Warum «Twitter» kein Medium im Sinne des Strafrechts ist
Matthias Schwaibold
Ein Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich sprach einen
Angeklagten vom Vorwurf der Ehrverletzung frei, weil die blosse
Weiterverbreitung eines «Tweets» - also der
«Retweet» - der Bestimmung von Art. 28 StGB unterfalle.
Der nachfolgende Beitrag unterzieht die Anwendung des
Medienprivilegs aufs Twitter einer kritischen Prüfung.
Zitiervorschlag: Matthias Schwaibold, Warum «Twitter» kein
Medium im Sinne des Strafrechts ist, in: sui-generis 2017, S.
113
URL: sui-generis.ch/39
DOI:
https://doi.org/10.21257/sg.39
I. Einleitung
Spätestens seitdem der derzeitige amerikanische Präsident zeigt,
dass man statt mit einer Mannschaft von kompetenten Leuten genauso gut via
«Twitter» regieren kann, hat sich das «soziale
Netzwerk» endgültig als kommunikativer Faktor in der
gegenwärtigen Medienwelt etabliert. Es dürfte heute kaum noch
wichtige Politiker im In- und im Ausland geben, die nicht einen
«Twitter Account» haben und über diesen Wähler und
Nichtwähler zu erreichen suchen oder sich Gehör verschaffen. Die
Reduktion der Komplexität auf 140 Zeichen wird schwerlich dazu
beitragen, dass das Weltbild von «Twitterern» und
«Followern» sich durch übermässige Differenziertheit
auszeichnen wird - so viel Kulturpessimismus muss in der Einleitung einer
juristischen Abhandlung erlaubt bleiben. Schon lange vor Trumps Wahl - die
so wenig wie seine Politik Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen
ist - hatte das Bezirksgericht Zürich (Einzelrichter) wegen eines
«Tweets» (genauer: eines «Retweets») ein
bemerkenswertes Strafurteil gefällt; obwohl nicht rechtskräftig,
wurde es in den «Blättern für Zürcherische
Rechtsprechung» publiziert[1].
Relativ schnell hat Peter Studer darauf in einer kurzen Besprechung
hingewiesen, erst vor kurzem erschien eine eingehende und durchaus
kritische Würdigung durch Christian Schwarzenegger[2].
Worum ging es im Ausgangsfall? Y, der im weiteren Verfahren im Gegensatz zu
X unbekannt und unbehelligt blieb, verfasste einen Tweet über Z,
wobei lediglich die dem Z dabei zugedachte Namensgebung in der Folge eine
Rolle spielt und auf die ich erst am Schluss zu sprechen komme. X erhielt
als «Follower» des Y diesen Tweet und verbreitete ihn
seinerseits kommentarlos als «Retweet». Z stellte Strafantrag
gegen X wegen Ehrverletzung. Nach einem hier nicht näher
interessierenden Zwischenspiel zum Thema Wahrung der Antragsfrist erhob
die Staatsanwaltschaft Anklage, offenbar wegen übler Nachrede und
Verleumdung. Das Einzelgericht sprach X vom Vorwurf der üblen
Nachrede frei. Allerdings ordnete es gestützt auf Art. 28 ff. ZGB an,
dass X in einem Tweet zu berichten habe, dass die
streitgegenständliche Äusserung zwar nicht strafbar, aber
persönlichkeitsverletzend sei.
Bevor das Zürcher Obergericht über das vom Privatkläger und
der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel entscheiden konnte,
schlossen die Parteien allerdings einen Vergleich; der beinhaltete auch
den Rückzug des Strafantrags und führte damit zum Wegfall des
angefochtenen, erstinstanzlichen Urteils[3]. Dieses ist sozusagen nur noch als literarisches Produkt
vorhanden, aber strafrechtlich inexistent. Das soll nicht hindern, die
strafrechtlichen Überlegungen, die zum Freispruch des Angeklagten
führten, kritisch zu hinterfragen, zumal angesichts der vorstehend
erwähnten Bedeutung, die «Twitter» erlangt hat, es auf der
Hand liegt, dass der nächste Straffall mit einer vergleichbaren
Konstellation nicht jahrelang auf sich warten lassen wird[4]. Aber in einem solchen Verfahren wird man als Richter sich nach
Meinung des Verfassers (früher selbst nebenamtlicher Richter)
jedenfalls eine andere Begründung für einen Freispruch suchen
müssen: So erfrischend, modern, ja unorthodox der Zugriff des
Zürcher Einzelrichters auf das Medium «Twitter» erfolgte,
so falsch ist ihm die Subsumption geraten.
II. Entstehungsgeschichte
von Art. 28 StGB
Es gibt keine Legaldefinition der Medien in Art. 28 StGB. Man muss sich
also diesem Begriff annähern, und eine solche Annäherung kann
nicht ohne den Blick auf den Zweck der Regelung, damit wiederum auf ihre
Geschichte erfolgen.
Als das StGB 1942 in Kraft trat, gab es nur gerade zwei Medien: Die
gedruckten (namentlich Zeitungen und Zeitschriften) und das Radio. Film und
Schallplatte waren keine Medien, auf die man im strafrechtlichen
Zusammenhang des - damaligen - Art. 27 StGB gekommen wäre, sowenig
wie damals und seither das Telefon. Zudem war dieser Art. 27 StGB auf
Publikationen, die «durch das Mittel der Druckerpresse»
hergestellt worden waren, beschränkt; er galt also gerade nicht
für das Radio, dafür aber auch für nicht-periodische
Druckerzeugnisse wie Bücher. Daraus folgt: Nicht alles, was wir heute
als «Medien» betrachten, und gerade auch nicht alles, was sicher
schon damals «Medien» waren eben gerade das Radio! ‑,
unterfiel der Sonderregelung, sondern diese war auf eine bestimmte
«Herstellungsart» von Medien beschränkt. Darauf ist
zurückzukommen.
Die Revision zum 1. April 1998[5]
dehnte den Anwendungsbereich des Art. 27 StGB auf «Medien» ganz
allgemein aus; mit dem Abschied von der «Druckerpresse» erfasst
werden sollten damit insbesondere neben dem Radio auch das längst
etablierte Fernsehen, aber auch die elektronischen Medien; allerdings war
auch damals nicht absehbar, was 20 Jahre später alles unter dem - in
jener Zeit gerade bekannt gewordenen - «Internet» segelt.
Klarerweise nicht erfasst vom neuen Medienbegriff war aber weiterhin das
Telefon. Daraus folgt: Nicht alles, was der Kommunikation dient, ist ein
Medium im Sinne des Strafrechts. Weshalb auch die inzwischen vollkommen in
der Normalität angekommene elektronische Individualkommunikation wie
namentlich E-Mail nicht unter den Medienbegriff des einschlägigen
Strafrechtsartikels fällt.
Besonderes Kennzeichen, ja eigentlicher Inhalt der Bestimmung von Art. 27
StGB in der ursprünglichen Fassung von 1937/1942 war eine
Sonderregelung der Strafbarkeit. Haftbar für eine in den - gedruckten
- Medien erfolgende, und sich in der Veröffentlichung
erschöpfende Straftat war allein deren Autor. Nur für den Fall,
dass er unbekannt bliebe oder in der Schweiz nicht vor Gericht gestellt
werden könnte, war an seiner Stelle der Redaktor, der Verleger oder
der Drucker verantwortlich, wobei auch hier noch zwischen periodischen und
nicht-periodischen Publikationen sowie zwischen Artikeln und Anzeigen
unterschieden wurde. Diese Kaskadenhaftung, welche die Bestrafung anderer
anstelle des Autors erlaubte[6],
wurde 1998 durch die ausdrückliche Strafbarkeit der Nichtverhinderung
einer strafbaren Publikation ersetzt[7].
III. Zum
Begriff des Mediums
Für die Anwendung ist also zu fragen, was «Medium» im Sinne
der (zum 1. Januar 2007 lediglich formell[8])
revidierten, heutigen Bestimmung des Art. 28 StGB ist. Dabei kann
«Medium» nicht einfach sein, was heute als Medium bezeichnet
wird: Die sogenannt «sozialen Medien» (eine doch eher misslungene
Verdeutschung der «social media») können jedenfalls nicht
für sich in Anspruch nehmen, voraussetzungslos ein Medium im Sinne
der fraglichen Bestimmung zu sein. Auch der früher allenfalls
brauchbare Begriff der «Massenmedien» kann nicht helfen: Denn
die technische Entwicklung hat die Abgrenzung der Individual- von der
Massenkommunikation weitgehend verwischt. Allerdings kann nicht einfach
jede Kommunikation der Sonderregelung unterfallen kann, weil sie sonst gar
keinen abgrenzbaren Anwendungsbereich hätte, also eine Gleichsetzung
von «Kommunikation» mit «Medium» darf sicher nicht
erfolgen. Ebenso wenig darf man «Veröffentlichung» und
«Medium» gleichsetzen, denn Art. 28 StGB handelt ja von der
«Veröffentlichung in einem Medium», setzt also auch hier
eine Unterscheidung voraus. Für den Medienbegriff muss also zwischen
Verbreitung und Inhalt nach einer Beziehung gesucht werden: Nicht jede an
einen unbestimmten (oder zwar bestimmten, aber zahlenmässig [sehr]
grossen) Empfängerbereich gerichtete Kommunikation kann Medium sein,
umgekehrt kann die blosse Verbreitungsmöglichkeit durch Dritte nicht
entscheidend sein, weil es nämlich bei der fraglichen Bestimmung
gerade - wenn auch nicht ausschliesslich - um die Strafbarkeit dieser
Dritten geht, mithin um die Frage, ob sie «Täter» oder
«Teilnehmer» sind, also einer Strafdrohung unterfallen, oder eben
nicht. Die Privilegierung bestimmter Dritter hing und hängt also
nicht davon ab, ob sie Verbreiter überhaupt waren, sondern griff und
greift heute noch dann und deshalb, weil sie Verbreiter eines Mediums
waren; Medium, Verbreitung und Strafbarkeit bzw. Ausschluss derselben
stehen in einem durchaus nicht unkomplizierten Verhältnis zueinander.
Soweit ersichtlich, hat sich zuletzt Christian Schwarzenegger in zwei
Aufsätzen mit der durch die technische Entwicklung
unvermeidlicherweise aufgeworfenen Frage befasst, was Medium im Sinne des
Strafrechts sei[9].
Seiner Problemanalyse und der beidesmal entschieden vorgetragenen
Feststellung, dass Rechtsunsicherheit herrscht und gesetzgeberischer
Handlungsbedarf besteht, ist vorbehaltlos zuzustimmen. Während in
seinem ersten Artikel «Twitter» nicht vorkommt, ist der zweite
ganz ausdrücklich diesem Thema gewidmet.
IV. Auslegung
von Art. 28 StGB
Die Annäherung an den Begriff des Mediums in Art. 28 StGB kann bzw.
muss von drei Seiten her erfolgen:
Zum einen mit Blick auf den Quellenschutz des Art. 28a StGB, der auf
«periodisch erscheinende Medien» eingeschränkt ist. Davon
ausgehend, dass das Wort «Medien» eine halbwegs deckungsgleiche
Bedeutung in beiden Bestimmungen hat, erlaubt der engere des Art. 28a
jedenfalls einen ersten Zugriff auf den weiteren des Art. 28 StGB. Auch
für das Bundesgericht stehen die Art. 28 und 28a StGB zumindest in
einem Zusammenhang[10],
für Stéphane Werly sind sie sogar «intimement
liés»[11].
Der Begriff des «periodisch erscheinenden Mediums» ist auch
strafrechtlich deckungsgleich mit dem zivilrechtlichen, also demjenigen
des Gegendarstellungsrechts (Art. 28g ff. ZGB), und der zivilprozessualen
(Art. 266 ZPO). Wesentliche Elemente des «periodisch erscheinenden
Medium» sind neben seiner «Periodizität» - also der in
einigermassen geordneten Zeitintervallen erfolgenden Verbreitung - die
redaktionelle Bearbeitung bzw. Aufbereitung der Inhalte und der relativ
gleiche Empfängerkreis. Betont man den Prozess der Bearbeitung und
vernachlässigt man den Gesichtspunkt der Arbeitsteilung, dann ist auch
die von einem «Alleinredaktor» regelmässig publizierte
Postille ein solches «periodisch erscheinendes Medium» -
hingegen macht die blosse, auch regelmässige, gar
tägliche/stündliche Absonderung von Meinungen zu irgendetwas oder
über irgendwen deren Gesamtheit nicht[12]
zu einem «Medium» und die Veröffentlichung nicht zu einem
«fortgesetzten Kontakt mit dem Publikum»[13].
Von dort hergesehen, fällt es schwer einzusehen, dass das
«Medium» des Art. 28 StGB etwas vollkommen anderes als das
«periodisch erscheinende Medium» des Art. 28a StGB sein soll.
Gewiss schränkt das Merkmal der «Periodizität» den
Anwendungsbereich des Art. 28a StGB klar ein - umgekehrt wäre es wohl
verkehrt, einfach alles, was nicht «periodisch» ist, bloss
deshalb schlechthin als Medium gelten lassen zu wollen. Anders herum: Der
Medienbegriff des Art. 28 StGB muss sich am Medienbegriff des Art. 28a StGB
orientieren.
Die zweite Annäherung kommt vom Zweck der Bestimmung des Art. 28 StGB
her: Es ging darum, mit der Beschränkung der Strafbarkeit auf den
Autor einen Beitrag zur freien Meinungsbildung zu leisten. Medienfreiheit
war - historisch gesehen - eben zuerst einmal Pressefreiheit; die
«Pressfreiheit» des Art. 55 der alten Bundesverfassung von 1874
und «das Mittel der Druckerpresse» des Art. 27 StGB in seiner
ersten Fassung von 1937/42 waren eben wesensverwandt[14].
Modern verstandene Pressefreiheit ist zwar «Medienfreiheit», kann
aber nicht unbesehen die erhebliche Erweiterung auf alles, was man heute in
der Alltagssprache als «Medien» bezeichnet, zur Folge haben.
Denn die Medien- und Meinungsfreiheit ist nach völlig herrschender
Auffassung nicht einfach «unbeschränkt», sie
unterfällt vielmehr den vielfältigen Schranken der Rechtsordnung
(namentlich Persönlichkeitsschutz, Strafrecht, Wettbewerbsrecht,
Datenschutz, um nur einige Bereiche zu nennen). Auch der blosse Umstand,
dass die moderne Technik viele verschiedene «Medien»
hervorgebracht hat, erlaubt nicht, vom Medium einfach auf die
Anwendbarkeit des Art. 28 StGB zu schliessen: Vom Schnurtelefonapparat,
der unsere Sprache über Kupferleitung übermittelte, und anderen
Formen analoger Übertragung sind wir schon wieder weg, vielmehr bei
digitaler Telefonie, beim Smartphone, WLAN angekommen und allem weiteren,
was das «Internet» uns sonst noch alles beschert hat, inklusive
seiner eigenen Kinder, wie «Apps». Unter dem Stichwort
«Konvergenz» haben sich einst rechtlich und technisch
entscheidende Unterschiede in der Informationsübertragung
aufgelöst. Also kann auch die Technik allein nicht mehr das
entscheidende Kriterium sein. Das Medium muss, um eines zu sein und der
Sonderregelung zu unterfallen, der Meinungsfreiheit und Meinungsbildung
seiner Empfänger dienen[15],
es kann sich deshalb auch nicht in der blossen Freiheit des
Absenders/Verfassers erschöpfen[16].
