Vaterschaftsurlaub, what else?
Zum Schweizerischen Reformbedarf im Lichte der Markin
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte
Irene Grohsmann
Sowohl gemäss der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als auch gestützt
auf die Schweizerische Bundesverfassung dürfen Frau und Mann
nicht aufgrund traditioneller Rollenverteilungen und
Geschlechterstereotypen unterschiedlich behandelt werden. Seit den
1990er Jahren hat ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden,
welcher die Rolle des Vaters stärkt. Dies hat auch in den
Rechtsordnungen der Mehrzahl der europäischen Staaten und der
Rechtsprechung des EGMR Niederschlag gefunden. Die aktuelle
Regelung in der Schweiz, wonach nur Mütter einen bezahlten
Urlaub nach der Geburt eines Kindes erhalten können, beruht
auf traditionellen Vorstellungen über die Rolle von Frauen als
Betreuerinnen der Kinder und Männer als Ernährer. Diese
sind vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels in Europa
und der Schweiz nicht mehr tragbar.
Zitiervorschlag: Irene Grohsmann, Vaterschaftsurlaub, what else?, in: sui-generis 2014, S. 33
URL: sui-generis.ch/3
DOI:
https://doi.org/10.21257/sg.3
I. Einleitung
In der Schweiz steht Vätern nach der Geburt ihres Kindes
bekanntlich kein gesetzlich geregelter Vaterschaftsurlaub[1] zur Verfügung.
Vielmehr dürfen Väter zur Geburt ihres Kindes, gleich
wie z.B. für einen Umzug, bloss einen bis zwei übliche freie
Tage nach Art. 329 Abs. 3 OR[2] beziehen. Solche
übliche freie und bezahlte Tage stehen allen Arbeitnehmenden zur
Erledigung von persönlichen Angelegenheiten oder bei
Familienereignissen (z.B. Hochzeit, Beerdigung) zu. Diese Zeit ist
für einen Umzug oder eine Hochzeitsfeier durchaus
angemessen, finden diese Ereignisse doch nach ein bis zwei Tagen einen
Abschluss. Anderes müsste nach der Geburt eines Kindes gelten.
Obwohl die Geburt an sich nach einigen Stunden vorbei ist, beginnt erst
danach eine intensive Zeit für Vater und Mutter. Die Rechtsordnung
anerkennt dies bisher nur für die Mutter und geht erstens davon
aus, dass diese in den ersten Wochen das Kind hauptsächlich
alleine betreuen muss und eine soziale Bindung mit dem Kind aufbauen
soll und zweitens, dass der Vater kein vergleichbares Interesse hat.
Diese Einschätzung beruht auf der traditionellen Rollenverteilung
zwischen Frau und Mann; diese gilt heute als überholt. Immer mehr
Männer, Frauen, Väter und Mütter gehen heute davon aus,
dass die Kinderbetreuung nicht alleine Aufgabe der Mutter sein soll.
Laut einer Studie eines grossen Partnervermittlungsportals zu Beginn
dieses Jahres befürworten 73% der 1'004 befragten Personen einen
gesetzlich verankerten und bezahlten Vaterschaftsurlaub. Einen
unbezahlten Vaterschaftsurlaub können sich 59% der Befragten
vorstellen, während 41% angaben, sich unbezahlten
Vaterschaftsurlaub schlicht nicht leisten zu können[3].
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in
einem Leiturteil 2012[4]
festgehalten, dass Väter und Mütter nicht gestützt auf
Geschlechterstereotypen unterschiedliche Rechte erhalten dürfen
und ihnen unter denselben Voraussetzungen Urlaub zur Betreuung ihrer
Kinder gewährt werden muss. Dieser Beitrag befasst sich mit den
Auswirkungen, welche dieses Urteil auf die Schweizerische Rechtsordnung
haben kann und zeigt auf, dass sowohl die politischen als auch
rechtlichen Vorzeichen in der Schweiz für eine Einführung
eines Vaterschaftsurlaubs gut stehen.
II. Warum Vaterschaftsurlaub?
Studien gehen davon aus, dass ein Zusammenhang besteht zwischen
Vaterschaftsurlaub, der Übernahme von Familienarbeit durch
Männer und der Entwicklung eines Kindes. Väter, welche
unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes, insbesondere während
zwei oder mehr Wochen, eine berufliche Auszeit nehmen, sind auch
später mehr in das Leben ihrer Kinder involviert. Dies kann
insbesondere positive Auswirkungen auf die Geschlechtergleichstellung
zu Hause und damit auch auf die Geschlechtergleichstellung im
Erwerbsleben haben[5]:
«By drawing fathers into the daily realities of childcare,
free of workplace constraints, extended time off [immediately after
the birth] provides the space necessary for fathers to develop the
parenting skills and sense of responsibility that then allows them
to be active co-parents rather than helpers to their female
partners. This shift from a manager-helper dynamic to that of
co-parenting creates the opportunity for the development of a more
gender-equitable division of labour."[6]
1. Gleichstellungspolitische Gründe - Neuordnung der
traditionellen Rollenverteilung
Annahmen, dass Männer auf die Rolle des Ernährers der Familie
festgelegt sind, sind ausserordentlich hartnäckig und führen
dazu, dass die Rolle des Mannes als Vater und Betreuer seiner Kinder
ignoriert wird. Für Väter, die sich gerne mehr um ihre Kinder
kümmern möchten, stellt diese Rollenverteilung ein grosses
Hindernis dar. Gestützt auf die Prämisse, die
Wertschätzung von Männern hänge von ihrer Leistung im
Erwerbsleben ab, stehen für Männer einerseits
ausserordentlich wenige Möglichkeiten zur Verfügung, sich
neben dem Erwerbsleben auch in das Familienleben einzugliedern.
