenannten «Bilanz»
der Beschwerden gegen die Schweiz ausführt,
ist ebenfalls nicht zutreffend: Er behauptet, im
letzten Jahrzehnt seien im Schnitt jährlich
250 Beschwerden eingereicht worden, von denen 90
Prozent vom Strassburger Gerichtshof als
unbegründet abgewiesen worden seien[27].
Betrachten wir zuerst die Statistik des EGMR
für die Schweiz für die Jahre 1974 bis
und mit 2008. In diesen rund 34 Jahren sind
insgesamt 3'379 Beschwerden gegen die Schweiz
eingereicht worden, von denen 3'295 als
«offensichtlich unzulässig»
ausschieden. Nur in zwei Prozent der Beschwerden
fällte der Gerichtshof ein Urteil. Von 84
Urteilen kam es in 69 % zu einer Verurteilung der
Schweiz. In 23 % der Fälle wurde keine
Verletzung der EMRK festgestellt. 6 % der
Fälle endeten mit einer gütlichen
Einigung. Die restlichen zwei Prozent der Urteile
entfallen auf «Andere Entscheidungen»[28].
Was die «letzten Jahre» anbelangt, von
denen Paul Widmer gesprochen hat, stellt sich die
Lage so dar: Zwischen 2002 und 2013 gingen 3'629
Beschwerden ein; im Durchschnitt somit etwa 363,
wie sich den Angaben des Bundesrates in seiner
Antwort vom 12. Februar 2014 auf die Interpellation
Peter Keller entnehmen lässt[29].
1. Die Art der festgestellten Verletzungen der
EMRK
Verurteilungen erfolgten 1974-2008 in 32 % der
Fälle - also etwa einem Drittel - wegen
Verletzung des Rechts auf ein faires
Gerichtsverfahren (Art. 6 EMRK), in 18 % wegen
Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und
Sicherheit - also in Fragen des Freiheitsentzuges),
nur in 17 % wegen Verletzung des Anspruchs auf
Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8), in
15 % wegen Verletzung des Rechts auf
Äusserungsfreiheit (Art. 10), und der Rest von
18 % entfiel auf andere Artikel der EMRK.
Die Behauptung Widmers, Verurteilungen wegen
Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben
seien besonders häufig, fällt damit in
sich zusammen: Nur gerade ein Sechstel der
Verurteilungen entfällt auf diesen Bereich.
Dass Verurteilungen durch den EGMR in einem Staat
zur Folge haben können, dass er
möglicherweise ein Gesetz ändern muss,
gehört zum gewöhnlichen Risiko, wenn man
sich einer Menschenrechts-Gerichtsbarkeit
unterstellt. Paul Widmer hat diesen Umstand in
seiner Äusserung in der NZZ jedoch als
«grosse Konsequenz» dargestellt, denn
«der verurteilte Staat muss Vorkehrungen
treffen, damit sich Fälle der beanstandeten
Art nicht mehr ereignen».
Dies ist allerdings nicht mehr und nicht weniger
als der Sinn einer Unterstellung unter die EMRK und
deren Gerichtsbarkeit: Was als
menschenrechtswidrige Regelung erkannt worden ist,
soll für alle Zukunft korrigiert werden und
sich wenn immer möglich nicht mehr
wiederholen: Eine Haltung des «Wasch mir den
Pelz, aber mach' mich nicht nass», wie sie
Widmer sichtlich vorschwebt, - sich
vordergründig grossartig verpflichten, aber
eigentlich nur zum Schein -, steht im Übrigen
in absolutem Widerspruch zum grundlegenden Artikel
26 des Wiener Übereinkommens über das
Recht der Verträge:
«Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er
die Vertragsparteien und ist von ihnen nach
Treu und Glauben zu erfüllen.»
2. Unserem Rechtsempfinden widerstrebende
Urteile?
Paul Widmer wagt ausserdem eine
rückwärtsgewandte Prognose, indem er
behauptet:
«Nicht selten widerstreben die
Strassburger Urteile unserem Rechtsempfinden.
Die eidgenössischen Kammern hätten
die EMRK wohl nicht ratifiziert, wenn sie
gewusst hätten, weshalb die Schweiz
inskünftig verurteilt würde.»[30]
Wessen Rechtsempfinden durch die Urteile aus
Strassburg wirklich betroffen ist, lässt
Widmer offen; das Pronomen «unserem»
bleibt unbestimmt. Ist es das Rechtsempfinden der
Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer, oder
jener, von denen das Bonmot sagt, das Schönste
am Regieren sei die Willkür?
Weshalb Widmer eine ausserordentliche
Häufigkeit solcher Entscheidungen behauptet,
bleibt schleierhaft[31].
Urteile aus Strassburg, welche mit Rücksicht
auf die jeweiligen Familienverhältnisse im
Einzelfall und die tatsächliche Bedeutung der
einem Beschwerdeführer zur Last gelegten
Gesetzesverstösse dazu führen, dass eine
durch ein schweizerisches Gericht verfügte
Ausweisung aus der Schweiz als Verstoss gegen die
EMRK gewertet wird, eignen sich ganz besonders
für populistisches Gepolter gegen
«Strassburg».