Führen wir uns schliesslich eine dritte Überlegung vor Augen:
Wenn A am Stammtisch einen Dritten beleidigt, ist er im Rahmen der
einschlägigen Bestimmungen strafbar; wenn B die von A geäusserte
Beleidigung verbreitet, ist er seinerseits strafbar, und das gilt auch
dann, wenn die Verbreitung in einem (periodisch erscheinenden) Medium
erfolgt; daran ändert auch nichts, dass B als Quelle den A angibt und
vielleicht sogar vollkommen korrekt zitiert («keine Flucht ins
Zitat»). Dann ist zu fragen: Soll die über «Twitter»
verbreitete Beleidung anderen Regeln unterfallen als die am Stammtisch
geäusserte? Soll tatsächlich derjenige, der eine über
Twitter verbreitete Beleidigung über Twitter weiterverbreitet, also
der «Retweeter» wie der im vorliegenden Fall Angeklagte X,
gegenüber demjenigen, der sie mündlich verbreitet, anders
behandelt werden? Soll die zuerst am Stammtisch geäusserte
Beleidigung, wenn sie über Twitter weiterverbreitet wird, anders
betrachtet werden als wenn sie mündlich verbreitet wird? Darf es
mithin auf den Verbreitungsweg bzw. Verbreitungskanal ankommen?
V. Zwischenergebnis
Die Frage ist zu verneinen, und damit sei zugleich der Versuch einer - wenn
auch unvollständigen und insbesondere «negativen» -
Umschreibung des Medienbegriffs gemäss Art. 28 StGB unternommen:
Medium ist erstens nur, was der freien Meinungsäusserung dient;
Beleidigungen gehören in aller Regel gerade nicht dazu. Medium ist
weiter, was nicht in erster Linie individuelle Äusserung, sondern
«aufbereitete», also redaktionell-journalistisch bearbeitete
Information ist; dass Journalisten in Zeitungen/
Zeitschriften/Onlinemedien auch subjektive Meinungen
(«Kommentare») verbreiten, ändert nichts daran, dass sie
sich in Ausübung einer (haupt)beruflichen Tätigkeit äussern,
die auf Informationsvermittlung und Meinungsbildung hinzielt. Das
unterscheidet diese Form der Kommunikation von der Individualkommunikation
des (Telefon-) Gesprächs, der E-Mail oder der Skype-Unterhaltung, das
unterscheidet sie aber auch von der Logorrhoe derjenigen, die sich
überall und jederzeit auf irgendwelchen Kanälen zu allem
äussern. Bloss deshalb, weil der (bei üblicher
Individualkommunikation sehr beschränkte) Empfängerkreis
technisch erweitert wird, wird der Verbreitungskanal nicht plötzlich
zum Medium: Nicht inhaltlich, sondern nur technisch unterscheidet sich ein
Tweet von einem Facebook-Posting oder einer sonstigen, individuellen
Verlautbarung. Der Tweet ist nichts anderes als die Mitteilung eines in der
Regel bekannten Absenders an einen (weitgehend) undefinierten und von ihm
auch nicht real beschränkbaren Empfängerkreis. Der Tweet ist als
(spontane oder wohlüberlegte) Kurzmitteilung weder einem Artikel oder
Kommentar gleichzusetzen noch ist Twitter selbst ein redaktionelles
Gefäss, das einen (wie auch immer) Verantwortlichen hätte:
Kennzeichnend ist ja gerade, dass jeder alles verbreiten kann, sofern er
nur ein Twitter-Account hat und sich auf 140 Zeichen beschränkt. Tweet
und Retweet sind also nichts Weiteres als (relativ neue) technische
Verbreitungsmöglichkeiten einer Individualäusserung, aber diese
sind weder im Einzelnen noch insgesamt ein Medium noch können sie
überhaupt zu einem solchen werden; bloss dadurch, dass viele
gleichzeitig Vieles und Verschiedenes einander mitteilen, entsteht kein
Medium. Der grosse Empfängerkreis und die Möglichkeit der
(tendenziell unbegrenzten) Verbreitung macht es auch nicht zu einem
Massenmedium im Sinne des Art. 28 StGB, sowenig wie es Facebook,
Instagram oder weitere Plattformen bzw. «social media» sind[17].
Aus dem Medienbegriff der lex lata leite ich deshalb auch ab, dass die von
einer (seriösen) Medienunternehmung verbreiteten Tweets dem
Medienstrafrecht unterfallen und es insoweit auch durchaus auf den
Absender bzw. Verfasser ankommt. Hingegen ist meiner Meinung nach im
vorliegenden Zusammenhang nicht zu unterscheiden zwischen dem Tweet - also
der Ursprungsmeldung -, dem Retweet - also der Weiterverbreitung durch
einen Empfänger des Tweets (oder Retweets) -, und Twitter als der
technischen Plattform. Sowenig wie das Internet selbst ein Medium ist,[18]
sowenig kann Twitter eines sein.
Denn Twitter ist nur, aber immerhin ein technischer Verbreitungskanal
für Mitteilungen an eine - wie auch immer beschränkte oder gar
unbeschränkte - Öffentlichkeit, aber deshalb kein Medium im Sinne
des Art. 28 StGB, selbstredend erst recht keines im Sinne von Art. 28a
StGB. Der Medienbegriff darf gemäss Zeller nicht durch die Erfassung
von Formen direkter Kommunikation «strapaziert» werden[19];
ich meine sogar, dass er als ein Gegenbegriff zu direkter Kommunikation
verstanden werden muss und man sich bei der Unterscheidung weiterhin an
alle dem orientieren kann, was man früher - in einer insoweit
bezüglich «Medienvielfalt» viel ärmeren Zeit - mit der
gedruckten Presse verbunden hat[20].
VI. Erwägungen
des Bezirksgerichts
Die vorstehenden Überlegungen sind denjenigen im Urteil
gegenüberzustellen, das zum Schluss kam, Twitter sei ein Medium im
Sinne des Art. 28 StGB. Dabei fällt auf, dass zwar praktisch alle der
richterlichen Argumente sich in irgendeiner Form in der massgebenden
Kommentierung von Franz Zeller im Basler Kommentar zu Art. 28 StGB finden[21],
aber damit ist noch nicht entschieden, dass die Subsumption gelungen ist.
Ad Erw. 4.2.1.: Es ist richtig, dass die Gesetzesrevisionen weg von der
«Druckerpresse» hin zu Radio und Fernsehen führten, aber
nicht auf diese beiden beschränkt waren. Ist bloss deshalb der
Medienbegriff unbeschränkt, weil er viele neue Phänomene umfasst?
Sicher ist er schon deshalb einzuschränken, weil er
Begrenzungsfunktionen hat, weil er sonst nicht geeignet wäre, die
Ausnahme von den allgemeinen Bestimmungen über die Teilnahme
überhaupt zu bewirken.
Ad Erw. 4.2.2.: Das Gericht erwähnt zutreffend die Praxis zur
(ursprünglichen) Bestimmung des Art. 27 StGB: Die Kaskadenhaftung
führte nicht zu einer Ausdehnung der Strafbarkeit auf jedermann,
sondern war auf die nach bzw. «hinter» dem Autor an dessen Stelle
im Gesetz benannten Personen beschränkt. Die Kaskadenhaftung bezog
sich aber nicht auf die Phase vor der Publikation, sondern erst auf die
nach erfolgter Publikation. Und schliesslich hatte man in
grosszügiger Erweiterung der im Gesetz genannten
«Druckerpresse» auch die Matrize und die Schreibmaschine als
«Herstellungsmedium» gelten lassen, solange es darum ging, einen
Text herzustellen, zu vervielfältigen und zu verbreiten und sich das
strafrechtliche Problem darin erschöpfte. Aber auch mit einer solchen
in der Vergangenheit erfolgten Erweiterung ist nicht gesagt, dass heute
einfach jede Herstellungs- und Verbreitungsart der Sonderbestimmung
unterfällt. Es kommt ja weiterhin nicht allein auf die
«Verbreitung» an, sondern dass diese in einem «Medium»
erfolgt; das verbietet, wie erwähnt, eine Gleichsetzung und verlangt
vielmehr eine Unterscheidung. Deshalb ist aus dem vom Einzelgericht weiter
erwähnten «Plakatentscheid»[22]
nichts für den Medienbegriff abzuleiten: Das Plakat enthielt die
ehrverletzende Mitteilung an die Öffentlichkeit, so dass es keine
Verkennung der Sonderregelung darstellte, die Plakatkleber als blosse
Verbreiter freizusprechen, hingegen diejenigen, die für den Inhalt
verantwortlich waren, zu bestrafen. Wie das Bundesgericht ausführte,
ging es auch im revidierten Recht darum, einen Verantwortlichen «au
sein de l'entreprise de média» für verantwortlich zu
erklären (a.a.O. S. 67 Erw. 5 e.) - was erneut belegt, dass als Medium
eben ein Unternehmen, eine Organisation verstanden wird und damit nicht
der blosse Verbreitungsweg gemeint sein kann. Für den Medienbegriff
kommt es deshalb auch auf den Absender/Verfasser an, was den Tweet des
quivis ex populo von demjenigen einer seriösen Zeitung bzw.
Medienunternehmung unterscheidet. Die «chaîne de production et
de diffusion», innerhalb derer gemäss Art. 28 StGB die
Strafbarkeit eingeschränkt ist, ausserhalb derer sie aber gegeben sein
kann, setzt ausserdem ihre eigene Existenz voraus: Wo Produktion und
Verbreitung nicht mehr auseinanderfallen, wo es an einem
«pressemässigen Mitwirken» (so die S. 67/68 vom
Bundesgericht zitierte Meinung von Hans Schulz von 1982) fehlt, ist auch
nicht zu sehen, warum die Sonderregelung gelten sollte.
Ad Erw. 4.2.3.: Das Urteil sagt richtigerweise, dass das Weiterverbreiten
ehrenrühriger Meldungen ein eigenständiges Delikt ist (eben
selbst Ehrverletzung). Die Ausnahmeregelung des Art. 28 StGB gilt nun aber
nicht für jede Verbreitung, sondern eben nur die Verbreitung
innerhalb der für das Medium typischen Verbreitungskette. Dabei
verkennt das Gericht - durchaus vom Bundesgericht in die Irre geleitet
‑, dass nicht, jedenfalls nicht zwingend, von einer
«Verbreitungskette» auf die Existenz eines Mediums geschlossen
werden kann: Denn das ehrenrührige Plakat ist nicht deshalb ein
«Medium», weil es tatsächlich verteilt und geklebt wurde,
sondern weil es der physische Träger einer gedruckten politischen
Botschaft war; für das Plakat typisch ist aber, dass es geklebt werden
muss, und zwar an möglichst vielen verschiedenen Stellen, denn als
blosser Papierstapel in einem Keller kann es seine Wirkung nicht erzielen,
aber spätestens mit dem Ankleben am ersten Laternenpfahl. Ebenso ist
das Buch nicht deshalb Medium, weil es früher über
Buchhandlungen vertrieben wurde (heute zunehmend über die Verlage
selbst bzw. über teils weltweit agierende Verteilunternehmen wie
«Amazon»). Erst vom Medium her ist vielmehr die typische
Verbreitungskette zu beurteilen - die dazu führt, dass der
Plakatkleber so wenig wie der Buchhändler strafrechtlich haftet, was
aber im Umkehrschluss auch sagt, dass der Verbreiter ausserhalb der
typischen Verbreitungskette strafrechtlich haftet, wie sowohl das
Bundesgericht wie das Bezirksgericht erkennen. Mit andern Worten setzt die
Beurteilung der Verbreitungskette voraus, dass es sich bei der in Frage
stehenden Publikation um ein Medium handelt, man kann also gerade nicht
aus der blossen Existenz einer Verbreitungskette auf den Mediencharakter
schliessen.
Ad Erw. 4.3.: In dieser - zentralen - Erwägung gelang der
Einzelrichter zum Schluss, Twitter sei ein Medium. Die Argumentationskette
hält einer kritischen Überprüfung nicht stand, jedenfalls
nicht im Lichte der vorstehend angestellten Überlegungen.
Ad Erw. 4.3.1.: So ist die Bezeichnung als «social media» auf
Deutsch oder Englisch gerade kein ausreichender Umstand: Aus dem
Sprachgebrauch ableiten zu wollen, dass Veröffentlichungen auf Twitter
dem Art. 28 StGB unterfallen, ist eine sowohl strafrechtlich wie
sprachtheoretisch unzulässige Ableitung. Denn das
esoterischspiritistische «Medium» ist sicher keines, das dem
Art. 28 StGB unterfällt, sowenig wie blosse
«Speichermedien». Und auch die - im Urteil nicht weiter
vertiefte - alltagstypische Umschreibung von Twitter als eines
«Kurznachrichtendienstes» hilft nicht, denn weder die
Wortbestandteile «Kurznachricht» noch gar
«Nachrichtendienst» erlauben den Schluss, es handle sich bei
Twitter um ein Medium: Auch die SMS- bzw. WhatsApp-Meldungen sind
Kurznachrichten.
Ad Erw. 4.3.2.: Zurecht weist der Einzelrichter darauf hin, dass es
Twitter noch gar nicht gab, als die massgebliche Revision des Art. 28 StGB
verabschiedet wurde, und der Gesetzgeber damals vor allem an Radio und
Fernsehen dachte. Dass der zum Gesetz gewordene Text nicht
ausdrücklich auf Radio und Fernsehen Bezug nahm, sondern das - nach
Ansicht des Gerichts «farblose» und «umfassende»
‑ Wort «Medium», hilft allerdings auch nicht weiter: Aus
der Absicht, seither wieder untergegangene (Teletext und Videotex) und
damals wie heute noch unbekannte Medien der Regelung in gleicher Weise wie
die bekannten Medien unterstellen zu können, ohne das Gesetz
ändern zu müssen (strafrechtliches Legalitätsprinzip!),
folgt nämlich nicht einfach, dass Twitter ein Medium sei. Schon gar
nicht kann die Entstehungsgeschichte «eher» dafür sprechen,
dass es eines sei als keines: Was zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes
noch gar nicht existierte, kann aus logischen Gründen nicht mit Hilfe
der «Entstehungsgeschichte» einer Norm beurteilt werden.
Ad Erw. 4.3.3.: Das Gericht erwägt zutreffend den
gesetzeshistorischen Zusammenhang zwischen der Regelung des Art. 28 in der
neuen Fassung und dem Quellenschutz des Art. 28a StGB. Das stärkt die
vorstehend unter 4.1. vorgetragene Ansicht, dass man die beiden
Bestimmungen, genauer den «Medienbegriff» nicht völlig
unabhängig voneinander sehen darf.
Unbegründet ist hingegen die weitere Behauptung, ein «Blog»
auf einer Website sei mit Twitter vergleichbar: Worin genau die relevante
«Gleichheit» oder die «Vergleichbarkeit» besteht,
erklärt das Gericht nämlich nicht, die Behauptung erfolgt
apodiktisch und hat keinen logischen Zusammenhang mit dem vom Gericht zuvor
erwähnten BGE 136 IV 145. Es mag solche eine Vergleichbarkeit oder gar
eine Gleichsetzung erlaubenden Elemente geben - aber sie werden nicht
ausgeführt, und sie würden auch nichts daran ändern, dass
aus anderen Gründen Twitter kein Medium im Sinne des Art. 28 StGB ist.
Das Bundesgericht beurteilte im genannten BGE 136 IV 145, S. 150, Erw. 3
Sätze 1 und 2, nämlich das Schweizer Fernsehen als periodisch
erscheinendes Medium und entschied über den Quellenschutz, nicht aber
über die Frage, ob ein Blog-Beitrag seinerseits ein Medium sei. Dies
bestätigt nebenbei die oben wiederholt zum Ausdruck gebrachte
Auffassung, dass es sehr wohl auf den Absender ankommt, wenn man die Frage
nach der Medieneigenschaft zu beantworten hat.