Andererseits führt sie dazu, dass die bestehenden
Möglichkeiten vermehrt von Frauen wahrgenommen werden und die
Hürde für Männer damit noch grösser wird,
orientieren sich diese doch in ihren Entscheidungen an ihren
männlichen Kollegen, Verwandten und Vorgesetzten (sog.
«sozialer Schneeballeffekt»). Ein gesetzlich verankerter
bezahlter Vaterschaftsurlaub gibt Vätern einen allgemein
anerkannten und gesellschaftlich akzeptierten Anspruch auf Achtung
ihrer familiären Interessen und kann zu einer egalitären
Aufteilung der Familien- und Hausarbeit und damit zum Abbau von
geschlechterstereotypen Rollenbildern beitragen[7].
2. Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Der Bundesrat bestätigte in seinem Bericht vom 30. Oktober 2013
zum Vaterschafts- und Elternurlaub[8], dass
Vaterschaftsurlaub positive Auswirkungen auf die Gleichstellung im
Erwerbsleben haben kann:
«Es hat sich gezeigt, dass ein solcher Urlaub zu einer
partnerschaftlicheren Rollenteilung in der Familie beitragen kann,
indem er der Mutter und dem Vater bereits unmittelbar nach der
Geburt die Möglichkeit eröffnet, sich intensiv an der
Betreuung und Erziehung des Kindes sowie der Hausarbeit zu
beteiligen. Beide Eltern können ihre familiären Aufgaben
wahrnehmen, ohne dass sie gezwungen werden, ihre
Erwerbstätigkeit zugunsten der Familie aufzugeben. Somit
zählt der Vaterschafts- respektive Elternurlaub zu den
Massnahmen, welche die Vereinbarkeit von Familie und
Erwerbstätigkeit für junge Familien zu verbessern
vermögen.»[9]
Dies zahlt sich auch für Arbeitgebende (finanziell) aus.
Unternehmen, die heute freiwillig Vaterschaftsurlaub
gewähren, berichten von mehr Zufriedenheit und weniger
Krankeitsabwesenheiten und Fluktuation der Mitarbeitenden[10].
III. Der Fall Markin gegen Russland - Europäischer Gerichtshof
für Menschenrechte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat
sich in zwei[11]
Entscheiden mit dem Thema Vaterschaftsurlaub befasst. Die eingereichten
Beschwerden stützten sich jeweils auf das Diskriminierungsverbot
(Art. 14 EMRK[12]) und
das Recht auf Familienleben, welches durch Art. 8 EMRK geschützt
ist. Während der EGMR 1998 im Urteil Petrovic gegen
Österreich[13] die
Klage eines Vaters auf Beanspruchung der nur Frauen zustehenden
finanziellen Unterstützung für den Karenzurlaub noch
abgewiesen hatte, änderte er im Lichte der Entwicklungen in den
Europaratsstaaten seine Rechtsprechung.
Herr Petrovic hatte nach der Geburt seines Kindes im Februar 1989
Antrag auf sog. «Karenzurlaubsgeld» gestellt, da er, und
nicht seine Frau, die Karenz in Anspruch nahm. Sein Gesuch wurde
abgewiesen mit der Begründung, das Karenzurlaubsgeld stehe nur der
Mutter zu. Der mit dem Fall befasste EGMR führte damals aus, dass
eine unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern aufgrund
des Geschlechts vorliege. Der Fall Petrovic spielte sich jedoch Ende
der 1980er Jahre ab. Damals bestand im Hinblick auf gesetzliche
Regelungen der bezahlten Karenz in den Konventionsstaaten noch keine
weitgehende Übereinstimmung. Entsprechend führte der
Gerichtshof zu dieser Zeit aus, dass die Ablehnung des Antrags auf
Gewährung von Karenzurlaubsgeld im Bereich des staatlichen
Ermessenspielraums lag, welcher den Konventionsstaaten zur Beurteilung
der Frage, ob und in welchem Umfang Unterschiede in ansonsten
ähnlichen Situationen eine unterschiedliche rechtliche Behandlung
rechtfertigen, eingeräumt wird. Damit stellte der EGMR am 27.
März 1998 keine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK fest[14].
Am 20. März 2012 urteile der Gerichtshof im Fall Markin gegen
Russland[15], dass
Regelungen, durch welche Frauen und Männer unterschiedlich
behandelt werden, nicht auf Geschlechterstereotypen basieren
dürfen. Staaten, die einen Elternurlaub vorsehen, müssen
diesen Mutter und Vater unter den gleichen Voraussetzungen
gewähren. Der Ermessensspielraum der Staaten ist damit heute enger
als noch zur Zeit des Petrovic Urteils.
1. Ein russischer Soldat ersucht um Vaterschaftsurlaub
In der Sache ging es um Konstantin Markin, ein Angehöriger der
russischen Armee. Am 30. September 2005 gebar seine Ehefrau ihr drittes
gemeinsames Kind. Gleichentags wurde die Ehe geschieden und Herr Markin
übernahm das alleinige Sorgerecht für alle drei Kinder. Am
11. Oktober 2005 ersuchte Herr Markin beim Leiter seiner
militärischen Abteilung um die Gewährung von drei Jahren
Elternurlaub, welcher in Russland gemäss Art. 255 und 256 des
russischen Arbeitsgesetzes von 2001 Frauen und Männern zusteht.
Sein Gesuch wurde jedoch abgelehnt mit der Begründung, dass ein
dreijähriger Elternurlaub nur weiblichen Armeeangehörigen
zustehe. Männliche Soldaten erhielten grundsätzlich keinen
Vaterschaftsurlaub. Wenn die Mutter des Kindes bei der Geburt sterbe
oder der Vater für ein Kind unter 14 Jahren alleine verantwortlich
sei (z.B. weil die Mutter verstorben ist oder der Vater das alleinige
Sorgerecht erhalten hat), könne ihnen ein Urlaub von drei Monaten
zugesprochen werden, um die Betreuung der Kinder zu organisieren oder
um zu entscheiden, aus der Armee auszutreten. Männliche
Armeeangehörige würden insofern sowohl anders als weibliche
Armeeangehörige, als auch anders als die männliche
Zivilbevölkerung behandelt[16].