Analysiert man die einzelnen Fälle jedoch
unvoreingenommen, zeigt sich, dass der
Menschenrechtsgerichtshof dem Zusammenleben bzw.
der tatsächlichen Möglichkeit der
Ausübung intensiver Beziehungen unter den
Mitgliedern einer Familie in relativer Nähe
zueinander und insbesondere im gleichen Land eine
wesentlich höhere Bedeutung zumisst, als dies
unsere Gerichte zu tun pflegen, und er gewichtet
bei seiner Abwägung jeweils eine erhebliche
Reihe von Kriterien, um zu seinen Entscheiden zu
kommen.
Das hat wohl damit zu tun, dass in den meisten
europäischen Staaten, welche zur EMRK
gehören[32], sowohl Begriff als auch Faktizität der
Familie mit ihrem intensiven Zusammenhalt zwischen
deren Angehörigen wesentlich stärker ist
als in der Schweiz, in welcher nicht zuletzt
zufolge der hervorragenden wirtschaftlichen
Situation der meisten ihrer Einwohnerinnen und
Einwohner die Vereinzelung sehr weit entwickelt ist
und sehr viel weniger auf gegenseitige
Unterstützung innerhalb eines
Familienverbandes zurückgegriffen werden muss[33].
3. Zehn Fälle in Ausweisungssachen - nur
drei Verurteilungen
Untersucht man die Urteile des EGMR gegen die
Schweiz, welche seit 2010 in Fällen ergangen
sind, in welchen es sich um die Frage der
Ausweisung von Ausländern aus der Schweiz
gehandelt hat, findet man insgesamt zehn
Entscheidungen:
- Gezginci (Türkischer
Staatsangehöriger, Urteil vom 9. Dezember
2010)
- Shala (Staatsangehöriger des Kosovo,
Urteil vom 15. November 2011)
- Kissiwa Koffi (Staatsangehörige der
Elfenbeinküste, Urteil vom 15. November 2011)
- Udeh (Staatsangehöriger von Nigeria,
Urteil vom 16. April 2013)
- Hasanbasic (Staatsangehöriger von
Bosnien-Herzegowina, Urteil vom 11. Juni 2013)
- Berisha (Staatsangehöriger des Kosovo,
Urteil vom 30. Juli 2013)
- Vasquez (Staatsangehöriger von Peru,
Urteil vom 26. November 2013)
- Palanci (Staatsangehöriger der
Türkei, Urteil vom 25. März 2013)
- Ukaj (Staatsangehöriger des Kosovo,
Urteil vom 26. April 2014)
- M.P.E.V. (Staatsangehörige von Ecuador,
Urteil vom 8. Juli 2014).
Der Gerichtshof hat in sieben dieser Fälle
keine Verletzung der EMRK durch die Schweiz
gefunden. Hingegen ist er in drei Fällen -
Udeh, Hasanbasic und M.P.E.V. - zu einer
Verurteilung der Schweiz gelangt. Die Urteile
Hasanbasic und M.P.E.V. sind einstimmig, also
jeweils mit sieben Stimmen, ergangen[34]; im Fall Udeh erfolgte die Verurteilung der
Schweiz mit fünf gegen zwei Stimmen.
Im Laufe der Jahre 2010 bis 2014 waren in diesen
zehn Schweizer Fällen insgesamt 22 Richter aus
18 europäischen Ländern tätig. Deren
Mehrzahl, nämlich zwölf, stammte aus dem
«westlichen» Teil Europas, also aus
Ländern, die vor dem Beitritt der Schweiz zur
EMRK bereits Vertragsstaaten waren (in
Klammern an erster Stelle die Anzahl der Stimmen,
die auf Nicht-Verletzung, also Abweisung der
Beschwerde, an zweiter Stelle die Anzahl der
Stimmen, die auf Verletzung, also Gutheissung der
Beschwerde, von Richtern des jeweiligen Staates
abgegeben worden sind): Belgien (3/1),
Dänemark (5/2), Griechenland (1/0), Island
(1/0), Italien (5/4), Luxemburg (0/1), Norwegen
(0/1), Österreich (1/0), Portugal (0/4), der
Schweiz (7/3), Türkei (1/4) und Zypern (1/0).
Die übrigen Richter stammten aus Kroatien
(1/0), Litauen (5/3), Monaco (1/0), Montenegro
(3/3), Serbien (2/2) und Ungarn (4/3).
Unterscheidet man nach Staaten, die dem
früheren «Westen» oder
«Osten» angehört haben, ergibt sich
für die westlichen Staaten ein Verhältnis
von 27 zu 17 (38 % für Verurteilung), für
jene des Ostens ein solches von 15 zu 11 (42 %
für Verurteilung). Man sieht: Die Differenz
zwischen Ost und West ist mit nur gerade 4 % ganz
offensichtlich nicht signifikant und keineswegs
entscheidend.
4. Vorwürfe fallen in sich zusammen
Die Analyse dieser Fälle zeigt somit eines
ganz deutlich: Offensichtlich stört in erster
Linie das nicht einstimmig ergangene Urteil Udeh
die Kritiker des EGMR, die es jedoch versäumt
haben, diesem die sieben anderen - abweisenden -
Urteile gegenüberzustellen. Sie stellen somit
die Rechtsprechung des EGMR in verzerrter Weise
dar.
Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass
die Medien im Allgemeinen und die dem EGMR aus
ihrer parteiideologischen Einstellung heraus
feindlich gesinnten Blätter im Besonderen kaum
je über jene Urteile breit berichten, in
welchen Beschwerden gegen die Schweiz abgewiesen
wurden. Hervorgehoben werden dagegen Urteile, die
zu einer Verurteilung der Schweiz geführt
haben. Das ist Ausfluss des die Medienwelt
beherrschenden Prinzips «Hund beisst Mann ist
keine Nachricht, Mann beisst Hund ist eine
Nachricht». Daraus ist für Politik und
Wissenschaft der Schluss zu ziehen: Nachrichten aus
Zeitungen mit grossen Buchstaben, die Empörung
zu bewirtschaften versuchen (und jene, die es ihnen
auch ohne grosse Buchstaben gleichzutun versuchen),
werden in ihrer tatsächlichen Bedeutung
zumeist stark überschätzt[35].
5. Einzelfälle oder Grundsatzfragen?
In seiner Kritik des EGMR erwähnt Paul Widmer
sodann noch fünf ganz andere Fälle von
Verurteilungen durch eine Kammer des EGMR, welche
die Schweiz betroffen haben, so dass anzunehmen
ist, er betrachte auch diese Verurteilungen als
«Grenzüberschreitungen» seitens der
Strassburger Richter, von denen er mehr
«richterliche Zurückhaltung»
einfordert. Angesprochen sind die Fälle Gross[36], Schlumpf[37], Verein Rhino[38], Perinçek[39]
und Glor[40].
In formeller Hinsicht ist festzuhalten, dass die
Urteile Gross und Perinçek noch gar nicht rechtskräftig sind, da Anträge der
Schweiz, diese Fälle von der Grossen Kammer
überprüfen zu lassen, erfolgreich waren[41].
Sie betreffen somit nach Auffassung des
Strassburger Filterkomitees wichtige
Grundsatzfragen.
6. Der Anspruch auf einen sicheren Suizid auch
ohne Krankheit
Im Fall Gross hat die Kammer des EGMR
richtigerweise festgestellt, dass das Schweizer
Recht es seit dem Entscheid BGE 133 I 58 im
Unklaren lässt, ob ein Arzt berechtigt ist,
einer Person, die nicht im eigentlichen Sinne als
krank gilt, ein Rezept für eine letale Dosis
Natrium-Pentobarbital (NaP) auszustellen. In seinem
Entscheid hat das Bundesgericht in Erwägung 6
klar gesagt, es gehöre zum
Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen, selber zu
entscheiden, wann und wie er sterben wolle. Damit
ist erstmals das Recht oder die Freiheit zum Suizid
ausdrücklich als Menschenrecht anerkannt
worden, und der EGMR hat diese Betrachtungsweise in
der Folge übernommen[42].
Da amerikanische Forschungsergebnisse gemäss
Bundesrat (in seiner Antwort vom 9. Januar 2002 auf
die einfache Anfrage von Andreas Gross zu Suiziden
und Suizidversuchen[43]) nahelegten, dass bis zu 49 von 50 Suizidversuchen
scheitern, erscheint ein einsamer Suizidversuch
einer Person nicht als ausreichende
Möglichkeit, um von diesem Recht Gebrauch zu
machen: Wer mit einem Risiko von 49 zu 1 damit
rechnen muss, mit einem Suizidversuch zu scheitern,
kann das durch die EMRK verbürgte Recht nicht
effizient und praktisch in Anspruch nehmen. Aus der
Strassburger Artico-Rechtsprechung[44]
ergibt sich jedoch ein Anspruch gegenüber dem
Staat, ein solches Recht mindestens mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in
Anspruch nehmen zu können. Dies macht es
unausweichlich, dass jemand über die
Möglichkeit verfügen können muss,
zur Durchführung eines Suizids[45]
sachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen, wozu auch
gehört, dass dafür das beste Suizidmittel
zur Verfügung stehen muss.
Somit steht die gegenwärtige
Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Verschreibung
von NaP für Personen, die nicht krank sind, im
Widerspruch zur EMRK. Im Fall Gross ging es darum,
diesen Widerspruch aufzulösen. Dies ist
angesichts der grossen Unterstützung weiter
Teile der Bevölkerung für die
Möglichkeit eines Suizids bei Lebenssattheit
im Alter[46]
eine bedeutsame Grundsatzfrage, die eben deshalb,
weil das Bundesgericht bei deren Beantwortung
offensichtlich versagt hat, nun durch den EGMR zu
entscheiden ist: Muss ein Staat, der nichts dagegen
einzuwenden hat, dass Ärzte kranken
Personen NaP zum Zwecke eines begleiteten Suizids
verschreiben, dafür sorgen, dass nicht Kranke, die im Einzelfall
auch einen guten Grund dafür haben
können, ihr Leben selbst vorzeitig zu beenden,
jenen gegenüber nicht diskriminiert werden
dürfen?
Eine der innerstaatlich denkbaren Lösungen
dieses Problems wäre, dass zur medizinischen
Indikation hinzu dem Arzt auch eine juristische Indikation als Grundlage
für eine Rezeptierung zur Verfügung
gestellt wird für den Fall, dass er einen
beabsichtigten begleiteten Suizid für
gerechtfertigt hält[47].
7. Die grosse Bedeutung der
Äusserungsfreiheit
Im Fall Perinçek geht es - nach dem Recht auf
Leben - um das m. E. zweitwichtigste Menschenrecht:
Das Recht, sich ungehindert äussern zu
dürfen. Mit ihm allein lassen sich alle
anderen Menschenrechte erkämpfen, denn nur wer
sich frei äussern kann, kann auch Andere dazu
bewegen, sich einer Idee anzuschliessen und sie
eines Tages mehrheitsfähig zu machen.