Ad Erw. 4.3.4.: Ebenso unbehelflich ist es, die ratio legis des Art. 28
StGB zu bemühen: Gewiss dient die Beschränkung der Strafbarkeit
dem freien Meinungsaustausch - doch damit ist nichts für die Frage
gewonnen, ob Twitter ein Medium sei. Denn auch das Telefon und die E-Mail
bzw. deren (Geheimnis-) Schutz dienen der Meinungsfreiheit, ohne dass
deshalb jede Äusserung über E-Mail oder Telefon straflos
wäre. Dass sich der in Frage stehende Tweet auf eine politische
Angelegenheit bezog, hat auch nichts damit zu tun, dass deshalb Twitter ein
Medium sein müsse: Wie das Gericht erkennt, können über
Twitter auch apolitische Banalitäten ausgetauscht werden, also darf
man gerade nicht vom konkreten Inhalt des prozessgegenständlichen
Tweets auf den Charakter von Twitter als Medium schliessen. Daran
ändert schliesslich auch nichts der Hinweis auf die - traurige -
politische Realität Chinas, das Twitter weitestgehend
unterdrückt: Die Meinungsfreiheit ist in China auch sonst praktisch
inexistent, sowenig wie man ernsthaft behaupten kann, das politische System
Chinas entspreche hiesigen Vorstellungen von Demokratie. Twitter ist nicht
deshalb ein Medium, weil es autokratische Systeme stört. Deren
Kennzeichen ist ohnehin, die Kommunikation über Internet entweder zu
unterbinden oder durch allerlei Zensurmassnahmen einzuschränken, was
bekanntlich schon manch einem, der sich unvorsichtigerweise über
Facebook zu religiösen Fragen in orthodox-islamischen Staaten
äusserte, zum Verhängnis wurde.
Ad Erw. 4.3.5.: Das Gericht wendet sich anschliessend den
Missbrauchsgefahren zu, die es richtig sieht. Allerdings ist auch das nur
ein Scheinargument: Jedes Medium kann missbraucht werden, die E-Mail
gleich wie Radio und Fernsehen oder die Zeitung oder das Telefon oder ein
Blog oder eine nur im Internet erscheinende Online-Zeitung. Die vom
Einzelrichter zurecht erkannte Problematik, dass sich der Urheber einer
Beleidigung hinter einem zuvor selbst produzierten Tweet straflos
verstecken könne, wenn der Retweet - wie er meint - straflos sein
müsse, ist doch völlig belanglos, wenn es um die Frage geht, ob
Twitter ein Medium ist: Diese Frage ist doch zuerst zu beantworten, aber
lässt sich so wenig wie in anderen Zusammenhängen erst über
die Frage eines möglichen Missbrauchs beantworten. Und mit der
richtigen Subsumption - dass Twitter eben gerade kein Medium ist -
hätte sich auch die Frage nach dem Missbrauch erledigt.
Ad Erw. 4.3.6.: Schliesslich hängt die Frage, ob Twitter ein Medium
sei, sicher nicht davon ab, dass es zivilrechtliche Schutzansprüche
auch dort gibt, wo strafrechtliche fehlen: Dass der Retweeter nach der lex
lata zivilrechtlich haftet, trägt gerade nichts zur allein zu
entscheidenden Frage bei, ob Twitter ein Medium sei, denn auch die
straflose Ehrverletzung (Entlastungsbeweis!) am Stammtisch schützt den
Beleidiger zivil-rechtlich nicht, sowenig wie es darauf ankommen kann, ob
zivilrechtliche Sanktionen als mindestens so wirksam erscheinen wie
strafrechtliche: Dieser Gedanke kann in seiner völligen Abstraktheit
niemals ein Argument dafür sein, Twitter als Medium zu erkennen oder
gerade nicht. Die Existenz zivilrechtlicher Sanktionsmöglichkeiten
ist nämlich schlicht kein Argument dafür, wenn es darum geht,
einen Begriff des Strafrechts auszulegen oder - genauer - darüber zu
entscheiden, ob ein bestimmtes Phänomen einer ganz bestimmten
Regelung unterfalle oder nicht[23].
Ad Erw. 4.3.7.: «Die Auslegung von Art. 28 StGB muss dazu führen,
Twitter als Medium anzuerkennen.» So klar die Aussage des Zürcher
Einzelgerichts ist, und so sehr sie sich als Folge der Erw. 4.3.1. ff.
ergibt, so falsch ist sie. Denn erstens einmal wird im Urteil nicht etwa
der Art. 28 StGB «ausgelegt», sondern es wird überlegt, ob
Twitter jetzt ein Medium sei und warum; es wird also - um es salopp zu
sagen - Twitter ausgelegt und nicht die Norm, um deren Anwendung es geht.
Selbst wenn man hier dem Verfasser mit rechtstheoretischen und anderen
Argumenten widersprechen könnte, bliebe nach dessen Auffassung das
Hauptmerkmal von Twitter unberücksichtigt, auf das es vorliegend
allein ankommt.
VII. Massenkommunikation
= Massenmedium?
«Unsere Mission: Es jedem zu ermöglichen, Ideen und
Informationen sofort und ohne Barrieren zu erstellen und zu teilen.»[24]
Dieselbe Quelle sagt, dass es 328 Mio. aktive Nutzer im Monat gibt und 1
Milliarde täglicher Besuche von Websites mit eingebetteten Tweets. Die
Zahlen sind schon über ein Jahr alt, wird ergänzt. Solche
Selbstbeschreibung kann helfen, rechtliche Fragen zu entscheiden.
Niemand kann alle Tweets, die täglich versendet werden, bei sich
technisch erfassen und schon gar nicht geistig verarbeiten: Es sind
Hunderttausende, vielleicht sogar Abermillionen Tweets, die täglich
herumgeschickt werden. Und nicht jeder, der ein Twitter-Account hat,
bekommt alle Tweets aller anderen von Millionen Twitterern, sowenig wie er
seine Tweets oder Retweets an alle andern schickt, sondern eben nur an
seine «Follower»[25].
Dass technisch gesehen möglicherweise alle Tweets über Internet
für jedermann abrufbar sind, soweit man über einen
Internet-Anschluss verfügt und auch ohne dass man einen
Twitter-Account hat, macht das Problem nur noch offensichtlicher. Hier
liegt eine unendliche Masse von Information vor, die aber in allen ihren
Abermillionen Einzelteilen doch immer nur dasselbe sind: Einzelne
Äusserungen eines Einzelnen zu irgendetwas. Wie das Gericht unter Erw.
4.5.1. festhält, besteht das Geschäftsmodell von Twitter darin,
dass Nutzer Kurznachrichten weiterverbreiten - man müsste genauer
sagen: verbreiten oder weiterverbreiten, wenn man korrekterweise den Tweet
als blosse (Erst-) Verbreitung und den Retweet als Weiterverbreitung
versteht. Es sind also die Nutzer, die etwas verbreiten. Es ist nicht
Twitter als Unternehmen, es sind auch nicht näher bestimmte
Teil-Einheiten von Twitter, sondern Twitter stellt nur die Plattform, von
mir aus die «Technik» zur Verfügung, auf der eine nur
mathematisch endliche, sozial gesehen aber unendliche Vielzahl von
Menschen eine ebenso unendliche Vielzahl von Meldungen verbreitet. Niemand
trifft eine Auswahl, niemand kontrolliert - soweit ersichtlich - vor der
Verbreitung eine Meldung. Dass eventuell nachträglich bestimmte
Meldungen technisch gesperrt werden («hate speech» als Stichwort)
oder die Verwendung bestimmter Stichworte möglicherweise zur
Auslösung (vielleicht sogar automatisierter) Kontrollmechanismen
führt, belegt ja geradezu das Fehlen einer präventiven
Kontrolle[26].
Auf Existenz und Wirksamkeit solcher «Nachzensur» kommt es
allerdings auch nicht an: Twitter dient nicht der Verbreitung von
Meldungen des Betreibers, sondern denen seiner Nutzer. Es ist massenhafte
Individualkommunikation: Jemand teilt sich einer tatsächlich
beschränkten, wenn auch technisch unbeschränkten Vielzahl von
Menschen mit, die das, was sie erhalten, ihrerseits weiterleiten
können oder auch nicht. Auch darüber bestimmt nicht Twitter,
sondern allein der individuelle Nutzer: Keiner muss einen Tweet lesen,
keiner muss ihn retweeten, keiner muss einen Retweet lesen - aber jeder
kann es tun oder auch lassen. Da das allerdings auch für alle anderen,
insbesondere die klassischen Medien gilt, kann daraus, dass man ihre
Inhalte konsumieren oder ignorieren kann, nichts für den
Medienbegriff abgeleitet werden. Dieser erschliesst sich vielmehr nur mit
dem Blick auf den Absender, und der kann bei Twitter neben Abermillionen
unverbundener Einzelpersonen durchaus auch ein Medienunternehmen sein.
Bei Twitter (verstanden als Verbreitungskanal) fehlt es am konstitutiven
Element eines Mediums im Sinne des Strafrechts: Der klaren
Beschränkung derer, die etwas verbreiten, und der gezielten,
inhaltlichen Aufbereitung vor Verbreitung (so marginal die sein mag). Ein
Medium ist zwar auch, wenn man so will, Einweg-Kommunikation, aber sie
erfolgt geordnet, organisiert, strukturiert und letztlich auch rechtlich
verantwortet von einem Medienunternehmen (und sei es eine natürliche
Person). Eine Publikation, bei der jeder mitmachen kann, ohne dass jemand
darüber die Herrschaft hätte, was er wie und wann macht, ist
keine Publikation mehr im Sinne des strafrechtlichen Medienbegriffs. Man
muss, so altmodisch das erscheinen mag, aus der historischen Perspektive
denken: Die Zeitung/Zeitschrift, ob gedruckt oder online, hat eine
Redaktion, eine Organisation, ein (verantwortliches) Medienunternehmen;
das ist bei der Einmann-Redaktion eines Wochenblättchens nicht anders
als bei der selbstverwalteten Links-Grün-Alternativ-Postille oder der
Sonntagsausgabe einer Zeitung aus einem Grosskonzern. Sie alle verbreiten
eigene Inhalte, auch wenn sie Inhalte Dritter übernehmen, ja selbst
nur aus (legal oder illegal) übernommenen Drittinhalten
bestünden, und deshalb unterfallen ihre Tweets auch dem Medienbegriff
bzw. -privileg des Art. 28 StGB. Radio und Fernsehen, auch das inhaltlich
seichteste Lokalradio, hat eine Organisation und sendet selbst, gestaltet
sein Programm, gibt sich eine wie auch immer zu bewertende Identität;
auch die Tweets solcher Absender unterfallen dem Medienstrafrecht. Die
Zeitung besteht nicht darin, dass ihre Leser den gesamten Inhalt
bestimmen, sowenig wie das Radio allein die Zuhörer reden und das
Fernsehen nur die Zuschauer auftreten lässt - die Mitwirkung dieser
«Nutzer» ist, wenn sie überhaupt stattfindet, im Grundsatz
limitiert und kontrolliert. Nur so kann ein Medium im Sinne des
Strafrechts entstehen, das dann die - vom Einzelrichter zurecht immer
wieder erwähnten - demokratietheoretischen Funktionen auch
erfüllen kann[27].
Wo der Inhalt allein vom Nutzer gemacht wird, und zwar gänzlich
unabhängig von den Inhalten anderer Nutzer, und wo zeitgleich
Abermillionen von Nutzern Inhalte herstellen und verbreiten, kann kein
Medium vorliegen, sondern nur eine Kommunikationsplattform. Auf Twitter
findet Massenkommunikation statt, die keinerlei inhaltliche Vorgaben hat.
Zudem sind weder der Zeitpunkt noch die Anzahl von Tweets begrenzt noch
bestehen Vorgaben über deren Gehalt: Tweets und Retweets sind weder
durch zeitliche, quantitative oder qualitative Grenzen beschränkt,
sondern einzig durch technische Vorgaben, die zugleich den praktischen
Empfängerkreis der unendlichen Vielzahl gleichzeitiger und aufeinander
folgender Einzelmeldungen beschränkt. Twitter ist, um ein Bild aus der
Welt früherer Kommunikation zu bemühen, sozusagen die
gleichzeitige Teilnahme vieler an vielen verschiedenen
Konferenztelefongesprächen, aus denen sie sich folgenlos ausklinken
und in andere einklinken können. Bloss findet das in Form
schriftlicher, und umfangmässig beschränkter Mitteilungen statt,
und jede Mitteilung ist (jedenfalls in der Theorie) einem ganz bestimmten
Nutzer als Verfasser zurechenbar. Verfasser ist aber gerade nicht
Twitter, sondern Twitter das Unternehmen, das es erlaubt, dass Dritte
untereinander schriftlich kommunizieren - eben barrierefrei Informationen
zu erstellen und zu teilen, wie oben zitiert. Twitter ist also, um noch
ein Bild zu bemühen, das Telefon- oder Glasfaser- oder Stromleitungs-
oder Schienennetz oder die Autobahn, aber weder der
Gesprächsteilnehmer noch der Strom noch der Zug noch der Reisende
oder der Autofahrer. Oder, um erneut das eingängige Bild von
Schwarzenegger zu zitieren: Twitter ist die Wand, aber nicht das Plakat[28].
Deshalb ist Twitter auch kein Medium im Sinne des Strafrechts. Es fehlt an
der pressemässigen Mitwirkung, es fehlt an allem, was eine
«entreprise de média» darstellen könnte.
Das Medium richtet sich aktiv an den Konsumenten, der es -
grundsätzlich passiv - entweder konsumiert oder ignoriert; selbst
seine Reaktion (Protest, Anruf in die Sendung, Leserbrief) macht ihn nicht
zum Teil eines Mediums, sondern höchstens zum Teil eines
Kommunikationsvorganges innerhalb eines Mediums. Twitter ist auch nicht
deshalb Medium, weil viele darin ihre Meinung äussern und verbreiten
bzw. mit Hilfe anderer verbreiten können, denn darin unterscheidet es
sich letztlich nicht vom Stammtisch, vom «Speaker's Corner» oder
jeder anderen Form von Kommunikation; es unterscheidet sich von diesen
lediglich in der Breitenwirkung oder dem Wirkungsgrad in quantitativer
Hinsicht. Auch die SMS ist kein Medium, sondern Kommunikation, und daran
ändert der durchschlagende Erfolg von WhatsApp nichts: Denn
Grösse und Masse können nicht massgebend sein, sowenig wie die
Auflagezahl einer Zeitung darüber entscheidet, ob sie Medium sei oder
nicht. Wie der Einzelrichter zurecht bemerkte, war auch die in wenigen
hundert Exemplaren mit Schreibmaschine und Matrize hergestellte
Broschüre Medium im Sinne des Strafrechts (Erw. 4.2.2.) - also kann
man umgekehrt die grosse Zahl von Nutzern einer Kommunikationsform nicht
als für deren Mediencharakter konstitutives Merkmal betrachten
wollen.
Auch über Facebook und Instagram und eine dem Verfasser gänzlich
unbekannte Vielzahl anderer «social media» können sich deren
Teilnehmer/Nutzer global verbreiten, ohne dass man deshalb auf die Idee
gekommen wäre, es handle sich dabei um ein Medium im Sinne des
Strafrechts. Eine Plattform, die lediglich die Kommunikation unter Dritten,
zumal einer tendenziell unbeschränkten Anzahl, ermöglicht, ist
kein Medium, sondern nur eine andere Form von Individualkommunikation,
insoweit dem Telefon, dem Stammtisch oder dem Zwiegespräch
gleichzusetzen und gerade nicht Radio, Fernsehen oder den
herkömmlichen, gedruckten Medien, um die es im Art. 28 StGB geht.
Entscheidend dafür, ob einzelne Tweets dem Medienstrafrecht
unterfallen können, scheinen mir dafür der Blick auf den Absender
und dessen Absichten, insbesondere dessen erkennbares Bemühen, einen
Beitrag zur Meinungsbildung zu leisten, die zeitliche Abfolge und die
inhaltliche Relevanz.