Gegen diesen Bescheid erhob Herr Markin innerstaatlich Beschwerde und
brachte vor, die Weigerung, ihm drei Jahre Vaterschaftsurlaub zu
gewähren, verletze den verfassungsmässigen Grundsatz der
Gleichbehandlung von Frau und Mann. Nach Durchlaufen des
innerstaatlichen Instanzenzugs gelangte er schliesslich am 21. Mai 2006
an den EGMR[17] und
rügte eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot)
i.V.m. Art. 8 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben). Als
männlicher Angehöriger des Militärs stehe ihm der Bezug
eines dreijährigen Elternurlaubs nicht zu, während dieser
weiblichen Angehörigen des Militärs gewährt würde.
Diese Regelung beruhe auf einer geschlechterstereotypen
Rollenaufteilung, die Männern die Aufgabe des Versorgers und
Frauen die Aufgabe der Kinderbetreuerin zuweise. Damit würden
sowohl die Väter (in Bezug auf ihr Familienleben) als auch die
Mütter (in Bezug auf ihr Erwerbsleben) benachteiligt. Die
Weigerung, ihm gestützt auf sein Geschlecht den Bezug von Urlaub
zur Betreuung seines Kindes zu gewähren, könne nicht mit
objektiven Gründen gerechtfertigt werden und stelle daher eine
Diskriminierung dar[18]. Damit könne dem Einwand Russlands, Frauen werde im Zusammenhang
mit Mutterschaft eine «besondere soziale Rolle»[19] zu teil, welche
die Ungleichbehandlung rechtfertige, nicht gefolgt werden.
2. Erwägungen des EGMR
a. Schutzbereich Familienleben Art. 8 EMRK
Gemäss Art. 8 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres
Familienlebens. Geschützt sind tatsächlich gepflegte
Beziehungen innerhalb der Kernfamilie (Eltern, Kinder), unter
Umständen auch weitere Beziehungen (z.B. zu den Grosseltern). Die
Bestimmung begründet ein Recht auf Zusammenleben und auf
persönliche Kontakte unter den Familienmitgliedern[20].
Der Gerichtshof führte aus, dass aus dem Recht auf Familienleben
keine positive Leistungspflicht des Staates fliesse, bezahlten
Elternurlaub zur Verfügung zu stellen. Ein Recht auf Elternurlaub
könne daher aus Art. 8 EMRK nicht abgeleitet werden. Dennoch sei
Art. 8 EMRK auf Elternurlaub anwendbar: Werde einem Elternteil die
Möglichkeit eines Urlaubs gegeben, habe dieser gewährte
Elternurlaub und die entsprechenden finanziellen Beiträge
Auswirkungen auf das Familienleben und beeinflusse zwangsläufig
dessen Organisation. Wenn ein Staat Elternurlaub vorsehe, müsse
dieser Frauen und Männern diskriminierungsfrei gewährt werden[21].
b. Diskriminierungsverbot Art. 14 EMRK
Frauen und Männer als Kinderbetreuer in vergleichbarer
Situation
Laut dem Gerichtshof befänden sich Männer und Frauen im
Zusammenhang mit Elternurlaub in vergleichbaren Situationen. Es
müsse unterschieden werden zwischen der Zeit nach der Geburt,
welche die Frau biologisch bedingt zur Erholung von den Strapazen der
Geburt benötige und der Zeit, welche beiden Elternteilen zur
Pflege und Herstellung einer persönlichen Beziehung mit dem Kind
diene. In dieser zweiten Phase könne nicht mehr mit biologischen
Gründen argumentiert werden, sondern Frau und Mann seien in ihrer
Rolle als Betreuungspersonen des Kindes einander gleichgestellt
(«similarly placed»)[22]. Im vorliegenden
Fall handle es sich daher um Beschränkungen des Rechts auf Privat-
und Familienlebens des Vaters, welche nur durch objektive und
vernünftige Gründe gerechtfertigt werden können[23].
Gesellschaftliche Entwicklung hin zum Elternurlaub
Bezugnehmend auf das Argument Russlands, auch andere Europaratsstaaten
gewährten männlichen Angehörigen der Armee keinen
Elternurlaub, verwies der EGMR auf sein Urteil Petrovic gegen
Österreich aus dem Jahre 1998 und die Entwicklung, welche seither
in Europa stattgefunden habe. 1998 befand der EGMR noch, dass keine
einheitliche europäische Praxis betreffend der Regelung von
Elternurlaub für Väter auszumachen sein, da in einer Mehrzahl
der Europaratsstaaten der Bezug von bezahltem Elternurlaub für
Väter nicht vorgesehen war. Entsprechend sei der
Ermessensspielraum der Staaten grösser gewesen als bei Vorliegen
eines allgemeinen Konsenses. Seither hätten sich die sozialen
Gegebenheiten und mit ihr die Rechtsordnungen der Mehrheit der
europäischen Staaten jedoch gewandelt. Die Rechtsordnungen der
meisten Europaratsstaaten gewährten heute sowohl Frauen als auch
Männern den Bezug von Elternurlaub, während Staaten, die
Elternurlaub nur für Frauen vorsehen, in der Minderheit seien.
Gleiches gelte im Übrigen für Angehörige der Armee.
Diese Entwicklung zeige, dass sich die europäischen Gesellschaften
in Richtung ausgeglichener Teilung der Verantwortlichkeit für die
Betreuung von Kindern bewegen und die Rolle von Männern als
Betreuer an Anerkennung gewonnen habe. Diese umfassende und
fortlaufende Entwicklung könne der Gerichtshof nicht ignorieren[24].