Der türkische Politiker Perinçek wurde in
der Schweiz verurteilt, weil er den Genozid an den
Armeniern durch die osmanische Türkei hier
öffentlich geleugnet hat. Nach schweizerischer
Ansicht hat er dadurch die Rassismus-Strafnorm
(Art. 261bis StGB) verletzt. Die Kammer,
welche diese Frage zu beurteilen hatte, fand, der
Begriff des Genozids oder Völkermords sei
nicht eindeutig festgelegt. Seine Anwendung auf die
damalige türkische «Lösung» der
Armenierfrage sei kontrovers. Deshalb hat sie die
Verurteilung Perinçeks durch die
schweizerischen Gerichte als Verletzung der
Äusserungsfreiheit qualifiziert.
Man wird nicht sagen können, diese
Betrachtungsweise des EGMR sei von vornherein
falsch oder irrig, sondern wird anerkennen
müssen, dass angesichts der konkreten
Umstände der Diskussion dieser historischen
Frage dieser Standpunkt durchaus auch eingenommen
werden kann. Somit sind Vorwürfe
gegenüber der urteilenden Kammer nicht am
Platz. Sollte die Grosse Kammer den Fall anders
sehen - was durchaus offen ist -, kann dannzumal[48]
das neue Urteil wieder diskutiert werden.
Es liegt eben in der Natur der Sache, dass
überall dort, wo Rechtssachen einem Rechtszug
von einer Instanz zur nächsten unterliegen,
auf den verschiedenen Ebenen auch unterschiedliche
Wertungen in den Urteilen möglich sind. Dies
ist aber nie ein Grund dafür, die Abschaffung
solcher Justizgremien zu fordern oder gar - wie
hier - sich aus dem Kreis der einigermassen
zivilisierten Staaten entfernen zu wollen.
8. Vereinigungsfreiheit als wichtiges
politisches Recht
Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fall
Perinçek weist auch der Fall des in Genf
beheimateten Vereins Rhino auf, der gemäss
Vereinszweck das Ziel verfolgte, leere
Liegenschaften durch Besetzung einer
Zwischennutzung zuzuführen, um den besonders
in Genf spürbaren erheblichen Mangel an
Wohnraum zu lindern. In jenem Fall hatten die
Gerichte in der Schweiz diesen Vereinszweck als
rechtswidrig eingestuft und gestützt darauf
den Verein von Amtes wegen auflösen wollen.
Der EGMR hat dies als Verletzung von Art. 11 der
EMRK - Vereinigungsfreiheit - qualifiziert, und
zwar einzig und allein deshalb, weil es der Schweiz
im Strassburger Verfahren nicht gelungen ist,
darzutun, dass es kein milderes Mittel gegeben hat,
um das Verhalten des Vereins in rechtlich
allenfalls noch zu duldende Schranken zu weisen.
Auch hier spürt man bei der Lektüre des
Urteils, dass den Strassburger Richtern die
Garantien der EMRK eben wirklich wichtig sind, und
dass sie bei der Frage, ob der angefochtene
Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, richtigerweise
verhältnismässig strenge Massstäbe
anlegen. Das Recht auf Vereinigung darf wohl als
das drittwichtigste Menschenrecht angesehen werden,
weil es gemeinsam mit der Äusserungsfreiheit
den Kampf einzelner Gruppen um Ausweitung der
Freiheitsbereiche ermöglicht.
Die entsprechende Verurteilung ist die
Konsequenz aus der mangelnden Bemühung
einheimischer Richter, die richtige Balance
zwischen Freiheit und Ordnung zu finden. Die
Strassburger Rechtsprechung sollte somit als Chance
begriffen werden, im eigenen Land das Nachdenken
über diese wichtigen Garantien bei den
Gerichten zu fördern und den Grundrechten auch
in der Praxis die Bedeutung zuzuerkennen, die ihnen
zukommt.
9. Heikle Abgrenzungen im Recht können zu
Diskriminierung führen
Die beiden übrigen Urteile, die Paul Widmer
aufgestossen sind, weisen bei aller Verschiedenheit
ihrer materiellen Hintergründe - Pflicht zur
Zahlung von Militärpflichtersatz bei
Untauglichkeit zur Leistung von Militärdienst
im Fall Glor, Verpflichtung der Krankenkasse zur
Tragung von Kosten einer geschlechtsangleichenden
Operation im Fall Schlumpf - einen gemeinsamen
Nenner auf. In beiden Fällen sieht das
inländische Gesetz eine Differenzierung
zwischen analogen Situationen vor: Im Fall des
Militärpflichtersatzes hat bisher nur eine
schwere Dienstuntauglichkeit zur Befreiung von
dessen Bezahlung geführt; im Fall der
operativen Geschlechtsangleichung sieht das
Bundesgericht unter anderem mindestens zwei Jahre
psychiatrische Begleitung vor, bevor die
Krankenkasse verpflichtet ist, die Kosten zu
übernehmen.
Derartige Unterscheidungen können leicht zu
Verletzungen von Garantien der EMRK führen,
insbesondere Diskriminierungen, und diese sind in
Verbindung mit sämtlichen EMRK-Rechten durch
Art. 14 der Konvention verboten[49]. Der Gesetzgeber täte somit gut daran, beim
Erlass solcher Bestimmungen einen Moment
innezuhalten und sich zu fragen, ob die dadurch
geschaffene Diskriminierung vor Art. 14 der EMRK
Bestand haben könnte.