VIII. Vergleich
mit Plakatkleben
Nichts zu gewinnen ist schliesslich mit der vom Zürcher Einzelgericht
vorgenommenen Gleichsetzung von Retweet und Plakatkleben: Das nicht
geklebte, insoweit nicht in medientypischer Weise verbreitete Plakat
bleibt Medium, bloss wurde es eben nicht veröffentlicht. Und es ist in
der Tat auch viel naheliegender, den Retweet mit dem von der fremden Wand
abgehängten und auf der eigenen Wand dann aufgeklebten Plakat zu
vergleichen[29].
Zudem ist der Tweet ungeachtet seiner Weiterverbreitung durch Retweets
schon in der Welt und hat jedenfalls Verbreitung bei den (Erst-)
Empfängern erfahren; technisch wie theoretisch ist der Retweet nicht
notwendig, wenn auch leicht möglich. Auch deshalb scheint es mir
sinnlos, zwischen Plakaten, ob geklebt oder nicht, und Tweets, ob
retweeted oder nicht, irgendwelche medienrelevanten Vergleichsbeziehungen
suchen zu wollen: Dass der Urheber des Plakats ebenso wie der Verfasser
eines Tweets, der Redaktor der Zeitung, der Journalist des Online-Mediums
oder der Redner am «Speaker's Corner» die - möglichst grosse
‑ Öffentlichkeit suchen, haben sie zwar gemeinsam und
unterscheidet sie von dem, der mit genau einer Person telefoniert oder
redet oder ihr (von Hand oder per SMS) schreibt und dabei vielleicht sogar
grössten Wert darauf legt, dass sonst niemand etwas davon
mitbekommt. Aber das ist für die Frage des Mediencharakters gerade
nicht entscheidend[30],
sonst wäre jede an die Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation
«Medium» im Sinne des Strafrechts; ich lasse die Antwort auf die
umgekehrte Frage, ob jede nicht an die Öffentlichkeit gerichtete
Kommunikation allein schon deshalb nicht «Medium» sein kann,
offen.
IX. Literatur zu Art. 28 StGB
Das Urteil ist mit Hinweisen auf die einschlägige Lehre, wie
erwähnt, sparsam: Twitter ist zu neu, um eine einlässliche
Behandlung in den teilweise noch vor 2010 erschienenen Werken erfahren zu
haben; allerdings ist auch ein Erscheinungsjahr 2017 kein Garant
dafür, dass Twitter an einschlägiger Stelle vorkommt. Was zeigt
uns ein - ohne Anspruch auf Vollständigkeit erfolgter - Blick in
einige der Kommentierungen zu Art. 28 StGB?
Trechsel/Noll/Pieth vertreten einen weiten Medienbegriff inkl.
«Internet und was auch immer an neuen Kommunikationsmitteln
entwickelt werden mag»;[31] die Abgrenzung von der Veröffentlichung überhaupt ist
damit allerdings nicht mehr zu leisten.
Stratenwerth/Wohlers schliessen zwar die «elektronischen Netzwerke mit
Einschluss des Internets» in den Medienbegriff ein, erkennen aber
zurecht, dass die Einordnung der Netzwerke, die eine
Individualkommunikation ermöglichten, zweifelhaft sei[32].
Donatsch vertritt in ebenfalls einen sehr weitern Medienbegrifft, ich
zitiere vollständig: «Als Medien gelten nicht nur das Fernsehen,
das Radio sowie die Presse, sondern alle Kommunikationsmittel. Erfasst
werden demnach überdies alle Arten von Druckschriften (Blatt, Brief,
Bücher, Flugblätter, Plakate, Prospekte, Kataloge etc.),
Gemälde, Foto, Film, Kassette, DVD, Videos, der Memory-Stick, die
elektronische Textübertragung (Teletext, Videotex, CD-ROM), die
telefonische Tonübertragung (Festnetz-, Mobil-, Internet-Telefonie),
Mailing-Listen, Newsgroups, der Chat, das Web-Streaming (Ton- oder
Bildübertragung via Web) und das World Wide Web. Der Begriff des
Mediums ist in einem weiten Sinne zu verstehen (BGE 128 IV 65).»[33] Dem ist zumindest insoweit zu widersprechen, als dass nicht
einfach jede Individualkommunikation und jedes beliebige
Kommunikationsmittel dem Medienprivileg unterfallen kann, weil damit
zwischen «Medium» und «Veröffentlichung» nicht
mehr unterschieden werden kann.
Auf die Botschaft des Bundesrats von 1996 verweisen
Favre/Pellet/Stoudmann;[34]
sie machen sich damit eine «conception globale de médias» zu
eigen, die aber keine tauglichen Abgrenzungskriterien liefert.
Dupuis/Moreillon/Piguet/Berger/Mazou/Rodigari vertreten ebenfalls einen
denkbar weiten Medienbegriff, Twitter kommt allerdings in ihrer
Aufzählung nicht vor.[35] Auch die weiteren Überlegungen ergeben keine
Anhaltspunkte dafür, wie man irgendwelche Veröffentlichungen
über irgendwelche Kommunikationswege noch vom «média»
des Art. 28 StGB abgrenzen könnte[36].
Werly liefert ebenfalls nichts für eine Abgrenzung; er bezieht
insbesondere die mehrtausendfach verbreitete E-Mail in den Medienbegriff
ein[37].
Barrelet/Werly vertreten ebenfalls unter Berufung auf die Botschaft einen
weiten Medienbegriff, einschliesslich der «sites offerts sur les
autoroutes de l'information »: «L'Internet et les autres
réseaux de ce type sont sans nul doute des médias, puisqu'ils
sont à la disposition d'un public non déterminé. »[38]
Nur eben: Sinn und Zweck der Bestimmung von Art. 28 StGB kann es gerade
nicht sein, jede Veröffentlichung zu erfassen.
In ähnlicher Weise finden wir auch bei Hurtado Pozo einen weiten
Medienbegriff: Neben allen klassischen gedruckten auch «les services
d'nformation par téléphone» oder «les sites offerts sur
Internet».[39]
Schliesslich ist auch die Aufzählung bei Schwarzenegger eine lange und
nicht abschliessende, insb. nimmt er im jüngeren seiner beiden
Aufsätze «Twitter» ausdrücklich zunächst unter die
Medien auf.[40]
Interpretiert man die Lehrmeinungen - statt des Gesetzes - so müsste
man wohl sagen: Die grosse Mehrheit würde wohl «Twitter»,
wenn sie es erwähnen würden, für ein Medium halten. Nach
dem vorstehend Gesagten indessen zu Unrecht.
X. Fazit
Damit bleibt es bei einem zwar unvollständigen Teilergebnis, aber
einer klaren Beurteilung: Twitter ist kein Medium im Sinne des Art. 28
StGB, das Medienstrafrecht bzw. Medienprivileg ist auf Twitter nicht
anwendbar, sondern Twitter ist Kommunikation, für die alle
gewöhnlichen Regeln über Täterschaft und Teilnahme gelten.
Eine abschliessende, sozusagen positive Umschreibung dessen, was ein
Medium ist, wagt der Verfasser nicht, und angesichts der technischen
Entwicklung wäre das wohl auch anmassend bzw. nur von (höchst)
beschränkter Bedeutung, wenn überhaupt. Das hindert nicht zu
erkennen, dass Twitter jedenfalls kein Medium ist, das denjenigen, der
einen Retweet macht, von Strafbarkeit befreien könnte[41].
Ausserdem ist nicht zu sehen, warum der Retweet in die «medientypische
Verbreitungskette» gehören soll: Denn der Retweet ist nichts als
die Weiterverbreitung einer bereits veröffentlichen (Individual-)
Äusserung eines Dritten, und wenn die ehrverletzend ist, dann ist
nicht einzusehen, warum das über Twitter als Retweet straflos, im
direkten, mündlichen Gespräch aber unbestritten strafbar
wäre. Zudem ist ein Retweet für die Funktionsweise von Twitter
keineswegs nötig, wenn auch (sehr leicht) möglich. Vergleicht man
Twitter als Plattform bzw. den einzelnen Tweet mit der nächstliegenden
von allen anderen Kommunikationsformen, der SMS, ist offensichtlich, dass
die Subsumption von Twitter unter den Medienbegriff nicht richtig sein
kann.
Das Manko, keinen «abstrakten»,
«allgemeingültigen» Medienbegriff selbst im
beschränkten Rahmen des Art. 28 StGB entwickeln zu können, ist
zwar unbefriedigend, aber nicht entscheidend: Wenn das Strafrecht mit
neuen Phänomenen konfrontiert ist, kann deren Relevanz bzw. Irrelevanz
im Lichte der anzuwendenden Norm auch erkannt werden, ohne dass man zu
einer darüber hinausreichenden, weiteren Abstrahierung gelangen
muss, so wünschbar diese aus intellektuellen wie dogmatischen
Gründen wäre. Die faktische Auflösung der Grenzen zwischen
Medien und Kommunikation sollte allerdings den Gesetzgeber veranlassen,
das Medienstrafrecht bzw. die Besonderheiten von Täterschaft und
Teilnahme neu zu ordnen.
XI. Epilog
Der Freispruch durch das Einzelgericht beruhte also auf einer falschen
Grundannahme - dem Charakter von Twitter als Medium. Im Ergebnis wäre
allerdings nach hier vertretener Auffassung trotzdem der Angeklagte X
freizusprechen gewesen. Der fragliche Tweet, von dem ich eingangs sprach,
ist nämlich - entgegen der komplizierten, hier nicht zu
referierenden Begründung - keine Ehrverletzung[42].
Die Bezeichnung eines durch seine zwielichtige Rolle in einer
Staatsaffäre bekannten Anwalts mit «Hans ‚Dölf'
Müller» (wobei der Verfasser hier in Abweichung der Publikation
in der ZR und der ausführlichen Darstellung bei Schwarzenegger[43]
mit «Hans» und «Müller» bewusst zwei
Allerweltsnamen anstelle der richtigen verwendet) ist weder die
Gleichsetzung von Müller mit Hitler noch der Vorhalt einer
nationalsozialistischen Gesinnung oder sonst anfechtbarer Anschauungen.
Zudem rechtfertigt allein schon die Tatsache, dass besagter Anwalt mit
dem Inhaber der Domain «adolf-hitler.ch» über einen
relevanten Zeitraum hinweg geschäftlich verbunden war (vgl. die Erw.
5.3.3. des Urteils), die Verwendung von «Dölf» in Bezug auf
ihn, wenn man den Schluss von «Dölf» auf «Adolf
Hitler» - im Gegensatz zum Verfasser - für zwingend hält.
Mithin hätte der angeklagte Retweeter X - dessen Namen ich hier
ebenfalls im Gegensatz zu Schwarzenegger nicht nenne - nicht etwa wegen
Art. 28 StGB, sondern schlicht wegen Fehlen eines Straftatbestandes
freigesprochen werden müssen, was auch der dann auferlegten
zivilrechtlichen Sanktion die Grundlage entzogen hätte. Eine genauere
Darlegung dieser keineswegs als unbedingt mehrheitsfähig erachteten,
zivil- und strafrechtlichen Einschätzung kann indessen mangels Bezug
zur vorliegend behandelten Frage unterbleiben.
Anhang: Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 26. Januar 2016
Art. 28 StGB; Art. 173. StGB; Art. 174 StGB; Art. 322bis StGB; Art. 28
ZGB; Art. 28a ZGB; Art. 49 OR; Art. 426 StPO; Weiterleiten einer
ehrenrührigen Kurznachricht über Twitter (Retweet).
Der Kurznachrichtendienst Twitter (www.twitter.com) ist ein Medium im Sinne
von Art. 28 StGB (Erwägung 4.3.).
Jedenfalls eine Kurznachricht (Tweet) auf einem Account, der nicht nur von
Angehörigen und Bekannten seines Inhabers beachtet wird, ist eine
Veröffentlichung im Sinne von Art. 28 StGB (Erwägung 4.4.).
Das Weiterleiten eines ehrenrührigen Tweets (Retweet) ist Teil der
für Twitter typischen Verbreitungskette und daher kraft des Privilegs
von Art. 28 StGB straflos (Erwägung 4.5.).
Das Privileg von Art. 28 StGB greift nicht bei Rassendiskriminierung,
harter Pornographie oder Gewaltdarstellungen (Erwägung 4.6.).
Der Twitter-Account einer Einzelperson hat keinen vom Autor verschiedenen
Redaktor und keine andere für die Veröffentlichung
verantwortliche Person im Sinne von Art. 322bis StGB (Erwägung 4.7.).
Publikumsbefragungen zur Ermittlung der Auffassung des Durchschnittslesers
verlagern das Problem, anstatt es zu lösen (Erwägung 5.3.).
Bei einer Persönlichkeitsverletzung durch einen Retweet kommt neben
Geld auch eine Richtigstellung oder Urteilsveröffentlichung durch
einen neuen Tweet als andere Form der Genugtuung in Frage (Erwägung
5.4.).
Zwischen einem rechtswidrigen Retweet und der ausgelösten
Strafuntersuchung fehlt es wegen Art. 28 StGB am adäquaten
Kausalzusammenhang, der freigesprochene Beschuldigte ist nicht
kostenpflichtig (Erwägung 6.)
1. Retweet als Gegenstand des Strafverfahrens
Der Privatkläger ist Rechtsanwalt und Politiker. Landesweit bekannt
wurde er durch die Rolle, die er beim Rücktritt des
Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand gespielt hatte. Der
Beschuldigte ist Redaktor der WochenZeitung. In der WoZ vom 14. Juni 2012
veröffentlichte er einen Artikel über den Privatkläger: Als
Halter der InternetAdresse "adolfhitler.ch" war damals "X. AG, Hermann
Lei" eingetragen. Das ergab eine Abfrage auf der Website der Stiftung
SWITCH, welche Domains mit den Endungen ".ch" und ".li" verwaltet. Der
Beschuldigte ging in seinem Artikel der Frage nach, was der
Privatkläger mit "adolfhitler.ch" zu tun hat.
"NewsMän" verbreitet über seinen Twitter-Account
Medienberichte, die ihm interessant scheinen. Früher nannte er sich
"MusicMän2013". Seine Identität ist nicht bekannt. Am 13. Juli
2012 veröffentlichte "MusicMän2013" über Twitter eine
Kurznachricht. Der Tweet wies auf einen Artikel in der NZZ und einen
Leserbrief hin, mit dem der Privatkläger darauf reagiert hatte.
Artikel und Leserbrief drehen sich um einen Dokumentarfilm des Schweizer
Fernsehen über den Rücktritt von Philipp Hildebrand. Sie haben
nichts mit der Hitler-Domain zu tun. In seiner Kurznachricht bezeichnete
"MusicMän2013" den Privatkläger als "Hermann "Dölf" Lei".
Jene Twitterer, welche die Tweets von "MusicMän2013" verfolgen,
erhielten diese Kurznachricht auf ihrem eigenen Twitter-Account angezeigt.
Zu diesen Followern von "MusicMän2013" gehört auch der
Beschuldigte.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschuldigten vor, er habe den Tweet von
"MusicMän2013" kommentarlos an seine eigenen Follower weitergeleitet.
Das Weiterleiten eines Tweets ist denkbar einfach. Der Nutzer braucht
lediglich das Retweet-Symbol anzuklicken oder anzutippen, damit der
erhaltene Tweet auch auf dem Account der eigenen Follower angezeigt wird.
Wegen dieses Retweets erhebt die Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten
Anklage wegen Verleumdung oder Übler Nachrede.
2. Bisheriger Verlauf des Strafverfahrens
Am 16. Juni 2013 zeigte der Privatkläger den Beschuldigten bei der
Staatsanwaltschaft an und beantragte dessen Bestrafung wegen Verleumdung.