Traditionelle Rollenbilder keine Rechtfertigung
Die unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern könne
ausserdem nicht durch Berufung auf traditionelle Rollenbilder und
Geschlechterstereotypen gerechtfertigt werden. Gleich wie Regelungen
gestützt auf Stereotypen betreffend Herkunft, sexuelle
Orientierung oder Hautfarbe seien Ungleichbehandlungen von Frauen und
Männern, die nur auf der Vorstellung des Mannes als
Haupternährer der Familie und der Frau als Betreuerin der Kinder
beruhen, nicht zulässig. Der Gerichtshof äusserte hier
ausdrücklich seine Ansicht, dass diese Unterscheidungen dazu
beitrügen, die Existenz von Geschlechterstereotypen
weiterzuführen, was sowohl negative Auswirkungen auf die
Karriere von Frauen als auch auf das Familienleben von Männern
habe[25].
c. Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK
Der Gerichtshof kam mit 16 gegen eine Stimme zum Schluss, dass die
traditionelle Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern in der
Gesellschaft nicht dazu dienen könne, den Ausschluss der
Männer, inklusive jener, die in der Armee dienten, vom Recht auf
Elternurlaub zu rechtfertigen. Damit verletze die gesetzliche Regelung
Russlands, nur weiblichen Angehörigen der Armee den Bezug eines
dreijährigen Elternurlaubs zu gewähren, das Recht auf
Familienleben des Beschwerdeführers wegen Diskriminierung aufgrund
seines Geschlechts (Verletzung von Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art.
8 EMRK)[26].
IV. Vaterschaftsurlaub in der Welt und Europa
Bezahlter Vaterschaftsurlaub hat heute in 71 Ländern der Welt[27] eine gesetzliche
Grundlage. In Afrika gewähren 28 Staaten[28] den Vätern
einen bezahlten Urlaub von einem bis 15 Tagen, in Asien kennen sechs
Staaten[29] einen
bezahlten Vaterschaftsurlaub von einem bis 10 Tage. In Osteuropa und
Zentralasien steht Vätern in drei Staaten[30] bezahlter Urlaub
von einem bis mindestens 16 Tagen zu, in Mittel- und Südamerika
und der Karibik kann in 11 Staaten bezahlter Vaterschaftsurlaub von
einem Tag bis zwei Wochen bezogen werden[31]. Im Mittleren
Osten kennt nur ein Staat[32] einen bezahlten
Vaterschaftstag. In Westeuropa, Nordamerika und Australien/Neuseeland
gewähren 22 Staaten[33] mit einem bis zu
mehr als 16 bezahlten Tagen einen Vaterschaftsurlaub.
Die meisten europäischen Staaten kennen bezahlten
Vaterschaftsurlaub von mehr als zwei Tagen und/oder bezahlten
Elternurlaub[34]:
Land
|
Dauer Vaterschaftsurlaub
|
Bezahlung in % des Lohns
|
Dauer Elternurlaub[35]
|
Bezahlung in % des Lohns
|
Belgien
|
10 Tage
|
100% erste 3 Tage, danach 82%[36]
|
17 Wochen
|
Pauschalbetrag
|
Dänemark
|
2 Wochen
|
100 %
|
32 Wochen
|
100 %
|
Deutschland
|
-
|
-
|
52 Wochen
|
67 %
|
Finnland
|
54 Tage
|
70 %
|
25 Wochen
|
70 %
|
Frankreich
|
11 Tage
|
100 %
|
26 Wochen
|
Pauschalbetrag
|
Grossbritannien
|
2 Wochen
|
90 %
|
13 Wochen
|
Unbezahlt
|
Island
|
13 Wochen
|
80 %
|
13 Wochen
|
80%
|
Italien
|
1 Tag
|
100 %
|
26 Wochen
|
30 %
|
Luxemburg
|
2 Tage
|
100 %
|
26 Wochen
|
Pauschalbetrag
|
Norwegen
|
14 Tage
|
unbezahlt
|
49-59 Wo[37]
|
80-100 %
|
Österreich
|
-
|
-
|
104 Wochen
|
Pauschalbetrag
|
Polen
|
14 Tage
|
100 %
|
104 Wochen
|
60 % während 26 Wochen[38]
|
Portugal
|
20 Tage
|
100 %
|
17-21 Wochen
|
80-100 %
|
Schweden
|
10 Tage
|
80 %
|
80 Wochen[39]
|
80% während 65 Wochen[40]
|
Spanien
|
15 Tage
|
100 %
|
156 Wochen
|
Unbezahlt
|
Tschechien
|
-
|
-
|
155 Wochen
|
Pauschalbetrag
|
Ungarn
|
5 Tage
|
100 %
|
104 Wochen
|
70 %
|
Schweiz
|
-
|
-
|
-
|
-
|
USA
|
-
|
-
|
12 Wochen
|
Unbezahlt
|
Türkei
|
-
|
-
|
-
|
-
|
Russland
|
-
|
-
|
156 Wochen
|
40 % während ersten 78 Wo
|
Tabelle 1, gestützt auf Daten der ILO und der OECD.
Auch der EGMR hatte im Rahmen des Markin Urteils eine vergleichende
Studie der Gesetzgebungen von 33 Europaratssaaten vorgenommen. Er kam
zu dem Schluss, dass 28 Staaten sowohl Urlaub für Väter als
auch Elternurlaub vorsehen, welche wie gesehen unterschiedlich
ausgestaltet sein können[41].
V. Bedeutung für die Schweiz
1. Gleichbehandlung von Frau und Mann
Wie die Europäische Menschenrechtskonvention kennt die
Schweizerische Bundesverfassung ein Verbot der Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts (Art. 8 Abs. 2 BV[42]). Ausserdem
verpflichtet Art. 8 Abs. 3 BV alle staatlichen Behörden, Mann und
Frau gleichberechtigt zu behandeln und neben der rechtlichen auch
für die soziale Gleichstellung der Geschlechter zu sorgen[43]. Damit ergibt sich
die staatliche Aufgabe, tatsächliche Gleichstellung in der
sozialen Wirklichkeit zu schaffen[44]. Gemäss
bundesgerichtlicher Rechtsprechung müssen Frau und Mann in allen
Bereichen gleich behandelt werden, ohne Rücksicht auf
gesellschaftliche Verhältnisse und Vorstellungen.