Im Fall des an Diabetes leicht erkrankten
Beschwerdeführers, für den in der Armee
ohne weiteres ausserhalb kombattanter Truppenteile
eine erfüllbare Aufgabe zu finden wäre
(insbesondere in einer Armee, die seit 1847 keinen
Krieg mehr hat führen müssen), erreichte
diese Unterscheidung den Grad der Diskriminierung.
Dazu darf festgestellt werden, dass früher das
nationale Recht selbst bei schwerer
Dienstuntauglichkeit Militärpflichtersatz
vorsah. Die Folge der Strassburger Entscheidung -
Verzicht auf die Pflicht zur Leistung von
Militärpflichtersatz auch bei leichter
Untauglichkeit - beseitigt somit lediglich eine
Ungerechtigkeit, welche die Leitung der Armee bzw.
die dafür verantwortlichen politischen
Instanzen nach Meinung des Autors damals schon
längst von sich aus hätten abschaffen
können und müssen[50].
Dies ist im Bereich des Militärrechts
übrigens nichts Neues. In der ersten
Beschwerde, die seinerzeit von der damals noch
existierenden Europäischen
Menschenrechtskommission gegen die Schweiz
zugelassen worden war, beschwerte sich Herbert Eggs[51]
darüber, dass ihm wegen unbotmässigen
Haarschnitts in der Armee die Strafe scharfen
Arrests auferlegt worden war, ohne dass
darüber je ein Richter hätte entscheiden
können. Der Fall führte schliesslich zu
einer Änderung der
Militärdisziplinargerichtsordnung und
letztlich zur Abschaffung der damaligen
Haarschnittvorschrift: Heutzutage ist die Frisur
eines Soldaten tabu; er hat lediglich dort, wo der
Dienst dies erfordert, ein Haarnetz zu tragen. So
hat die EMRK in ganz erfreulicher Weise dazu
geführt, auch alte Militärzöpfe
abzuschneiden und somit für eine
diesbezügliche Haarschnittvorschrift in
umgekehrter Richtung gesorgt.
Im Fall der Kosten der operativen
Geschlechtsangleichung lagen die Verhältnisse
so, dass die Beschwerdeführerin bereits etwas
fortgeschrittenen Alters war, und dass demzufolge
der Sinn der vom Bundesgericht aufgestellten
Bestimmung, welche die sakrosankte Zweijahresfrist
als Voraussetzung für das Stellen einer
gesicherten Diagnose vorsah, keinerlei Berechtigung
mehr gehabt hat.
III. Fazit
Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass der
von Paul Widmer (und anderen) geäusserten
Kritik an der Rechtsprechung des EGMR
bezüglich der Schweizer Fälle keinerlei
tragfähige Tatsachen zugrunde liegen. Diese
Rechtsprechung weiss auch in den heiklen
Ausweisungsfällen sehr wohl zu differenzieren;
ein präponderanter Einfluss von Richtern,
deren Familiennamen auf osteuropäische
Endsilben enden, ist nicht zu beweisen; andere oft
angeführte angebliche Einzelfälle
erweisen sich durchwegs als Kristallisationspunkte
wichtiger Grundsatzfragen. Somit kann festgestellt
werden, dass die Kritik, wie sie Widmer und andere
an der Spruchpraxis des EGMR gegenüber der
Schweiz geäussert haben, einer
wissenschaftlichen Überprüfung nicht
stand hält.
Die Schweiz hat deshalb allen Anlass, ihre
Verbundenheit mit der Konvention zu betonen;
sie allein, in Gemeinschaft mit der Tätigkeit
des EGMR, sorgt dafür, dass
Bürgerinnen und Bürger ein klares
Unterscheidungsmerkmal zwischen zivilisierten
und unzivilisierten Staaten zur Verfügung
haben: Wer sich als europäischer Staat der
EMRK unterstellt, sich bemüht, Rechte und
Freiheiten der Menschen zu achten und den
Entscheidungen des EGMR auch dort ohne Widerspruch
nachzukommen, wo sie Teile der staatlichen
Verwaltung und gewisse Mächtige schmerzen,
darf als zivilisiert gelten, denn
Zivilisation bedeutet Ablösung einerHerrschaft der Macht durch die Herrschaft des Rechts - wie
seinerzeit beim Gegensatz zwischen den
demokratisch gesinnten Griechen und den tyrannisch
beherrschten Persern.
Dass der EGMR die Rechte und Freiheiten, welche die
Konvention garantiert, dynamisch auslegt,
entspringt nicht etwa seiner Willkür,
wie gelegentlich insinuiert wird, sondern ist
Auftrag und Gebot der die EMRK einleitenden
Präambel. Sie verlangt im Interesse der
«Herbeiführung einer grösseren
Einigkeit unter» den Mitgliedern des
Europarates und als «eines der Mittel zur
Erreichung dieses Zieles», welches «in
der Wahrung
und in der Entwicklung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten
besteht», dafür zu sorgen, dass die EMRK
nicht dem sonst oft üblichen Schicksal von
Gesetzen unterliegt, welches der Jurist und
Rechtsanwalt Johann Wolfgang Goethe im Jahre 1808
so trefflich dargestellt hat[52]: «Es erben sich Gesetz' und Rechte / wie eine
ew'ge Krankheit fort; / Sie schleppen von
Geschlecht sich zum Geschlechte, / Und rücken
sacht von Ort zu Ort. / Vernunft wird Unsinn /
Wohlthat Plage; / Weh dir, dass du ein Enkel bist!