Er machte geltend, den fraglichen Retweet erst am 7. Mai 2013 entdeckt zu
haben, so dass die dreimonatige Antragsfrist (Art. 31 StGB) gewahrt sei.
Die Staatsanwaltschaft erledigte das Strafverfahren mit
Einstellungsverfügung vom 11. April 2014. Sie bezweifelte die
Rechtzeitigkeit des Strafantrags und hielt dafür, der Zusatz
"Dölf" sei für die meisten Leser unverständlich oder
allenfalls als Hinweis auf die Geschichte mit der Hitler-Domain zu
verstehen, keinesfalls werde der Privatkläger damit aber als
Anhänger des Nationalsozialismus diskreditiert. Das Obergericht hob
die Verfügung vom 11. April 2014 am 26. Januar 2015 auf: Es
bestünden keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür, dass der
Privatkläger den fraglichen Retweet schon früher entdeckt habe,
im übrigen handle es sich um einen Zweifelsfall, der untersucht
gehöre.
Die Staatsanwaltschaft versuchte, "MusicMän2013" ausfindig zu machen.
Das ist bis heute nicht gelungen. Sie befragte den Beschuldigten und den
Privatkläger
am 1. September 2015 und erhob am 17. September 2015 Anklage. Zur
Hauptverhandlung erschienen der Privatkläger, der Beschuldigte und
seine Verteidigerin.
3. Anklagesachverhalt
Der Beschuldigte hat bestätigt, dass er den Tweet von
"MusicMän2013" mit der Bezeichnung "Hermann "Dölf" Lei"
weitergeleitet ("retweetet") hat. Die Darstellung des Sachverhalts in der
Anklageschrift trifft zu und ist unter den Parteien auch nicht strittig.
Der Streit dreht sich um die rechtliche Würdigung des Geschehenen.
4. Rechtliche Würdigung
4.1 Verleumdung und Üble Nachrede
Der Üblen Nachrede macht sich schuldig, wer jemanden bei einem anderen
eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen beschuldigt oder
verdächtigt, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen (Art.
173 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Der Üblen Nachrede macht sich ebenfalls
schuldig, wer eine solche Beschuldigung oder Verdächtigung
weiterverbreitet (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Der Verleumdung macht sich
schuldigt, wer solche Beschuldigungen oder Verdächtigungen wider
besseres Wissen erhebt oder verbreitet (Art. 174 Ziff. 1 StGB).
Der Vorwurf, Sympathien für das Nazi-Regime zu haben, ist
rufschädigend (BGE 137 IV 313, E. 2.1.1., S. 315 mit weiteren
Hinweisen). Fragen kann man sich einzig, ob der Beschuldigte einen
derartigen Vorwurf erhoben hat. Die Staatsanwaltschaft und der
Privatkläger erblicken diesen Vorwurf im weitergeleiteten Tweet, in
dem von "Hermann "Dölf" Lei" die Rede war.
4.2 Sonderregelung für Veröffentlichungen in einem Medium
Wird eine strafbare Handlung durch Veröffentlichung in einem Medium
begangen und erschöpft sie sich in dieser Veröffentlichung, so
ist, unter Vorbehalt der nachfolgenden Bestimmungen, der Autor allein
strafbar (Art. 28 Abs. 1 StGB). Kann der Autor nicht ermittelt oder in der
Schweiz nicht vor Gericht gestellt werden, so ist der verantwortliche
Redaktor nach Artikel 322bis [StGB] strafbar. Fehlt ein verantwortlicher
Redaktor, so ist jene Person nach Artikel 322bis [StGB] strafbar, die
für die Veröffentlichung verantwortlich ist (Art. 28 Abs. 2
StGB).
Art. 322bis StGB lautet wie folgt: "Wer als Verantwortlicher nach Artikel
28 Absätze 2 und 3 [des Strafgesetzbuchs] eine Veröffentlichung,
durch die eine strafbare Handlung begangen wird, vorsätzlich nicht
verhindert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe
bestraft. Handelt der Täter fahrlässig, so ist diecStrafe
Busse."
4.2.1 Alte und neue Regelung der Presse- bzw. Mediendelikte
Bereits die 1942 in Kraft getretene Urfassung des schweizerischen
Strafgesetzbuchs enthielt eine Sonderregelung für strafbare
Veröffentlichungen. Sie war auf strafbare Handlungen beschränkt,
die "durch das Mittel der Druckerpresse" begangen werden. Das umfasste
sowohl Zeitungen und Zeitschriften als auch "nicht periodische
Druckschriften". Grundsätzlich war allein der Verfasser strafbar.
Konnten die Untersuchungsbehörden ihn nicht ermitteln, so waren
allenfalls der Verleger, der Redaktor oder der Drucker strafbar, nicht
aber alle weiteren Mitwirkenden (vgl. Art. 27 StGB in der Fassung von
1937/1942 [BBl 1937 III 625ff.]).
Die heutige Regelung trat am 1. April 1998 in Kraft, damals noch als Art.
27 StGB (heute: Art. 28 StGB). Die Ausdehnung der Sonderregelung von der
"Druckerpresse" auf sämtliche Medien hatte vor allem Radio und
Fernsehen im
Auge, gilt aber nicht nur für sie (vgl. ZELLER in:
NIGGLI/WIPRÄCHTIGER, Basler Kommentar, Strafrecht I, 3. Auflage 2013,
N 20ff. zu Art. 28 StGB).
4.2.2 Rechtsprechung zum Kreis der geschützten Personen
Schon im Jahr 1947 befasste sich das Bundesgericht mit der Tragweite des
damaligen Art. 27 StGB: Auf die Phase vor der Entstehung eines Textes waren
die allgemeinen Regeln über die Teilnahme an der Straftat eines
andern durchaus anzuwenden. Das Bundesgericht hielt aber auch fest, von
all jenen Personen, die sich mit Herstellung und Verbreitung einer
Druckschrift befassten, seien allenfalls die in Art. 27 StGB genannten
strafbar (Redaktor, Verleger, Drucker, Leiter des Anzeigeteils). Alle
anderen, zum Beispiel die Verträger, blieben straflos. Das gilt auch,
wenn sie nach den allgemeinen Regeln Gehilfen oder Mittäter einer
Ehrverletzung wären (BGE 73 IV 65, S. 67f.). Was das bedeutet, zeigt
ein späterer Entscheid anschaulicher: Ein Musiklehrer, der einem
Journalisten Unterlagen für einen kritischen Artikel über das
Konservatorium Zürich verschafft hatte, kam als Mittäter,
Anstifter oder Gehilfe des Journalisten in Frage (BGE 86 IV 145, E. 1, S.
147).
Bereits 1948 erkannte das Bundesgericht, Art. 27 StGB gelte nicht nur
für professionell hergestellte Druckerzeugnisse, sondern auch
für eine mit Schreibmaschine und Matrize in wenigen hundert
Exemplaren hergestellte Broschüre, die Bürger in einer
Gemeindewahl verteilt hatten: Es gehe nicht darum, ein bestimmtes
technisches Verfahren zu privilegieren. Vervielfältigte Schriften
spielten eine wichtige Rolle in öffentlichen Debatten über
Politik, Kunst, Literatur und dergleichen, deswegen sei die Strafbarkeit
bei ihrer Herstellung und Verbreitung eingeschränkt (BGE 74 IV 129,
E. 2, S. 130ff.).
Wer alles von der Sonderregelung geschützt ist, zeigt ein Entscheid
des Bundesgerichts aus dem Jahr 2002: Einige Lokalpolitiker und Mitglieder
der CVP im Wallis, welche die Fristenlösung beim
Schwangerschaftsabbruch ablehnten, beteiligten sich in unterschiedlicher
Form an einer Plakataktion, die auf jene Politikerinnen der CVP zielte,
die sich für die Fristenlösung einsetzten. Das Bundesgericht
sprach jene Personen schuldig, die das Plakat gestaltet oder dafür
Informationen beschafft hatten, weil es das Plakat als ehrverletzend
einstufte.
Nichtsdestotrotz sprach es all jene Beteiligten frei, die sich auf das
Plakatieren beschränkt hatten. Unter dem alten wie auch unter dem
neuen Recht bleibe straf-los, wer eine ehrverletzende Schrift nur
verbreite. Der Buchhändler, Kioskmitarbeiter oder
Zeitungsverkäufer, aber auch wer Traktate verteile oder Plakate klebe,
der Briefträger usw., sie alle seien von Art. 28 StGB geschützt,
der nur den Autor für strafbar erkläre. Das Privileg gelte
nicht nur für Angestellte eines Medienunternehmens. Auch als
Anstifter, Gehilfe oder Mittäter komme nur in Frage, wer nicht Teil
der Herstellungs- und Verbreitungskette eines Medienerzeugnisses sei (BGE
128 IV 53, insb. E. 5e, S. 66ff.).
4.2.3 Ehrverletzungsdelikte in der Variante des Weiterverbreitens
In den zusammengefassten Entscheiden ist vor allem davon die Rede, dass
Art. 28 StGB an die Stelle der allgemeinen Regeln über die
Gehilfenschaft, die Anstiftung und die Mittäterschaft (Art. 24ff.
StGB) trete. Das ist nicht alles. Die Bestimmungen über die
Üble Nachrede und die Verleumdung machen das Weiterverbreiten
ehrenrühriger Behauptungen oder Verdächtigungen zu einem
eigenständigen Delikt (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Art. 174 Ziff. 1
Abs. 2 StGB). Die vom Bundesgericht beispielhaft zitierten Plakatkleber,
Kioskmitarbeiter usw. erfüllen den Tatbestand des Weiterverbreitens
regelmässig. Nichtsdestotrotz erklärte das Bundesgericht, die
Plakatkleber blieben straflos. Art. 28 StGB schützt demnach nicht
nur, soweit es um Anstiftung, Gehilfenschaft oder Mittäterschaft
geht. Auch die zum eigenständigen Delikt ausgestaltete Teilnahme durch
Weiterverbreiten ist mit Art. 28 StGB von der Strafbarkeit ausgenommen,
solange sich die Täter innerhalb der für das Medium typischen
Herstellungs- und Verbreitungskette bewegen. Davon geht auch das
Bundesgericht aus.
4.3 Twitter als Medium
4.3.1 Sprachgebrauch
Für Twitter, Facebook, Google+ und ähnliche Plattformen ist
sowohl der englische Ausdruck "social media" als auch dessen
eingedeutschte Variante gebräuchlich. Mit dem Wortlaut von Art. 28
StGB ist es vereinbar, Veröffentlichungen auf Twitter dieser Regelung
zu unterstellen.
4.3.2 Entstehung der heutigen Fassung von Art. 28 StGB
Als die heutige Fassung von Art. 28 StGB entstand, hatte das Internet bei
Weitem noch nicht die heutige Bedeutung. Twitter gab es noch nicht. Der
historische Gesetzgeber hatte vor allem Radio und Fernsehen vor Augen,
wollte aber eine Regelung schaffen, die alle Medien gleich behandelt. Die
Botschaft des Bundesrates erwähnt das Internet denn auch in einem
Atemzug mit in Vergessenheit geratenen Kommunikationsformen wie Teletext
und Videotex (BBl 1996 IV 527). Der Gesetzgeber wählte das farblose,
umfassende Wort "Medium", wo er auch hätte "Radio und Fernsehen"
schreiben können. Die Entstehungsgeschichte der heutigen Fassung von
Art. 28 StGB ist nicht ausschlaggebend, spricht aber eher dafür,
Twitter als Medium zu behandeln.
4.3.3 Stellung von Art. 28 StGB im gesamten Regelsystem
Zugleich mit der Neuregelung der Mediendelikte hat das Parlament den
Quellenschutz geregelt (heute: Art. 28a StGB und Art. 172 StPO). Auch um
zu entscheiden, wie weit der Quellenschutz geht, hatte sich das
Bundesgericht damit zu befassen, was ein Medium bzw. ein periodisch
erscheinendes Medium ist: Die Täterin nutzte die Kommentarfunktion
auf der Website des Schweizer Fernsehens, um unter dem Pseudonym "Michael
Schwizer" launige Kommentare abzugeben, die ein ehemaliger Arbeitskollege
als Anspielung auf ihn erkannte und für ehrverletzend hielt. Das
Bundesgericht stellte ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen Art.
28 StGB (Strafbarkeit von Veröffentlichungen) und Art. 28a StGB
(Quellenschutz) her und schützte das Schweizer Fernsehen. Es hatte
sich geweigert, den Namen der Bloggerin preiszugeben. Auch die
Kommentarfunktion der Website des Schweizer Fernsehens sei ein Medium
bzw. Teil eines Mediums (zum Ganzen: BGE 136 IV 145, E. 3.2 und 3.3, S.
149f.; Urteil Nr. GG110138-L des Bezirksgerichts Zürich vom 30.
September 2011).
Twitter und ein Blog auf einer Website sind vergleichbar. Der Begriff
"Medium" in Art. 28 StGB und Art. 28a StGB/Art. 172 StPO ist einheitlich
auszulegen. Das legt es nahe, Twitter genau so wie einen Blog auf der
Website des Schweizer Fernsehens als Medium im Sinne von Art. 28 StGB zu
behandeln.
4.3.4 Schutz öffentlicher Debatten als Regelungszweck von Art. 28 StGB
Die deutliche Begrenzung des Personenkreises, der sich durch eine
Veröffentlichung strafbar machen kann, dient dem freien Austausch der
Meinungen, wie er auch durch die Bundesverfassung und die Europäische
Menschenrechtskonvention geschützt ist (Art. 16f. BV; Art. 10 EMRK).
Dieser Regelungszweck spricht für den Einbezug von Twitter. Der
Tweet, um den es hier geht, bezog sich auf politisch relevante Debatten.
Sowohl die Hintergründe und Begleitumstände des Rücktritts
eines Nationalbankpräsidenten, als auch die Frage, was ein Politiker
mit der Domain adolf-hitler.ch zu tun hat, sind ein legitimer Gegenstand
öffentlicher Diskussion. Selbstverständlich dient Twitter auch
dem Austausch von Banalitäten, privatem Klatsch und Tratsch oder rein
organisatorischer Informationen über Vereinsanlässe und
dergleichen. Darauf ist Twitter aber nicht beschränkt. Zahlreiche
Politiker, Unternehmen, Behörden, Parteien usw. nutzen Twitter, um
sich Gehör zu verschaffen. Den überzeugendsten Beleg für
die meinungsbildende Funktion von Twitter lieferten die Mächtigen
der Volksrepublik China. Sie blockierten den Dienst einige Tage bevor sich
die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen
Friedens zum zwanzigsten mal jährte. Twitter ist bis heute nur in Hong
Kong und Macao problemlos zugänglich. Twitter dient dem freien
Austausch von Informationen und Meinungen und ist deshalb ein Medium im
Sinne von Art. 28 StGB.
4.3.5 Missbrauchsgefahren
Art. 28 StGB hat allerdings nicht zum Zweck, folgenlose Ehrverletzungen
für jedermann zu ermöglichen oder das Internet zum rechtsfreien
Raum zu machen. Auf die Gefahren eines Missbrauchs strafloser Retweets
ist deshalb einzugehen.