Differenzierungen durch die Rechtsordnung gestützt auf das
Geschlecht sind grundsätzlich unzulässig[45]. Zulässig ist
«eine unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau nur noch dann,
wenn auf dem Geschlecht beruhende biologische oder funktionale
Unterschiede eine Gleichbehandlung absolut ausschliessen.»[46] Wegen dem in Art.
8 Abs. 3 BV verankerten Gleichbehandlungsgebot können namentlich
traditionelle Rollenverteilungen nicht als Rechtfertigung für eine
Ungleichbehandlung herangezogen werden[47].
Ähnlich wie der EGMR im Urteil Markin gegen Russland verbietet
damit auch die schweizerische Rechtsordnung eine ungleiche Behandlung
von Frau und Mann gestützt auf traditionelle Geschlechterrollen
und Geschlechterstereotypen und lässt geschlechtsbezogene
Regelungen nur im absoluten Ausnahmefall zu, wenn biologische
Unterschiede keine andere Wahl lassen.
2. Geltende Regelung zum Mutterschaftsurlaub
In der Schweiz wurde am 1. Januar 2005 die
Mutterschaftsentschädigung und damit ein bezahlter
Mutterschaftsurlaub eingeführt. Nachdem 2002 die Parlamentarische
Initiative von Pierre Triponez[48] gutgeheissen
wurde, nahm das schweizerische Stimmvolk in der Referendumsabstimmung
vom 26. September 2004 die Änderung des Bundesgesetz über den
Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft[49] mit 55.4%
Ja-Stimmen an[50]. Der
Mutterschaftsurlaub ist seither in Art. 329f OR sowie im
Erwerbsersatzgesetz gesetzlich verankert.
Gemäss Art. 16b ff. EOG hat jede berufstätige[51] und
AHV-versicherte Mutter Anspruch auf den Bezug eines Taggeldes in der
Höhe von 80% ihres letzten Erwerbseinkommens[52]. Der Anspruch
beginnt am Tag der Niederkunft und endet am 98. Tag nach seinem Beginn.
Stirbt die Frau vor Ablauf dieser Zeit oder nimmt sie ihre
Erwerbstätigkeit wieder auf, endet der Anspruch vorzeitig.
3. Geltende
Regelung zum Vaterschaftsurlaub
Ein dem Mutterschaftsurlaub entsprechendes Recht steht Vätern
nicht zu. Gesetzlich geregelt ist eine ein- oder zweitägige
bezahlte Auszeit von der Erwerbstätigkeit; dies im Rahmen der
«üblichen freien Tage» nach Art. 329 Abs. 3 OR. Privaten
Arbeitgebenden steht es jedoch frei, im Rahmen ihrer Möglichkeiten
bezahlten Vaterschaftsurlaub zu gewähren. Einige (grosse)
Arbeitgeber gewähren ihren Angestellten heute freiwillig bis zu 10
Tage Vaterschaftsurlaub. Eine einheitliche und gleiche Behandlung
privatrechtlich angestellter Väter besteht aber nicht.
Die meisten Staatsangestellten können bereits heute von besseren
Bedingungen profitieren als privatrechtlich Beschäftigte. Auf
Bundesebene besteht für das Personal der Bundesverwaltung mit Art.
17a BPG[53] und Art. 40
Abs. 3 lit. b VBPV[54]
eine gesetzliche Grundlage für den Vaterschaftsurlaub[55]. Damit gibt es
heute in der Schweiz grosse Unterschiede in der Gewährung eines
Vaterschaftsurlaubs, je nach Arbeitgeber und Region:
Privater Sektor
Arbeitgeber
|
Anzahl Arbeitnehmende
|
Dauer Vaterschaftsurlaub
|
Bezahlung in % des Lohns
|
Credit Suisse
|
19'400
|
14 Tage
|
100%
|
Roche
|
11'700
|
6 Tage
|
100%
|
Migros
|
8'200
|
14 Tage
|
100%
|
UBS
|
22'229
|
10 Tage
|
100%
|
Swisscom
|
19'400
|
10 Tage
|
100%
|
Tabelle 2[56]
Öffentlicher Sektor
Arbeitgeber
|
Kanton / Gemeinde
|
Vaterschaftsurlaub
|
Bezahlung in % des Lohns
|
Bundesverwaltung
|
-
|
10 Tage
|
100%
|
Kantonale Verwaltung
|
BE[57],
GL, SO, AT, AI, TG, OW
|
1 bis 2 Tage
|
100%
|
UR, SZ, GR, AG[58]
|
3 bis 4 Tage
|
100%
|
ZH, NW, ZG, FR, BL[59],
SH, SG, TI, VD, VS, NE
|
5 Tage
|
100%
|
GE, BS[60]
|
10 Tage
|
100%
|
JU
|
12 Tage
|
100%
|
Kommunale Verwaltung
|
Basel, St.Gallen, Lugano, Biel
|
5 Tage
|
100%
|
Zürich, Winterthur, Luzern
|
10 Tage
|
100%
|
Genf[61]
|
4 Wochen
|
100%
|
Lausanne
|
21 Tage
|
100%
|
Bern
|
3 Wochen
|
100%
|
Tabelle 3[62]
4. Mutterschaftsurlaub - zwei Phasen
Das Erwerbsersatzgesetz gibt Frauen einen Anspruch auf Urlaub unmittelbar
nach der Geburt ihres Kindes. Männer sind von dieser Regelung
ausgeschlossen, ihnen steht ein vergleichbarer Anspruch nicht zu. Wie
gesehen sind solche auf dem Geschlecht basierende Ungleichbehandlungen nur
zulässig, wenn sie auf zwingenden biologischen oder faktischen
Unterschieden beruhen, welche eine Ungleichbehandlung erfordern.