/ Vom Rechte, das mit uns geboren ist / Von dem
ist, leider! nie die Frage.»
Seit dem 28. November 1974 jedoch, dem Tage des
Beitritts der Schweiz zur EMRK, ist dies auch
für uns in der Schweiz[53]
- entgegen der Meinung Goethes - durchaus die
Frage.
Demzufolge hat die Schweiz allen Anlass, ihr
vierzigjähriges Dazugehören am 28.
November 2014 mit Stolz zu begehen und sich ganz
entschieden in die Gruppe der Verteidiger der EMRK
einzureihen. Die vor uns stehenden Jahre mit ihren
unguten Entwicklungen im europäischen Osten
fordern uns einmal mehr im Bemühen, einen
Rückfall in Barbarei zu vermeiden[54].
[3]
Die Schweiz hat bis heute das 1.
Zusatzprotokoll zur EMRK
trotz Unterzeichnung nicht ratifiziert, und zum Protokoll Nr. 4 zur EMRK
stehen sowohl Unterschrift als auch
Ratifizierung seitens der Schweiz aus. Dies, obwohl seit langem Staaten in
Europa dem Europarat und damit der EMRK nur
noch beitreten können, wenn sie den
gesamten Kodex dieses einzigartigen
Instruments zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten als Ganzes
übernehmen. Die Schweiz befindet sich
damit bezüglich des Zusatzprotokolls
noch in der Gesellschaft des Zwergstaats
Monaco, und in Bezug auf Protokoll Nr. 4
auf einer Linie mit Griechenland;
Grossbritannien und die Türkei haben
zwar unterzeichnet, das Protokoll Nr. 4
aber bislang nicht ratifiziert.
[4]
Bundesrat Pierre Graber hinterlegte die
schweizerische Ratifikationsurkunde am 28.
November 1974 in Strassburg
persönlich, nachdem der Ständerat
dem Beitritt zur EMRK am 27. Juni 1974
(Amtl. Bull SR 1974,378-390) einstimmig mit
27 Stimmen und der Nationalrat am 3.
Oktober 1974 mit 87 gegen 15 Stimmen (Amtl.
Bull NR 1974, 1461-1473 und 1502-1504)
zugestimmt hatten, was gar auf einer
Gedenktafel im Gebäude des Europarates
in Strassburg dokumentiert worden ist, als
ob es sich dabei um ein europäisches
Wunder gehandelt hätte.
[5]
Amtl.Bull. SR 1974, 378.
[7]
Amtl.Bull. SR 1974, 381.
[8]
Amtl.Bull. SR 1974, 382.
[9]
Amtl.Bull. SR 1974, 383.
[10]
Amtl.Bull. SR 1974, 385.
[11]
Amtl.Bull. SR 1974., 385-387.
[12]
Amtl.Bull. NR 1974, 1462.
[13]
Amtl.Bull. NR 1974, 1465.
[14]
Amtl.Bull. NR 1974, 1467.
[16]
Amtl.Bull. NR 1974, 1468-1469.
[17]
Amtl.Bull. NR 1974, 1469-1470.
[18]
Amtl.Bull. NR 1974, 1470.
[19]
Amtl.Bull. NR 1974, 1471.
[20]
Amtl.Bull. NR 1974, 1472.
[21]
Amtl.Bull. NR 1974, 1472-1473.
[23]
In der
Volksabstimmung vom 20. Mai 1973
wurde der Bundesbeschluss über die
Aufhebung des Jesuiten- und des
Klosterartikels der Bundesverfassung
angenommen und damit diese Artikel aus der
Verfassung gestrichen. Das Verbot der Wahl
von Geistlichen in den Nationalrat fiel
jedoch erst mit dem Ersatz der
Bundesverfassung von 1874 durch die
sogenannte «Nachführung» der
Bundesverfassung von 1999 dahin; es spielte
im Zusammenhang mit der EMRK keine Rolle.
[24]
Amtl.Bull. NR 1974,1502-1503.
[25]
So etwa Hefti, Amtl.Bull. SR 1974, 380.
[26]
Die Behauptung Widmers erinnert an die
Anekdote über jenen Zürcher
Anwalt, der nach einem feurigen
Plädoyer den Prozess seines Klienten
dennoch verlor, vom Gegenanwalt mit der
Frage angesprochen worden war: «Aber
Herr Kollega, wie konnten Sie nur
Derartiges behaupten?», auf diese
Anfrage den Zeigefinger der rechten Hand
senkrecht nach oben streckte und bemerkte:
«Herr Kollega, n'est-ce pas, le juge
peut toujours se tromper!».
[29]
Interpellation Peter Keller (13.4174): Fremdes Recht vor Schweizer Recht?
[30]
Siehe Fussnote 1.
Rückwärtsgewandte Prognosen sind
noch schwieriger als jene, die sich auf die
Zukunft beziehen (Mark Twain). Die
letzteren lassen sich durch Zeitablauf
verifizieren oder falsifizieren; die
Zeitmaschine, die es gestatten würde,
dies auch für die Vergangenheit zu
tun, ist leider oder zum Glück noch
nicht erfunden worden.
[31]
Siehe FN 1. Das ist etwa so richtig, wie
wenn behauptet würde, es sei besonders
häufig, dass die Fussball-National-Elf besonders häufig mehrere
Tore hintereinander in 17 Minuten schiesse:
Richtig ist bloss, dass in letzter Zeit
mehrere Urteile sich mit solchen Fragen zu
befassen hatten. Dies dürfte darauf zu
rückzuführen sein, dass Schweizer
Gerichte unter dem Eindruck populistischer
Kampagnen bei der Beurteilung solcher
Fragen vor allem die Interessen der
mitbetroffenen Familienmitglieder zu wenig
gewichtet haben.