Es ist denkbar, dass sich der Verfasser ehrverletzender Texte hinter einem
Retweet versteckt und in Tat und Wahrheit selbst für den
ursprünglichen Tweet auf einem anonymen Account oder dem Account
einer Person im Ausland sorgt. Technisch ist das einfach zu
bewerkstelligen. Recht schwierig ist es jedoch, eine derartige
Fälschung überzeugend aussehen zu lassen. Ein kurz vor einem
ehrverletzenden Retweet eröffneter anonymer Account mit wenigen
Followern und einigen pro forma Tweets wird Staatsanwaltschaften und
Gerichte nicht überzeugen. Freunde im Ausland müsste ein
Täter erst überzeugen, sich für so etwas herzugeben, und
meist ist es auch nicht plausibel, weshalb sich plötzlich eine Person
aus der Ferne einmischt. Wer sich auf Twitter mit Verbalinjurien eindeckt,
hat meist eine Vorgeschichte im realen Leben. Auch jene Bloggerin, deren
Blogs zu BGE 136 IV 145 führten, konnte die Untersuchungsbehörde
trotz Quellenschutz ausfindig machen. Privatkläger und Angeklagte
hatten eine langwierige Vorgeschichte, die von Konflikten am ehemals
gemeinsamen Arbeitsplatz geprägt war. Aufgrund des Inhalts der
anonymen Blogs war klar, von wem sie stammen mussten (vgl. zum Nachspiel
von BGE 136 IV 145: Urteil Nr. GG110138-L des Bezirksgerichts Zürich
vom 30. September 2011). Das ist typisch, denn das reine Cybermobbing ist
selten. Es sind dieselben Personen, die ihre Opfer online und offline
schikanieren. Gelegentlich wird es Tätern gelingen, dank solcher
Tricks anonym zu bleiben, so wie auch nicht jeder Diebstahl und bei weitem
nicht jede Verkehrsregelverletzung aufgeklärt wird. Die
Missbrauchsrisiken sind jedoch überschaubar. Es gibt sie auch
andernorts im Internet, etwa in den Kommentarfunktionen, die das
Bundesgericht dem Quellenschutz unterstellt, und bei den
althergebrachten, papierenen Formen der Kommunikation. Das kann nicht dazu
führen, Twitter trotz gegebener Voraussetzungen abzusprechen, ein
Medium zu sein.
4.3.6 Wirksamer Persönlichkeitsschutz im Zivilrecht
Hinzu kommt, dass den Betroffenen nicht allein das Strafrecht zu Gebot
steht, um sich gegen ehrenrührige Retweets zu wehren. Zivilrechtlich
gibt es keine Privilegierung der Herstellungs- und Verbreitungskette der
Medien (BGE 128 IV 53, E. 8, S. 72f.). Der Betroffene kann gegen jeden
klagen, der an einer Persönlichkeitsverletzung mitwirkt, also auch
gegen den Retweeter (Art. 28 Abs. 1 ZGB). Der Kläger kann eine
Berichtigung oder die Beseitigung rechtswidriger Inhalte erwirken, zudem
Schadenersatz und Genugtuung, wenn der Täter vorsätzlich oder
fahrlässig gehandelt hat (Art. 28a ZGB; Art. 41ff. OR). Die Anwendung
von Art. 28 StGB auf Retweets lässt Betroffene nicht schutzlos. Die
zivilrechtlichen Folgen einer Persönlichkeitsverletzung
einschliesslich der anfallenden Verfahrenskosten sind als Anreiz für
korrektes Verhalten im Internet mindestens so wirksam wie eine bedingte
Geldstrafe.
4.3.7 Twitter als Medium
Die Auslegung von Art. 28 StGB muss dazu führen, Twitter als Medium
anzuerkennen.
4.4 Veröffentlichung in einem Medium
Fragen kann man sich jedoch, ob jeder Tweet eine "Veröffentlichung in
einem Medium" (Art. 28 Abs. 1 StGB) ist. Technisch ist jeder Tweet
öffentlich: Wer irgendwo auf der Welt unzensierten Zugang zum
Internet hat, kann jeden Tweet abrufen, dafür braucht man nicht
"Follower" des Verfassers zu sein, es bedarf nicht einmal eines
Twitter-Accounts. Die Tweets des Privatklägers sind unter
<https://twitter.com/hermannlei> abrufbar, jene des Beschuldigten
unter <https://twitter.com/[twitter-handle des Beschuldigten]> und
jene von "NewsMän" unter <https://twitter.com /kuedder>.
Tatsächlich von einer halbwegs breiten Öffentlichkeit
wahrgenommen werden indes längst nicht alle Twitter-Accounts. Es ist
fraglich, ob auch ein Tweet auf einem Account, der nur von den Freunden und
Verwandten seines Inhabers wahrgenommen wird, eine Veröffentlichung
ist. Dagegen spricht, dass bei solchen Accounts die Öffentlichkeit
eher theoretisch ist. Wie mit solchen Fällen umzugehen wäre, kann
jedoch offen bleiben. Der Politologe Claude Long-champ hat auf seinem Blog
eine Laudatio auf "NewsMän" verfasst, und dieser hat eine vierstellige
Zahl von Followern. Das sind weit mehr, als Familie, Freunde und Bekannte,
auch bei einer gut vernetzten Person. "NewsMän" verschafft sich mit
seinen Tweets mindestens so viel Gehör und Öffentlichkeit wie
jene engagierten Bürger, die in den vierziger Jahren mit
Schreibmaschine und Matrize zweihundert Broschüren herstellten.
Seine Tweets sind auch dann eine Veröffentlichung im Sinne von Art.
28 StGB, wenn man darauf abstellt, ob ein Account tatsächlich von der
Öffentlichkeit beachtet wird.
4.5 Medientypische Verbreitungskette
Von der Strafbarkeit ausgenommen ist nur das Weiterverbreiten
ehrenrühriger Äusserungen innerhalb der medienspezifischen
Verbreitungskette (vgl. auch ZELLER, a.a.O., N 57ff. zu Art. 28 StGB). Bei
den seit vielen Jahren gebräuchlichen Methoden, sich in der
Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, ist ziemlich klar, was
damit gemeint ist. Abgesehen von BGE 128 IV 53 war das kaum je Gegenstand
höchstrichterlicher Entscheide. Hier stellt sich die Frage, ob der
Retweet zu der für Kurznachrichten auf Twitter typischen und
üblichen Verbreitungskette gehört.
4.5.1 Konzept und Geschäftsmodell von Twitter
Die Betreiber von Twitter haben es darauf angelegt, dass die Nutzer
Kurznachrichten weiterverbreiten. Ein Klick oder ein Antippen des
Touchscreens genügt. Ein Stück weit leben die sozialen Medien
davon, dass die Nutzer die Inhalte auswählen. Was vielen lesenswert
erscheint, wird auch über mehrere Accounts weitergeleitet
("retweetet") und vielen Nutzerinnen und Nutzern im eigenen Account
angezeigt. Anderes bleibt zwar theoretisch von mehr als einer Milliarde
Menschen abrufbar, wird aber nur auf den Accounts der Follower des
ursprünglichen Verfassers angezeigt und auch dort bald von neueren
Tweets nach unten verdrängt.
Diese Auswahl der Inhalte durch die Nutzer und die Verknüpfung der
Nutzer untereinander ist auch aus kommerziellen Gründen gewollt.
Twitter verdient Geld mit Werbeeinblendungen und mit dem Verkauf von Daten.
Bestimmte Inserenten bezahlen Twitter nach Massgabe der Anzahl Retweets
ihrer Anzeige. Auch die Analyse der verkauften Daten durch Dritte wird
ergiebiger, wenn ersichtlich ist, wer wessen Follower ist und wer was
favorisiert, ignoriert oder wer was an welchen Personenkreis retweetet (zum
Ganzen: VINDU GOEL, For Twitter, Key to Revenue Is No Longer Ad Simplicity,
New York Times vom 17. September 2013, S. B1). Das Retweeten ist Teil des
Konzepts von Twitter und auch wichtig für dessen kommerziellen
Erfolg. Es ist Teil der von Twitter geplanten und gewollten
Verbreitungskette eines Tweets.
4.5.2 Tatsächliche Nutzung
Nicht nur die Absichten der Betreiber von Twitter, auch das Verhalten der
Nutzer lässt den Retweet als Teil der für Twitter typischen
Verbreitungskette einer Kurznachricht erscheinen. Retweeten ist keine
Seltenheit. Das zeigt ein Blick auf den Twitter-Account eines beliebigen
Politikers oder Journalisten, kein anderes Bild ergibt sich bei den
Accounts des Privatklägers und des Beschuldigten. Das hat sich bereits
im Sprachgebrauch niedergeschlagen. Jedenfalls auf Englisch ist
häufig die Rede davon, ein Text, ein Bild oder ein Video habe sich wie
ein Virus auf den sozialen Medien ausgebreitet ("It went viral."). Das Bild
des Virus, der sich von Träger zu Träger ausbreitet, konnte nur
entstehen, weil die Nutzer der sozialen Medien Inhalte tatsächlich
eifrig wieterleiten. Das gilt auch für die Twitterer.
4.5.3 Parallelen bei althergebrachten Kommunikationsformen
Bei Zeitungen und Zeitschriften hat die Weiterverbreitung durch Leserinnen
und Leser kaum eine Bedeutung. Zeitungen kommen über bezahlte
Mitarbeiter eines Kiosk zu den gelegentlichen Leserinnen und Lesern und
über bezahlte Verträgerinnen zu den Abonnenten. Sicher kommt es
gelegentlich vor, dass Leser Zeitungen weiter verbreiten, indem sie diese
im Zug liegen lassen oder indem sich Nachbarn gegenseitig Tages-Anzeiger
und NZZ in den Briefkasten legen, damit nicht beide beides abonnieren
müssen. Das ist aber weder entscheidend für den
geschäftlichen Erfolg einer Zeitung, noch ist es zahlenmässig
bedeutsam.
Auf all das kann es jedoch nicht ankommen. Jahrzehnte vor dem Internet hat
das Bundesgericht klargestellt, dass unerheblich ist, ob jemand
berufsmässig oder privat handelt. Es spielt auch keine Rolle, ob
jemand ein professionelles Medienprodukt verbreitet oder ein nach
Feierabend mit einfachen Mitteln hergestelltes, laienhaftes Werk.
Der Retweet ist durchaus vergleichbar mit dem Wirken jener Personen, die im
Rahmen der Plakataktion der CVP im Unterwallis Plakate geklebt haben. Auch
sie kannten die verbreiteten Inhalte. Sie handelten aus freien
Stücken, nicht weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdienten, und
sie erreichten die Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass es bedeutend mehr
Identifikation mit einem Inhalt und Engagement braucht, um Plakate zu
kleben als um Tweets per Mausklick weiterzuleiten. Wäre das strafbar,
würden die Gerichte von bedeutend höherer krimineller Energie
sprechen. Jene Wertungen, die in BGE 128 IV 53 zu Freisprüchen
führten, sprechen für die Straflosigkeit des Retweets.
4.5.4 Retweet als Teil der medien-typischen Verbreitungskette
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Retweet ein Glied der für
Kurznachrichten auf Twitter typischen, üblichen und von den
Betreibern gewollten Verbreitungskette ist. Das Retweeten einer
ehrenrührigen Kurznachricht muss deshalb gestützt auf Art. 28
Abs. 1 StGB straflos bleiben, obwohl es den Tatbestand des
Weiterverbreitens im Sinne von Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB (Üble
Nachrede) bzw. Art. 174 Ziff. 1 Abs. 2 StGB (Verleumdung) erfüllt.
4.6 Mediendelikt
Die Privilegierung der medienspezifischen Verbreitungskette greift nur bei
Straftaten, die sich in der strafbaren Veröffentlichung
erschöpfen (Art. 28 Abs. 1 StGB). Das ist bei Ehrverletzungsdelikten
der Fall, um sie ging es in allen zitierten Bundesgerichtsurteilen zu Art.
28 StGB. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das
Bundesgericht Art. 28 StGB nicht auf Rassendiskriminierung, harte
Pornographie oder Gewaltdarstellungen anwendet. Das wäre mit dem
Wortlaut, aber nicht mit dem Zweck von Art. 28 StGB vereinbar (BGE 125 IV
206, E. 3c, S. 211f.).
4.7 Redaktor oder für die Veröffentlichung verantwortliche
Person?
Da die Identität von "NewsMän" bis heute nicht bekannt ist,
stellt sich die Frage, ob der Beschuldigte als verantwortlicher Redaktor
oder für die Veröffentlichung des Tweets verantwortliche Person
nach Art. 322bis StGB zu bestrafen ist. Der Beschuldigte ist nicht der
Redaktor von "NewsMän" und er hatte auch keinen Einfluss auf den
Entscheid von "News-Män", einen Tweet mit der Bezeichnung "Hermann
"Dölf" Lei" abzusetzen. Der Tweet war bereits öffentlich, als der
Beschuldigte ihn auf seinem eigenen Twitter-Account angezeigt erhielt.
Ein Schuldspruch wegen der Nichtverhinderung einer strafbaren
Veröffentlichung würde den Wortlaut von Art. 322bis StGB
überdehnen. Der Beschuldigte war nicht in einer Position, in welcher
er die Veröffentlichung von "NewsMän" hätte verhindern
können.
Bei einem Twitter-Account dürfte es nur ausnahmsweise einen vom Autor
der Tweets verschiedenen Redaktor oder eine andere, für die
Veröffentlichung verantwortliche Person als den Autoren selbst geben.
In der Regel veröffentlicht der Autor im Alleingang durch einen
Mausklick. Anders verhält es sich bei jenen Twitter-Accounts, hinter
denen ein ganzes Team steht. Bei einem Twitter-Account eines Unternehmens,
einer Behörde, einer Partei usw. kann es durchaus eine Redaktion
bzw. einen Verantwortlichen geben. Ob "NewsMän" eine Einzelperson ist
oder ob ein ganzes Team hinter dem Account steht, ist nicht bekannt.
Jedenfalls wirft die Anklage dem Beschuldigten nicht vor, Teil eines
solchen Teams zu sein, und es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass es
so wäre.
4.8 Freispruch
Der Beschuldigte ist nicht der Autor der Bezeichnung "Hermann "Dölf"
Lei". Er ist von Schuld und Strafe freizusprechen, weil er sich mit seinem
Retweet innerhalb der für einen Tweet typischen Verbreitungskette
bewegt hat.
5. Zivilansprüche
Anders als nach der Zürcher Strafprozessordnung entscheidet das
Gericht heute auch bei einem Freispruch über Zivilansprüche,
wenn der Sachverhalt spruchreif ist (Art. 126 Abs. 1 lit. b StPO). Der
Sachverhalt, auf den es ankommt, steht fest und die Parteien bestreiten ihn
nicht. Über die Zivilansprüche des Privatklägers ist zu
urteilen.
5.1 Zivilrechtlicher Persönlichkeitsschutz
Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu
seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht
anrufen (Art. 28 Abs. 1 ZGB). Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie
nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes
privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt
ist (Art. 28 Abs. 2 ZGB).
5.1.1 Persönlichkeitsverletzung
Der Schutz der Persönlichkeit durch das Zivilrecht geht einiges weiter
als der strafrechtliche Schutz der Ehre. Während des Strafrecht nur
bei Aussagen greift, die den Geschädigten als charakterlich
anständigen Menschen in Frage stellen, kann eine zivilrechtliche
Persönlichkeitsverletzung auch Fragen betreffen, die um die
Qualitäten eines Menschen im Beruf kreisen, etwa als Politiker,
Handwerker, Unternehmer, Wissenschaftler oder dergleichen. Vorwürfe,
ein Anhänger des Nationalsozialismus zu sein oder nur schon das Wirken
jenes Regimes zu verharmlosen, sind auch strafrechtlich relevant. Dass
derartige Vorwürfe auch eine zivilrechtliche
Persönlichkeitsverletzung sind, bedarf keiner näheren
Erläuterung (BGE 129 III 49, E. 2.3; BGE 111 II 209). Detailliert zu
prüfen ist jedoch, ob sich ein derartiger Vorwurf rechtfertigen
lässt und ob ihn der Beschuldigte überhaupt erhoben hat.