Insbesondere darf nicht auf eine traditionelle Rollenverteilung abgestellt
werden. Auch im Hinblick auf die Ausführungen des EGMR, Frauen und
Männer befinden sich bei der Betreuung ihrer Kinder in vergleichbaren
Situationen ist es fraglich, ob tatsächlich genügende biologische
Gründe bestehen, um nur Frauen einen Urlaub nach der Geburt eines
Kindes zu gewähren.
Der heute bestehende Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen ist aufgeteilt in
zwei Phasen: Während die ersten acht Wochen aus biologischen
Gründen zwingend gewährt werden müssen, dienen die
übrigen sechs Wochen dem Aufbau einer sozialen Bindung mit dem
Neugeborenen sowie der Organisation des Familienalltags.
a. Erste Phase: Erholung von der Geburt
Die Beschränkung auf die Frau beruht während der ersten acht
Wochen nach der Niederkunft auf zwingend biologischen Gründen
(Stichwort Wochenbett). Während dieser Zeit bilden sich die
schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen des weiblichen
Körpers zurück. Entsprechend sieht auch Art. 35a Abs. 3 des
Arbeitsgesetzes[63] zur
Erholung der sog. «Wöchnerinnen» ein
gesundheitspolizeiliches Arbeitsverbot von acht Wochen vor.
b. Zweite Phase: Aufbau der Bindung mit dem Kind und Organisation
Familienalltag
Von der 9.-14. Woche hingegen wird der Urlaubs- und
Entschädigungsanspruch der Frau nicht mehr aus zwingend biologischen
Gründen, sondern aus sozialen Überlegungen gewährt: Die Frau
soll sich unbesorgt dem Kind widmen können und im Hinblick auf ihren
beruflichen Wiedereinstieg das Familienleben und die Kinderbetreuung
organisieren können. Gemäss der Stellungnahme des Bundesrates zur
Einführung der Mutterschaftsversicherung soll demnach «der Mutter
[…] eine Ruhepause nach der Niederkunft ermöglicht werden, damit
sie sich erholen und möglichst unbelastet für das Neugeborene
sorgen und ihre Beziehung zu ihm aufbauen kann»[64]. Es steht jeder Mutter
jedoch frei, nach der achten Woche auf den weiteren Urlaubsanspruch zu
verzichten und ihre Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen, wodurch sie
den Entschädigungsanspruch verliert (Art. 35a Abs. 3 ArG und Art. 16d
EOG).
c. Die Rolle des Vaters
Dass es nun zwischen der 9.-14. Woche alleine Sache der Frau sein soll,
sich um das Kind zu kümmern, beruht nicht auf biologischen
Gründen, sondern auf traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen
der Aufgaben von Frauen und Männern in der Familie und verkennt die
Rolle des Vaters. Auch der Vater muss und darf eine soziale Beziehung zu
seinem Kind aufbauen. Dies ist nicht nur ein Wunschanliegen der sog.
«neuen Väter», sondern ein rechtlich gestütztes
Interesse, sieht doch das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB[65]) ein
partnerschaftliches Verhältnis der Eltern vor und differenziert nicht
zwischen den Rechten der Mütter und Väter (Art. 270 ff. ZGB)[66]. Durch die heutige
Regelung wird das Interesse der Väter gestützt auf ihr Geschlecht
unzulässig beeinträchtigt.
Insofern muss nun von der Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts
im Jahre 1994 abgewichen werden. Das Gericht hatte damals, vor
Einführung der Mutterschaftsversicherung auf Bundesebene, in Abweisung
einer Beschwerde eines Vaters betreffend seines Gesuchs um Gewährung
eines bezahlten Vaterschaftsurlaubs von 14 Wochen argumentiert, dass neben
den ersten acht Wochen des Mutterschaftsurlaubs auch die letzten sechs
Wochen auf biologischen Gründen basieren:
«Wie schon dargelegt, lässt sich ein Mutterschaftsurlaub in
der vom Regierungsrat [des Kantons Bern] vorgesehenen Dauer mit einer
grosszügig bemessenen Erholungszeit nach der Niederkunft sowie mit
dem Stillen des Neugeborenen rechtfertigen. Daran ändert nichts,
dass der Regierungsrat mit der Ausdehnung des Mutterschaftsurlaubs [von
8 auf 14 Wochen] auch das sozialpolitische Ziel verfolgen wollte, der
Mutter die Doppelrolle in Familie und Beruf zu erleichtern. Die Motive
einer gesetzlichen Regelung lassen sich häufig nicht
auseinanderhalten. Für die Vereinbarkeit mit Art. 4 Abs. 2 BV
genügt, dass objektiv biologische Unterschiede zwischen den
Geschlechtern bestehen, welche eine rechtliche Differenzierung zu
tragen vermögen.»[67]
Es drängt sich ausserdem die Frage auf, ob der Zweck der ersten acht
Wochen des Mutterschaftsurlaubs, nämlich die Erholung und Regeneration
der Mutter, ohne die Hilfe des Vaters erreicht werden kann. Da biologisch
bedingt die Frauen die Schwangerschaft und die Geburt übernehmen,
benötigen Männer nach der Geburt keine Erholungszeit. Soll sich
jedoch die Frau von der Geburt erholen können, benötigt sie
zwingend Hilfe. Es sollte ausser Frage stehen, dass der Vater des Kindes
diese Hilfe leisten muss, schulden sich Vater, Mutter und Kind doch
gegenseitigen Beistand (Art. 273 ZGB). Dazu brauchen Väter die
Möglichkeit, vom Arbeitsplatz abwesend zu sein. Darüber
verfügen aktuell jedoch nur Väter, welche sich dies finanziell
leisten können. Dass in den ersten acht Wochen ein gewisses
Bedürfnis nach Unterstützung besteht, zeigt nicht zuletzt das
Angebot der Spitex, während des Wochenbetts eine Haushaltshilfe zur
Verfügung zu stellen[68].
d. Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens
Wie der EGMR in seinen Entscheiden zum Vaterschaftsurlaub festgestellt hat,
hat die Gewährung oder Verweigerung von Urlaub nach der Geburt eines
Kindes Einfluss auf die aktuelle und zukünftige Organisation des
Familienlebens. Hier ist ein zentraler Ansatzpunkt zur Verwirklichung der
Geschlechtergleichstellung auszumachen und Regelungen, welche diese
Organisation gestützt auf traditionelle Rollenaufteilungen
beeinflussen, dürfen entsprechend nicht mehr zulässig sein.