[32]
Es fehlen nur noch Weissrussland und der
Vatikan. Letzterer hat wohl kaum je eine
Chance, dem Europarat beizutreten, da er in
keiner Art und Weise demokratisch
organisiert ist, wogegen für
Weissrussland ein Wechsel zur Demokratie
noch immer erhofft werden darf.
[33]
Das Bundesamt für Statistik hat in
seiner Untersuchung über
«Privathaushalte nach Kanton und
Haushaltstyp, 2012», festgestellt,
dass in der Schweiz von insgesamt 3'553'711
Haushalten deren 1'261'750 auf
Einpersonenhaushalte entfallen. Das sind
35,5 % aller Haushalte.
[34]
Sie würden somit sogar die
Anforderungen erfüllen, die Paul
Widmer in seinem Artikel als
wünschenswert angeführt hat,
nämlich dass Verurteilungen von
Staaten durch den EGMR nur noch einstimmig
oder wenigstens mit sechs von sieben
Stimmen erfolgen sollten.
[35]
Ganz abgesehen davon, dass seit mehr als
hundert Jahren sich die Frage der
Qualifikation derjenigen Personen,
die in Medien tätig sind, andauernd in
gleicher Weise stellt: Inwieweit sind
Journalisten Personen, die in der Lage
sind, das, worüber sie berichten, so
dar-zustellen, dass es sowohl im Inhalt als
auch im Gewicht der Wahrheit entspricht?
Schon 1906 schrieb George Bernard Shaw in
einer Regieanweisung in seinem Stück
«The Doctor's Dilemma»:
«Walpole kehrt mit dem Reporter
(Original: The Newspaper Man) zurück,
einem heiteren freundlichen jungen Mann,
der für die gewöhnlichen
Geschäfte infolge eines angeborenen
geistigen Gebrechens untauglich ist: er ist
nämlich unfähig, das, was
er sieht, genau zu beschreiben, oder das,
was er hört, genau zu verstehen oder
zu erzählen. Da die einzige
Beschäftigung, bei der diese
Mängel nicht schaden, der Journalismus
ist - eine Zeitung braucht ja nicht
gemäss ihren Beschreibungen und
Berichten zu handeln, sondern sie bloss an
neugierige Faulpelze zu verkaufen, verliert
also durch Ungenauigkeit und
Unwahrhaftigkeit nur ihre Ehre -, so
musste er unbedingt durch eine force
majeure Journalist werden und trachten,
trotz eines täglichen Kampfes mit
seinem Mangel an Bildung und seiner
prekären Beschäftigung, stets
guten Mutes zu erscheinen. Er hat ein
Notizbuch bei sich und versucht
gelegentlich eine Notiz zu machen, da
er aber nicht stenographieren und
überhaupt nicht schnell schreiben
kann, gibt er das, ehe er einen Satz
zustande gebracht hat, gewöhnlich als
verlorene Mühe auf.»
[37]
Urteil des EGMR
29002/06
vom 8. Januar 2009 (Schlumpf gegen
Schweiz).
[38]
Urteil des EGMR
48848/07
vom 11. Oktober 2011 (Association Rhino und
andere gegen Schweiz).
[40]
Urteil des EGMR
13444/04
vom 30. April 2009 (Glor gegen Schweiz).
[41]
Im Fall Gross hat sich gar eine Situation
ergeben, die nach Kenntnis des Autors
bisher einmalig ist: Nachdem der Fall an
die Grosse Kammer überwiesen worden
ist, stellten die Bundesbehörden fest,
dass die Beschwerdeführerin gar nicht
mehr lebt. Gegenüber der Grossen
Kammer beschuldigten sie deren
Rechtsvertreter, dies arglistig
verschwiegen zu haben. Dieser konnte jedoch
nachweisen, dass die
Beschwerdeführerin durch einen Pfarrer
im Auftrag von Exit (Deutsche Schweiz)
begleitet worden ist, welcher ihr unter dem
Siegel des Berufsgeheimnisses eines
Geistlichen versichern musste, niemandem
davon etwas zu sagen. Da weder die EMRK
noch die Verfahrensordnung des
Gerichtshofes sich darüber
äussern, was mit einer Beschwerde
geschieht, deren Urheber nicht mehr lebt,
ist das Schicksal dieser Beschwerde zum
gegenwärtigen Zeitpunkt offen.
«Strassburg» hat im Fall Tyrer
gegen das Vereinigte Königreich dessen
Rückzug der Beschwerde (die sich gegen
die Anwendung der Prügelstrafe auf der
Isle of Man richtete) nicht zum Anlass
genommen, das Verfahren einzustellen. Es
führte den Fall wegen der
grundsätzlichen Bedeutung ohne
Beteiligung des Beschwerdeführers
weiter und verurteilte in der Folge
Grossbritannien. Dies lässt darauf
schliessen, dass in Strassburger
Fällen der Gerichtshof und nicht der
Beschwerdeführer Herr des Verfahrens
ist. In der Folge erneuerte die Londoner
Regierung während zwölf Jahren
die Unterstellung des Gebietes der Isle of
Man unter die Gerichtsbarkeit des EGMR
nicht mehr.