5.1.2 Rechtfertigung durch überwiegendes öffentliches
Interesse
Der Privatkläger ist zumindest zur relativen Person der
Zeitgeschichte geworden, indem er eine wichtige Rolle gespielt hatte bei
der Weiterleitung von Verdachtsmomenten auf Insidergeschäfte, die zum
Rücktritt des damaligen Präsidenten der Nationalbank
führten. Er übt auch heute öffentliche Ämter aus. Bei
aktiven Politikern sind sogar politische Aktivitäten, die Jahrzehnte
zurück liegen, legitimer Gegenstand öffentlicher Diskussion
(BGE 111 II 209, insb. E. 3c, S. 213f.). In einem Zeitungsartikel der Frage
nachzugehen, was der Privatkläger mit der Domain adolf-hitler.ch zu
tun hat, war rechtens. Angesichts seiner Rolle beim Rücktritt des
SNB-Präsidenten, aber auch, weil er damals wie heute dem Kantonsrat
des Kantons Thurgau angehörte, bestand ein legitimes
Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit (vgl. BGE 127 III 481,
E. 2c/aa und E. 2c/bb, S. 488ff.). Der Privatkläger kann nicht
verlangen, dass der Beschuldigte darüber nichts veröffentlicht.
Er kann aber sehr wohl verlangen, dass der Beschuldigte darüber
nichts Unwahres veröffentlicht. Falschmeldungen sind nur ganz
ausnahmsweise durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt (BGE 129 III 49, E. 2.2, S. 51f.).
5.2 Ergebnis der Recherchen des Beschuldigten
Wäre der Privatkläger ein Anhänger oder Verharmloser des
Nationalsozialismus, dann dürfte man das auch öffentlich sagen
und die Diskussion darüber, was mit der Bezeichnung "Hermann
"Dölf" Lei" gemeint sei, würde sich erübrigen. Es ist
deshalb kurz darauf einzugehen, was die Recherchen des Beschuldigten
ergeben haben und was nicht:
5.2.1 Inhalte auf adolf-hitler.ch
"www.adolf-hitler.ch" war nie eine Propagandaseite. W., ein Klient des
Beschuldigten, bestimmte, was dort zu sehen war. Er sprach mit dem
Beschuldigten und sagte ihm, er habe bewusst nur den Wikipedia-Artikel
über Adolf Hitler aufgeschaltet. W. zeigte dem Beschuldig-ten ein
Kündigungsschreiben eines Web-hosting-Unternehmens. Es wollte die von
W. betriebenen Seiten nicht mehr aufschalten. Dieses Unternehmen
beanstandete andere, von W. betriebene Internet-Adressen als
ehrverletzend. Die Inhalte von "adolf-hitler.ch" bezeichnete es dagegen
als rechtlich nicht relevant, doch errege die Domain nur schon aufgrund
ihres Namens Aufsehen. Das Web-hosting-Unternehmen fürchtete um
seinen Ruf und wollte nichts mit adolf-hitler.ch zu tun haben. Das
Kündigungsschreiben belegt, dass die Auskünfte von W. korrekt
waren. Das Web-hosting-Unternehmen hätte die Inhalte nicht als
unbedenklich bezeichnet, wenn es sich um Nazi-Propaganda gehandelt
hätte. W. erklärte dem Beschuldigten, er registriere über
die X. AG eine vierstellige Anzahl von Internet-Adressen. Er bzw. die X.
AG würden damit Geld verdienen, dass sie dort Werbung aufschalten.
Adolf Hitler werde oft gegoogelt. Die Domain adolf-hitler.ch war eine
kommerziell motivierte Geschmacklosigkeit, mehr aber nicht.
5.2.2 Kontrolle über adolf-hitler.ch
Die Verbindung von adolf-hitler.ch zum Privatkläger besteht darin,
dass der Privatkläger im Jahr 2010 die X. AG gegründet hat und
nach der Gründung ein halbes Jahr lang deren einziger Verwaltungsrat
war. Dann wurde W. einziger Verwaltungsrat, das ist er bis heute. Die X. AG
hatte ihr Domizil von der Gründung bis im Jahr 2013 beim
Anwaltsbüro des Privatklägers. Dann verlegte die X. AG ihren
Sitz. All das ergibt sich aus den Handelsregistern der jeweiligen
Sitzkantone.
Das Kündigungsschreiben an W. im März 2009 zeigt, dass er die
Domain adolf-hitler.ch bereits beherrschte, bevor der Privatkläger die
X. AG für ihn gegründet hat. Dass die Stiftung SWITCH auf ihrer
Website noch im Sommer 2012 als Halter der Domain "X. AG Hermann Lei"
angab, war zumindest missverständlich. Einziger Verwaltungsrat der X.
AG war damals bereits seit gut zwei Jahren W. Die X. AG hatte lediglich ihr
Domizil beim Anwaltsbüro des Klägers. Das bedeutet im
Wesentlichen, dass jedermann der X. AG Mitteilungen rechtsgültig an
die Büroadresse des Privatklägers zustellen konnte. Dass der
Privatkläger die Domiziladresse zur Verfügung stellte, bedeutet
aber nicht, dass er in der X. AG das Sagen hatte.
Eine weiter gehende Verbindung des Privatklägers zu adolf-hitler.ch
haben die Recherchen des Beschuldigten nicht zu Tage gefördert.
Selbstverständlich sind die geschäftlichen Aktivitäten eines
Politikers legitimer Gegenstand öffentlicher Debatte. Dass der
Privatkläger als Verwaltungsrat und später als Domiziladresse
für eine Aktiengesellschaft wirkte, die sich aus kommerziellen
Gründen eine Geschmacklosigkeit mit der Domai adolf-hitler.ch
leistete, durfte der Beschuldigte veröffentlichen. Deren Urheber war
jedoch W., nicht der Privatkläger. Aus der Verbindung des
Privatklägers zu adolf-hitler.ch lässt sich nicht der Schluss
ziehen, er sei ein Neonazi, Revisionist oder dergleichen.
5.2.3 Umfeld des Privatklägers
Der Artikel hat auch ergeben, dass W. auf zahlreichen Blogs Ansichten
vertritt, die sich rechts vom bürgerlichen Mainstream bewegen. W.
unterhielt offenbar auch einen Blog, der die damalige Bundesrätin
Micheline Calmy-Rey verunglimpfte. Der Rechtsdienst des EDA wandte sich
deswegen an W., der Privatkläger kritisierte diese Intervention in
der Zeitung Schweizerzeit als "massiven
Einschüchterungsversuch". Der Artikel erwähnt weiter, dass der
Privatkläger einen Politiker der Schweizer Demokraten vor Gericht
verteidigte. Dieser hatte sich wegen Rassendiskriminierung zu
verantworten, weil er in der Parteizeitung [gemeint wohl: der Schweizer
Demokraten] gefordert hatte, keine Muslime einzubürgern. Die
Recherchen haben ergeben, dass sich im Umfeld des Privatklägers
Personen befinden, die prononciert rechts denken und sich auch
öffentlich so äussern. Das macht weder den Privatkläger,
noch W. oder den vom Privatkläger verteidigten Politiker zu
Anhängern oder Verharmlosern des Nationalsozialismus.
5.2.4 Zusammenfassung
Der Privatkläger ist kein Anhänger oder Verharmloser des
Nationalsozialismus. Die Recherchen des Beschuldigten haben dafür
keine ernsthaften Anhaltspunkte zu Tage gefördert. Dass der
Privatkläger Positionen rechts des bürgerlichen Mainstreams
vertritt, ändert daran nichts. Der Beschuldigte will denn auch keinen
entsprechenden Vorwurf erhoben haben. Er sieht in der Bezeichnung
"Dölf", die er weitergeleitet hat, lediglich einen Hinweis auf die
Angelegenheit mit der Hit-ler-Domain.
5.3 Wirkung auf den "Durchschnittsleser" als Massstab
5.3.1 Die Figur des Durchschnittslesers und ihre Fragwürdigkeit
Bei Veröffentlichungen, die von mehr als einer Hand voll Personen
wahrgenommen werden, lässt sich nicht bei jedem einzelnen Leser
feststellen, wie er einen Text tatsächlich verstanden hat.
Ausschlaggebend ist, wie ein "Durchschnittsleser" die fragliche
Äusserung versteht. Mit einzubeziehen ist der gesamte Kontext der
fraglichen Äusserung (zum Ganzen: BGE 127 III 481, E. 2b/aa, S. 487,
mit weiteren Hinweisen). Zahlreiche Medienjuristen kritisieren diese
Praxis. Die Frage, wie diese oder jene Äusserung auf den
durchschnittlichen Leser wirke, lasse sich nicht aufgrund der
Lebenserfahrung beurteilen, dafür sei eine vertiefte argumentative
Auseinandersetzung wenn nicht gar eine Publikumsbefragung notwendig (vgl.
act. 32 S. 6f. und MISCHA CHARLES SENN, Der "gedankenlose"
Durchschnittsleser als normative Figur?, medialex 1998 S. 150ff.).
Sicherlich sollen die Gerichte nicht einfach apodiktisch erklären,
der Durchschnittsleser verstehe einen Text so und nicht anders. Die
Gerichte sollen sich so konkret wie möglich damit auseinandersetzen,
wer eine Veröffentlichung wahrgenommen hat, welches Vorwissen die
Adressaten haben und welche Schlüsse sie ziehen. Publikumsbefragungen
an die Stelle richterlicher Überlegungen treten zu lassen, würde
das Problem aber nur verlagern: Würde man Versuchspersonen etwa den
fraglichen Retweet vorlegen, müsste das Gericht oder ein Gutachter ja
auch auswählen, was für Versuchspersonen repräsentativ
für die Follower des Beschuldigten oder jene von "NewsMän" sind.
Ferner wäre zu entscheiden, ob die Versuchspersonen den WoZ-Artikel
vorher zum Lesen erhalten oder nicht. Solch teuren Abklärungen mit
zweifelhaftem Beweiswert haben sich die Gerichte hierzulande stets mit
gutem Grund widersetzt.
5.3.2 Adressatenkreis des Retweets
Der Beschuldigte hat den Tweet von "NewsMän" an seine eigenen Follower
weitergeleitet. Dass damals rund 1500 Twitterer Follower des Beschuldigten
waren, verleitet dazu, die Reichweite des Retweets zu
überschätzen. Die wenigsten Twitterer schauen systematisch alles
an, was sich seit dem letzten Blick auf ihren Account getan hat. Die
meisten werfen nur einen Blick auf die neuesten Meldungen auf ihrem
Account, ohne zu den älteren hinunterzuscrollen. Wer vielen Personen
folgt, muss seinen Account genau im richtigen Moment anschauen, um die
Meldung des Beschuldigten überhaupt wahrzunehmen. Auch sind
längst nicht alle, die sich irgendwann einmal bei Twitter registriert
und die Tweets des Beschuldigten verfolgt haben, aktive Nutzer. Es ist gut
möglich, dass nur eine Hand voll oder nur ein paar Dutzend Follower
des Beschuldigten den fraglichen Retweet wahrgenommen haben. Allerdings
dürften diese sich nicht gross von den restlichen Followern
unterscheiden. Es lässt sich höchstens sagen, dass jene
Twitterer, die den Retweet tatsächlich wahrgenommen haben, im Zweifel
eher zu den interessierteren und zu jenen gehören, die häufig auf
ihren Twitter-Account schauen.
Der Beschuldigte hatte damals bereits weit mehr Follower, als durch
Familie, Freunde und Bekannte zu erklären sind. Die meisten
dürften Leserinnen und Leser sein, die seine Arbeit als Journalist
schätzen, ohne ihn persönlich zu kennen. Solche Follower haben
ein überdurchschnittliches Interesse am Zeitgeschehen. Eine gewisse
Überschneidung dürfte der Kreis der Follower des Beschuldigten
auch mit dem Kreis der Leserinnen und Leser der WochenZeitung haben. Dort
publiziert der Beschuldigte am meisten, so dass die meisten Follower beim
Lesen der WoZ begonnen haben, sich für seine Arbeit zu interessieren,
und dann begonnen haben, ihm auf Twitter zu folgen. Damit ist noch immer
recht wenig über den Kreis der Follower des Beschuldigten bekannt. Es
dürfte sich mehrheitlich um gut ausgebildete,
überdurchschnittlich am Zeitgeschehen interessierte und politisch
eher links stehende Leserinnen und Leser handeln.
5.3.3 Hermann "Dölf" Lei in den Augen der Follower des Beschuldigten
Wer von der ganzen Angelegenheit um die Hitler-Domain noch nie etwas
gehört oder alles bereits wieder vergessen hat, für den ist die
Bezeichnung "Hermann "Dölf" Lei" unverständlich. Die einzige
Persönlichkeit, die in den Medien regelmässig unter der
Bezeichnung "Dölf" erscheint, ist alt Bundesrat Adolf Ogi, der mit
dieser Sache überhaupt nichts zu tun hat.
Wer die Fakten rund um die Hitler-Domain ganz genau vor Augen hat, der wird
in der Bezeichnung "Dölf" lediglich eine Anspielung auf die vom
Beschuldigten veröffentlichte Angelegenheit erblicken. Die
Bezeichnung hätte dann etwa die Bedeutung "Hermann Lei, der mit der
Geschichte um adolf-hitler.ch". Wer vor Augen hat, dass die Verbindung des
Privatklägers zur Domain adolf-hitler.ch weit loser ist, als der erste
Anschein vermuten lässt und dass es sich dabei nicht um eine
Propaganda-Seite gehandelt hat, der wird in der Bezeichnung "Dölf"
nicht den Vorwurf erblicken, der Privatkläger sei ein verkappter Neonazi.
Diese beiden Extreme, überhaupt kein Vorwissen oder alle Fakten exakt
vor Augen, dürften jedoch beide nicht das Vorwissen des
durchschnittlichen Followers des Beschuldigten wiedergeben. Die meisten,
die sich für die Arbeit des Beschuldigten interessieren,
dürften die Geschichte um adolf-hitler.ch mitbekommen haben. Der
Artikel lag allerdings bereits einen Monat zurück. Auch im Kopf von
gebildeten Menschen mit regem Interesse an Politik verdrängen neuere
Ereignisse rasch, was vor einem Monat aktuell war. Zudem lesen die
wenigsten Menschen alle Artikel einer Zeitung, die sie abonniert haben
vom Anfang bis zum Ende. Aus diesem Grund kann sogar ein
missverständlicher Titel rechtswidrig sein, selbst wenn man bei der
Lektüre des ganzen Artikels ein korrektes Bild erhält (vgl. BGE
137 IV 313, E. 2.1.3., S. 315f. und die dort zitierten Entscheide). Das
Vorwissen des Durchschnittslesers dürfte sich deshalb darauf
beschränken, dass "irgendetwas war mit dem Privatkläger und
adolf-hitler.ch", ohne ganz genau im Gedächtnis abrufen zu
können, worin die Verbindung zwischen dem Privatkläger und
adolf-hitler.ch genau bestand. Der Beschuldigte kommentierte die Fakten
sinngemäss so, dass sich kein Nachweis dafür erbringen lasse,
der Privatkläger sei ein Anhänger oder Verharmloser des
Nationalsozialismus, die ganze Geschichte werfe aber viele offene Fragen
auf, zu denen sich der Privatkläger bedeckt halte. Wer diesen
Grundtenor des Artikels noch vor Augen hat, nicht aber die detaillierte
Herleitung dieser Einschätzung, der ist durchaus geneigt, "Hermann
"Dölf" Lei" als "Hermann Lei, der verkappte Neonazi" zu lesen. Dies
erst recht, da der Kreis der Follower des Beschuldigten im Durchschnitt
einem Politiker am rechten Rand der SVP wenig Wohlwollen entgegenbringen
dürfte.
Es ist nochmals zu betonen, dass eine detaillierte und in den Fakten
korrekte Darstellung der Verbindung des Privatklägers zu
adolf-hitler.ch zulässig war. Die Verkürzung dieser Diskussion
zum Namenszusatz "Dölf" einen Monat später, als nicht mehr alle
Fakten in allen Köpfen präsent waren, verletzte jedoch die
Persönlichkeit des Privatklägers. Im Kontext des einen Monat
zuvor erschienen Artikels des Beschuldigten ist der Zusatz als "der
verkappte Neonazi" zu deuten, nicht bloss als "der mit der Hitler-Domain".