Bisher führt der ausschliessliche Urlaubsanspruch der Mutter noch
zwangsläufig dazu, dass sie von Beginn an die Aufgabe der
Kinderbetreuung übernimmt und damit die traditionelle Rollenaufteilung
perpetuiert wird. Zurzeit werden Frauen tatsächlich dazu gezwungen,
sich hauptsächlich um die familiären Angelegenheiten zu
kümmern, da sich in den Wochen des Mutterschaftsurlaubs bereits die
Zuständigkeiten einpendeln. Aufgrund der starren Ordnung der
Arbeitswelt lassen sich diese Zuständigkeiten im Nachhinein nicht mehr
oder nur schwer ändern. Während Frauen damit stets in die Rolle
der Familienbetreuerin gedrängt werden, werden Väter aus dieser
Rolle herausgedrängt.
5. Positive Entwicklungen für ein Umdenken in der Schweiz
Obwohl in den vergangenen zehn Jahren 26 Parlamentarische Vorstösse[69] zur Einführung
eines Vaterschafts- oder Elternurlaubs gescheitert sind, zeigen diese
konstant anhaltenden Bemühungen, dass in weiten Kreisen ein
politischer Wille zur Änderung besteht. Auch die Einführung der
Mutterschaftsversicherung wurde im Parlament und an der Urne mehrmals
abgelehnt, bis sie schliesslich 2004 angenommen wurde. Dies macht deutlich,
dass das Überwinden von traditionellen Geschlechterstereotypen nicht
einfach ist und durchaus Zeit und Diskussion benötigt. Dieses Jahr
sind im Parlament bisher drei[70] Vorstösse zum
Thema bezahlter Vaterschaftsurlaub/Elternurlaub eingegangen. Sogar die
Interpellation Frehner[71],
die die Auswirkungen der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf
das Sozialsystem der Schweiz zum Thema hat, identifiziert die
Einführung eines Vaterschafts- oder Elternurlaubs als eine von sieben
in diesem Zusammenhang relevanten Fragen. Dies zeigt das Gewicht dieses
Themas in der politischen Arena von links bis rechts.
Der Bericht des Bundesrates kann bereits als erster Fortschritt betrachtet
werden, wurden bisher doch die parlamentarischen Vorstösse bereits im
Keim erstickt. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
des Ständerates (SGK-S) hat angekündigt, sich Anfang 2015
grundsätzlich über die Strategie des Bundesrates im Bereich der
Familienpolitik orientieren zu lassen[72]. Dabei wird auch die
fehlende bundesrätliche Priorisierung des Vaterschafts- oder
Elternurlaubes zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert
werden müssen. Denn wie der EGMR ausgeführt hat, betrifft die
Gewährung oder Verweigerung von Elternurlaub die Organisation des
Familienlebens von Anfang an und damit eben gerade nicht «nur die
begrenzte Zeit nach der Geburt des Kindes»[73]. Mütter
würden auch mittel- bis langfristig entlastet und die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie erleichtert. Im Zusammenhang mit der Umsetzung der
Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» könnte der
Bundesrat allenfalls früher als gedacht wieder mit dem Thema
Vaterschaftsurlaub befasst werden. Laut seinem Konzept zur Umsetzung der
Initiative müsse das einheimische Arbeitskräftepotenzial
erhöht werden, damit der Bedarf des Arbeitsmarktes vermehrt im Inland
gedeckt werden könne. In einer Verbesserung der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf liege dabei ein grosses Potenzial[74]. Es gibt daher
momentan mehr als genug Anlass, das Thema Vaterschaftsurlaub prioritär
anzugehen.
VI. Fazit
Im oben dargestellten Urteil des EGMR machte dieser deutlich, dass aus Art.
8 EMRK keine Verpflichtung für Staaten abgeleitet werden kann, einen
Vaterschafts- oder Elternurlaub einzuführen. Er wies allerdings auch
darauf hin, dass unterschiedliche Regeln für Frauen und Männer
nicht auf traditionellen Rollenbildern und Geschlechterstereotypen basieren
dürfen. Ausserdem schützt Art. 8 EMRK das Recht der Eltern, eine
ausreichende Beziehung zu ihren Kindern zu begründen und zu pflegen.
In der Schweiz wird dies der Mutter heute zugestanden, dem Vater jedoch
nicht. Darin liegt die Ungleichbehandlung respektive Diskriminierung des
Vaters, welche auch mit der Schweizerischen Bundesverfassung nicht
vereinbar ist. Geschlechterstereotype Überlegungen rechtfertigen nicht
die unterschiedliche Behandlung von Frau und Mann bzw. eine Abweichung von
der Gleichstellung von Frau und Mann nach Art. 8 Abs. 3 Satz 1 BV und Art.