[42]
Im Urteil des EGMR
31322/07
vom 20. Januar 2011 (Haas gegen Schweiz),
Rn. 51.
[43]
Einfache Anfrage Andreas Gross (01.1105): Suizide und Suizidversuche. Zahlen.
[44]
Im Urteil des EGMR
6694/74
vom 13. Mai 1980 (Artico gegen Italien) hat
der Gerichtshof in Abschnitt 33
festgehalten, «The Court recalls that
the Convention is intended to guarantee not
rights that are theoretical or illusory but
rights that are practical and effective...» und aus dieser Überlegung
positive Pflichten für Staaten
abgeleitet, wenn der konkrete Rechtszustand
zur Folge hätte, dass Rechte und
Freiheiten bloss theoretisch oder gar
illusorisch bleiben.
[45]
Gemeint ist dabei selbstverständlich
stets ein Suizid, der bei vernünftiger
Betrachtung als gerechtfertigt erscheinen
kann.
[49]
Vgl. dazu den Fall Schuler-Zgraggen gegen
die Schweiz, Urteil vom 24. Juni 1993, wo
die Unterscheidung zwischen der
Invalidität einer berufstätigen
Frau und jener einer Frau, die mit kleinem
Kind den Haushalt führt, zu einer
Verurteilung wegen
Geschlechterdiskriminierung geführt
hat: Einem Mann gegenüber wäre
eine derartige Argumentation nicht
geäussert worden.
[50]
Der Beitritt zu einem grundlegenden
völkerrechtlichen Vertrag, welcher
Menschenrechte und Grundfreiheiten
schützt, macht es erforderlich, auch
bei den Behörden ein entsprechendes
Sensorium für
Konfliktmöglichkeiten zu entwickeln
und vorausschauend zu prüfen, wie
durch entsprechende Änderung der
Gesetzgebung das Risiko einer Verletzung
vermindert werden kann. Dazu ist vielleicht
auch von Interesse, dass der Bundesrat vor
dem Beitritt der Schweiz zur EMRK
Botschafter Emanuel Diez beauftragt hatte,
das Bundesrecht und die kantonalen Rechte
auf denkbare Konfliktpotentiale zu
untersuchen. Es wird berichtet, Diez sei
nach kurzer Zeit an den Bundesrat gelangt
und habe mitgeteilt, die Aufgabe sei nicht
zu bewältigen; man müsse die
Risiken in Kauf nehmen (seinerzeitige
persönliche Mitteilung von alt
Nationalrat Ernst Bieri (FDP, ZH) an den
Verfasser).
[51]
European Commission of Human Rights,
Decisions and Reports (DR), Band 6, S.
170-181 (Zulässigkeitsentscheidung vom
11. Dezember 1976); Band 15, S. 35-69. Die
Menschenrechtskommission schloss mit
zwölf gegen zwei Stimmen auf eine
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK. Da
damals weder die Schweiz noch die
Kommission den Gerichtshof anriefen, hatte
das Ministerkomitee des Europarates
definitiv zu entscheiden. Da es der erste
Fall gegen die Schweiz war, und nachdem der
Bundesrat zu verstehen gegeben hatte, dass
er das Gesetz ändern wolle, traf das
Ministerkomitee jedoch keine Entscheidung;
weder für eine Verurteilung noch
für eine Abweisung der Beschwerde
erzielte es eine damals noch notwendige
Zweidrittelsmehrheit. Erst nachdem das
Ministerkomitee darauf folgende Schweizer
Beschwerden, ebenfalls wegen
Militärhaarschnitts, zu entscheiden
hatte (Santschi und andere, DR 31, S. 5-49)
stellte das Ministerkomitee fest, die
Schweiz habe Art. 5 EMRK verletzt und
sprach den dortigen Beschwerdeführern
Entschädigungen zu. Herbert Eggs
erkämpfte sich im Anschluss daran
mittels einer neuen Beschwerde und im
Rahmen einer dann vom nachmaligen
Präsidenten der Kommission, Stefan
Trechsel, vermittelten Gütlichen
Einigung eine analoge Entschädigung,
obwohl es an einem verurteilenden
Erkenntnis gefehlt hatte.
[52]
Faust. Erster Theil, Goethes Werke
Herausgegeben im Auftrage der Grossherzogin
Sophie von Sachsen, I. Abtheilung,
14. Band, Weimar 1887; Nachdruck DTV 1987;
Zeilen 1972-1979; erstmals
veröffentlicht 1808.
[53]
Die Schweiz ist vor wenigen Wochen im
britischen Oberhaus im Rahmen einer Debatte
um einen von Lord Falconer eingereichten
Gesetzesentwurf zur Ermöglichung von
Suizidbeihilfe von Lord Joffe als
«arguably the most conservative
country in Europe» («das wohl
konservativste Land in Europa»)
bezeichnet worden. Siehe Hansard, House of
Lords, 18 July 2014: Column 789.
[54]
Geschichtliche Fälle solcher Barbarei
sind etwa die Haltung der Schweiz
gegenüber fliehenden deutschen Juden,
die an der Grenze abgewiesen worden sind,
oder die Fälle jener administrativ
Versorgter und Verdingkinder in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts; beides
schlimme politische Auswüchse, die
erst Jahrzehnte später als das erkannt
worden sind, was sie waren. Die EMRK kann
uns dank der Rechtsprechung des EGMR vor
solchen Entgleisungen in der Gegenwart
bewahren.