5.4 Rechtsfolgen der Persönlichkeitsverletzung
5.4.1 Reaktionsmöglichkeiten des Gerichts
Als Folge einer Persönlichkeitsverletzung kann das Gericht jeden, der
daran mitgewirkt hat, verpflichten, eine Berichtigung oder das Urteil zu
veröffentlichen (Art. 28a Abs. 2 ZGB). Das Gericht kann ferner die
Widerrechtlichkeit einer Persönlichkeitsverletzung feststellen (Art.
28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB). Diese Ansprüche bestehen unabhängig
vom Verschulden und unabhängig von der Schwere der
Persönlichkeitsverletzung.
Sofern die Schwere der Persönlichkeitsverletzung es rechtfertigt,
kann das Gericht auch eine Geldsumme als Genugtuung zusprechen oder auf
eine andere Art der Genugtuung erkennen (Art. 49 Abs. 1 und Abs. 2 OR).
Auch eine Richtigstellung oder eine Veröffentlichung des Urteils
kommt als andere Form der Genugtuung in Frage. Der Anspruch auf Genugtuung
setzt neben der Schwere der Verletzung Verschulden voraus (zum Ganzen: BGE
131 III 26, E. 12.1 und E. 12.2, S. 29ff.).
Der Privatkläger hat auf Frage des Gerichts erklärt, er
könne sich auch eine andere Form der Genugtuung als Geld vorstellen.
Das Gericht könnte sogar von Amtes wegen auf eine andere Form der
Genugtuung erkennen (ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 4. Auflage, 2013, N 98
zu Art. 49 OR). Der Anwendungsbereich von Art. 49 Abs. 2 OR ist
beschränkt, gerade bei Ehrverletzungen kann aber eine immaterielle
Form der Genugtuung angemessener sein als Geld. Die Wahl zwischen den
verschiedenen Formen der Genugtuung ist ein Ermessensentscheid, der zu
begründen ist (BGE 131 III 26, E. 12.2.2, S. 31).
5.4.2 Voraussetzungen der Genugtuung (Art. 49 Abs. 1 und Abs. 2 OR)
Der implizit mit dem Retweet erhobene Vorwurf, der Privatkläger sei
ein Anhänger oder Verharmloser des Nationalsozialismus, verletzt
dessen Persönlichkeit schwer genug, um eine Genugtuung zu
rechtfertigen. Den Beschuldigten trifft ein Verschulden, zumindest in der
Form der Fahrlässigkeit. Er wusste wie kein zweiter, was seine
Recherchen ergeben hatten und was nicht. Er hätte bedenken
müssen, wie die Verkürzung seiner rechtmässigen
Berichterstattung zum Übernamen "Dölf" auch noch verstanden
werden kann, auch wenn er selbst darin nur einen Hinweis auf seinen Artikel
sehen will. Bezüglich der Schwere der
Persönlichkeitsverletzung ist immerhin auch festzuhalten, dass die
Reichweite seines Retweets beschränkt gewesen sein dürfte.
5.4.3 Geldsumme oder andere Form der Genugtuung
Der Privatkläger war Verwaltungsrat und später nur noch
Domizilgeber der X. AG, welche aus kommerziellen Gründen
adolf-hitler.ch aufschaltete, aber keine Propagandaseite betrieb. Die
Berichterstattung darüber war dem Privatkläger gegenüber
nicht sehr wohlwollend, aber rechtmässig. Die Pressefreiheit
schützt auch ein gewisses Mass an Zuspitzung, Übertreibung und
Ungenauigkeit. Als aktiver Politiker hatte es der Privatkläger
hinzunehmen, dass ein Journalist seine Geschäftstätigkeit
durchleuchtet. Der Ärger, der dadurch entsteht, dass der
Privatkläger seinen Namen immer wieder im Zusammenhang mit der
Hitler-Domain in der Zeitung lesen musste, ist nicht Folge des
rechtswidrigen Retweets. Darauf kann es bei der Festsetzung einer
Genugtuung nicht ankommen.
Den ursprünglichen Tweet von "NewsMän" und den Retweet des
Beschuldigten hat der Privatkläger fast zehn Monate lang
überhaupt nicht wahrgenommen und auch nicht darunter gelitten. Er
stiess nur darauf, weil er mit einer speziellen Suchmaschine die alten
Tweets des Beschuldigten durchstöbert hat. Seine spontane Reaktion auf
seinen Fund war in erster Linie Freude darüber, eine Äusserung
gefunden zu haben, die zu weit geht und gute Prozesschancen bietet. Als er
auf den Retweet stiess, schrieb er einem Bekannten, der sich mit Twitter besser auskannte: "Sali X. Ich glaub jetzt habe ich Hanimann am Wickel.
(…)". Unter dem rechtswidrigen Retweet hatte der Privatkläger
nicht zu leiden. Hinzu kommt, dass hier eine Äusserung, die zu weit
geht, in einer an sich legitimen politischen Debatte gefallen ist. Auch
bei der Auslegung des Zivilrechts ist die Freiheit der
Meinungsäusserung mit zu bedenken. Mit der Beteiligung an politischen
Debatten auf Twitter sollten finanzielle Risiken nur zurückhaltend
verknüpft werden. Geld als Genugtuung wäre eher angemessen bei
Cybermobbing ohne politischen Kontext.
Der Privatkläger ist nicht auf Geld als Trost und Ausgleich für
seinen Ärger angewiesen, der nicht Folge des Retweets ist. Weit
besser gedient ist ihm mit einer Korrektur des falschen Eindrucks, den der
Übername "Dölf" geschaffen hat (vgl. BGE 131 III 26, E. 12.2.2,
S. 31). Der Beschuldigte ist deshalb zur Wiedergutmachung der
Persönlichkeitsverletzung zu verpflichten, dieses Urteil auf Twitter
bekannt zu machen. So lässt sich der Adressatenkreis des
ursprünglichen Retweets am Besten erreichen. Mit dieser für
den Privatkläger wirksamen und für den Beschuldigten
kostengünstigen Art der Genugtuung lassen sich die legitimen
Anliegen, den guten Ruf zu schützen und Debatten im Internet nicht an
unüberschaubare Risiken zu knüpfen, am ehesten in Einklang
bringen.
Eine Kurznachricht auf Twitter umfasst höchstens 140 Zeichen. Das
lässt keinen Raum für eine differenzierte Darlegung der
Überlegungen des Gerichts. Der Tweet muss deshalb einen Hinweis auf
die Urteilsnummer enthalten. Damit finden Interessierte die
Berichterstattung in den Medien und können sich selbst ein Bild
machen. Auch der Freispruch ist zu erwähnen. Wer sich für die
Angelegenheit interessiert, wird vielleicht andernorts eine Nachricht vom
Freispruch ohne Bericht über die zivilrechtliche Regelung finden und
denken, das Erkenntnis betreffend Persönlichkeitsverletzung sei
überholt. Diese Überlegungen führen zur Verpflichtung des
Beschuldigten, auf seinem Twitter-Account folgende Meldung zu
veröffentlichen: "Bezirksgericht Zürich: Retweet von "Hermann
<Dölf> Lei" nicht strafbar, aber
persönlichkeitsverletzend. Urteil Nr. GG150250-L."
6. Kosten- und Entschädigungsfolgen
Wird die beschuldigte Person freigesprochen, so können ihr die
Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn sie
rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt hat (Art.
426 Abs. 2 StPO). Eine Kostenpflicht für unnötige Verfahren ist
jedoch auch bei schuldhafter Verursachung ausgeschlossen (Art. 426 Abs. 3
lit. a StPO).
Der Beschuldigte hat die Persönlichkeit des Privatklägers durch
seinen Retweet verletzt und damit rechtswidrig gehandelt. Ohne den Retweet
hätte es das Strafverfahren nicht gegeben. Aufgrund von Art. 28 StGB
war der Retweet jedoch kein zureichender Grund für ein
Strafverfahren. Zwischen dem rechtswidrigen Retweet des Beschuldigten und
dem Strafverfahren besteht ein natürlicher, aber kein adäquater
Kausalzusammenhang, so dass der Beschuldigte nicht kostenpflichtig wird.
Die Kosten, einschliesslich jener für das obergerichtliche
Beschwerdeverfahren, sind auf die Gerichtskasse zu nehmen. Dem
entsprechend ist der Beschuldigte aus der Gerichtskasse zu
entschädigen (Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO). Da dem Beschuldigten keine
Kosten auferlegt werden können, kann er auch nicht verurteilt werden,
den Privatkläger für seinen Aufwand zu entschädigen (Art.
433 Abs. 1 lit. b StPO). Es muss mit den regulären Kosten und
Entschädigungsfolgen eines Freispruchs sein Bewenden haben.
[1]
Urteil des Zürcher Obergerichts vom 26. Januar 2016, in: ZR
115/2016, S. 101-113.
[2]
Peter Studer, Retweet-Urteil: Journalist durch Strafrechts-Richter wegen
(zivilrechtlicher) Persönlichkeitsverletzung verurteilt,
Medialex 2016, 127 ff.; Christian Schwarzenegger, Twibel -
«Tweets» und «Retweets» mit ehrenrührigem
Inhalt aus strafrechtlicher Sicht, in: Daniel Jositsch/Christian
Schwarzenegger/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Festschrift für
Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 217-231 (zit. Twibel).
Während Studer das Urteil, soweit man seinem Beitrag eine
Wertung entnehmen kann, es im hier interessierenden Bereich
positiv zu sehen scheint, hebt Schwarzenegger zurecht dessen
Schwächen hervor.
[3]
Studer
(Fn. 2), S. 130, Nachtrag der Redaktion.
[4]
Die zahlreichen Entscheide zum «Kristallnachttweet» sind
deshalb vorliegend ohne Bedeutung, weil der Verstoss gegen Art. 261 bis StGB (Rassendiskriminierung) gerade vom
Anwendungsbereich des Art. 28 StGB ausgenommen ist; dazu kritisch Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2), S. 226 mit Fn. 41.
[5]
Bundesgesetz vom 10. Oktober 1997 über das Schweizerische
Strafgesetzbuch (StGB, SR 311.0); Botschaft über die Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Medienstraf
und Verfahrensrecht) vom 17. Juni 1996, (BBl 1996 IV 525) S. 525 ff.
[6]
Vgl. zur ursprünglichen Gesetzesfassung z.B. Paul Logoz, Commentaire du Code Pénal Suisse,
partie générale (Art. 1 à 110), Neuchâtel/Paris
1939, S. 111-118 (n.b.: Dieses Buch erschien vor Inkrafttreten des
StGB).
[8]
Schweizerisches Strafgesetzbuch und Militärstrafgesetz,
Änderungen vom 24. März 2006, (AS 2006 3459).
[9]
Christian Schwarzenegger
(Fn. 2) und schon fünf Jahre zuvor ders., Der
Anwendungsbereich des Medienstrafrechts (Art. 28, 322bis
StGB), in: Liber amicorum für Andreas Donatsch, hrsg. von Angela Cavallo et al., Zürich 2012, S.165 ff. (zit.
Anwendungsbereich).
[11]
Stéphane Werly, in: Robert Roth/Laurent Moreillon, Commentaire Romand, Code
pénal I, Basel 2009, Rz 2.
[12]
Zu ergänzen: jedenfalls nicht per se, sondern höchstens
sehr ausnahmsweise und unter besonderen Umständen
[13]
Franz Zeller, Basler Kommentar, Strafrecht I, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 28a
N 18.
[14]
Logoz
(Fn. 7), hält denn auch auf S. 114 fest, dass eine
Visitenkarte zwar auch ein Druckerzeugnis sei, aber keine
Publikation im Sinne dieser Bestimmung.
[15]
Ähnlich Schwarzenegger, Anwendungsbereich (Fn. 9), S.
169-172.
[16]
Welcher Gesichtspunkt in der vorliegend konsultierten Lehre nicht
vertieft worden zu sein scheint.
[17]
Dass Tweet und Retweet unbezweifelbar
«Veröffentlichung» sind, ist für die Frage des
Medienbegriffs nicht entscheidend; gl.M. Schwarzenegger,
Twibel (Fn. 2), S. 227.
[18]
So ausdrücklich Schwarzenegger, Anwendungsbereich
(Fn. 9), S. 174.
[19]
Zeller
(Fn. 13), Art. 28 N 44.
[20]
Schwarzenegger, Anwendungsbereich (Fn. 9), hält auf S. 174
zutreffend fest, dass niemand auf die Idee käme, den für
die Verteilung gedruckter Zeitungen verwendeten Lastwagen als
«Medium» zu bezeichnen; wendet man diesen Gedanken, dass
jedenfalls das blosse «Transportmittel» nicht mit dem
Medium gleichzusetzen ist, auf «Tweets»,
«Retweets» und «Twitter» an, so scheint mit der
Schluss unausweichlich, dass «Twitter» schon, aber nicht
allein deshalb, kein Medium ist. In Twibel, verwendet Schwarzenegger (Fn. 2) auf S. 229 das richtige Bild, dass
«Twitter» allenfalls die «Wand», nicht aber das
«Plakat» sei.
[21]
Wie Schwarzenengger, Twibel (Fn. 2), auf S. 228
festhält, ist diese Kommentierung neben dem
«Plakatentscheid»
BGE 128 IV 53
ff. die praktisch einzige Quelle, die das Einzelgericht für
seine Überlegungen anführt.
[23]
Gl. M. Schwarzenegger, Anwendungsbereich (Fn. 9), S. 224.
[24]
So zu lesen auf Twitter.com,
abgerufen am 23. August 2017 um 13.28 Uhr.
[25]
Vgl. Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2), S. 218 f.
[27]
Die auch Schwarzenegger, Anwendungsbereich (Fn. 9), S. 169
ff. und S. 187 f. zurecht betont.
[28]
Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2), S. 229.
[29]
Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2), S. 229.
[30]
Sondern nur für die Frage der Veröffentlichung.
[31]
Stefan Trechsel/Peter Noll/Mark Pieth, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I, 7. Aufl.
Zürich 2017, S. 229.
[32]
Günter Stratenwerth/Wolfgang Wohlers, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 3. Aufl., Bern
2013, Art. 28 N 2.
[33]
Andreas Donatsch, in Donatsch/Flachsmann/ Hug/Weder (Hrsg.), StGB-Kommentar, 19.
Aufl., Zürich 2013, Art. 28 N 2.
[34]
Christian Favre/Marc Pellet/Patrick Stoudmann
(Hrsg.), Code pénal annoté, 3. Aufl., Lausanne 2011 Art.
28 N 1.1.
[35]
Michel Dupuis/Laurent Moreillon/Christophe Piguet/Séverine
Berger/Miriam Mazou/Virginie Rodigari
(Hrsg.), Petit commentaire, Code pénal, 2. Aufl., Basel 2017,
Art. 28 N 4.
[36]
Vgl. Favre et al. (Fn. 34), a.a.O., Art. 28 N 18 ff.
[37]
Werly
(Fn. 11), Art. 28 N 14 f.
[38]
Denis Barrelet/Stéphane Werly, Droit de la communication, 2. Aufl., Bern 2011, N 1361 und N
1395.
[39]
José Hurtado Pozo, Droit pénal, Zürich, 2009, N 1277.
[40]
Schwarzenegger, Anwendungsbereich (Fn. 9), S. 173 f., Schwarzenegger,
Twibel (Fn. 2), S. 223.
[41]
Im Ergebnis gleich Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2).
[42]
Zweifelnd auch Studer (Fn. 2), S. 130, und Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2), S. 222.
[43]
Schwarzenegger, Twibel (Fn. 2), S. 219 mit weiteren Hinweisen zur Vorgeschichte
des Tweets bzw. Retweets.