14 EMRK.
Wie gezeigt liegen der heute in der Schweiz geltenden Regelung
traditionelle Aufgabenzuteilungen von Mutter und Vater zu Grunde. Zumindest
in den letzten sechs Wochen des Mutterschaftsurlaubs sind aber keine
geschlechtsbedingten biologischen/funktionalen Unterschiede mehr
auszumachen, welche eine Gleichbehandlung absolut ausschliessen
könnten. Der zwischen der 9.-14. Woche gesetzlich nur der Frau
zugestandene Urlaubs- und Entschädigungsanspruch diskriminiert daher
die Männer. Um die heutige geschlechterstereotype Arbeitsverteilung zu
durchbrechen, muss die Rechtsordnung angepasst werden und Vätern das
gleiche Recht auf Urlaub zur Kinderbetreuung wie den Müttern
gewährt werden. Die Möglichkeit, unbezahlten Vaterschaftsurlaub
nehmen zu können, reicht dazu jedoch nicht aus. Vaterschaftsurlaub
muss, gleich wie Mutterschaftsurlaub, für alle Väter möglich
sein, die eine Auszeit für ihr Kind nehmen wollen und nicht nur
diejenigen, die sich eine Auszeit finanziell leisten können.
Sowohl die Rechtsprechung des EGMR, die rechtliche und soziale Entwicklung
in der Mehrheit der europäischen Länder als auch die
gesellschaftliche und politische Diskussion in der Schweiz machen deutlich,
dass die Schweizerische Rechtsordnung in Bezug auf die gleichberechtigte
Betreuung eines Kindes durch seine Eltern hinterher hinkt. Im Interesse der
Väter, Mütter und Kinder der Schweiz ist auf eine baldige
Anpassung zu hoffen.
[1]
Zur Terminologie: Der Vaterschaftsurlaub ist ein
individuelles Recht des Vaters. Er ist in der Regel direkt an die
Geburt eines Kindes oder die Aufnahme eines Kindes zur Adoption
gebunden und soll es dem Vater ermöglichen, in den ersten
Wochen nach der Geburt oder der Ankunft des Kindes in seiner neuen
Familie beim Kind und der Mutter zu bleiben. Der Elternurlaub kann von beiden Elternteilen beansprucht
werden. Er beinhaltet einerseits den geburtsgebundenen
Mutterschaftsurlaub und gibt beiden Eltern andererseits die
Möglichkeit, gleichberechtigt in den ersten Lebensmonaten oder
Jahren ihres Kindes für die Pflege, Betreuung und Erziehung
zuständig zu sein. Elternurlaub kann für den Vater
reservierte Zeit enthalten. Siehe dazu: Vaterschaftsurlaub und
Elternurlaub. Auslegeordnung und Präsentation
unterschiedlicher Modelle.
Bericht des Bundesrates
in Erfüllung des Postulats Fetz (11.3492) vom 6. Juni 2011,
30. Oktober 2013, S. 2. In Übereinstimmung mit der
Eidgenössischen Koordinationskommission für
Familienfragen
(EKFF) wären die Bezeichnungen «Vaterschaftszeit»,
«Elternzeit» und, in diesem Zusammenhang, auch
«Mutterschaftszeit», passender. Da in der rechtlichen,
politischen und gesellschaftlichen Diskussion jedoch von
«Urlaub» gesprochen wird, verwendet auch dieser
Artikel diese Terminologie.
[2]
Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht), (OR; SR 220).
[4]
Urteil
3008/06
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
vom 20. März 2012 (Markin gegen Russland).
[6]
Rehel, Erin, When Dad stays home too: Paternity Leave, Gender, and
Parenting, in: Gender & Society, Vol. 28 No. 1, Februar 2014,
110-132, S. 110.
[7]
Bericht des Bundesrates zum Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub (FN
1), S. 26.
[8]
Bericht des Bundesrates zum Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub (FN
1), S. 66.
[9]
Bericht des Bundesrates zum Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub (FN
1), S. 66.
[11]
Siehe ausserdem den hängigen Fall Hallier und Lucas gegen
Frankreich (Nr. 46386/10) betreffend dem Antrag einer Frau in eingetragener Partnerschaft
auf Elternurlaub wegen der Geburt des Kindes ihrer eingetragenen
Partnerin.
[12]
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK;
SR 0.101).
[13]
Urteil
20458/92
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
vom 27. März 1998 (Petrovic gegen Österreich).
[14]
EGMR, Petrovic gegen Österreich (FN 13), § 30-43.
[16]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 9-33.
[17]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 9-33.
[18]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 76, § 102-108.
[19]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 34.
[20]
Grabenwarter, Christoph, Kommentar zu Art. 8, Rn 19 ff., in:
European Convention on Human Rights, Commentary, C.H. Beck,
München, 2014.
[21]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 130.
[22]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 131/132.
[23]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 133-137. Siehe dazu auch
Grabenwarter (FN 20), Kommentar zu Art. 14, Rn. 4 ff.
[24]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 140.
[25]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 141-143.
[26]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 150-152.
[28]
Algerien, Benin, Burkina Faso, Burundi, Kamerun,
Zentralafrikanische Republik, Chad, Komoren, Kondo,
Elfenbeinküste, Demokratische Republik Kongo, Dschibuti,
Gabun, Kenia, Libyen, Madagaskar, Mali, Mauretanien, Mauritius,
Marokko, Mozambique, Ruanda, Seychellen, Südafrika, Tansania,
Togo, Tunesien, Uganda. Äthiopien (unbezahlt).
[29]
Bangladesch, Kambodscha, Indonesien, Myanmar, Philippinen,
Singapur. Südkorea (unbezahlt).
[30]
Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Serbien. Aserbaidschan und
Kasachstan (unbezahlt).
[31]
Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Dominikanische Republik,
Ecuador, El Salvador, Guatemala, Paraguay, Uruguay, Venezuela.
Bahamas (unbezahlt).
[32]
Saudi Arabien. Syrien (unbezahlt).
[33]
Australien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland,
Frankreich, Griechenland, Ungarn, Island, Italien, Lettland,
Litauen, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien,
Slowenien, Spanien, Schweden, Grossbritannien. Norwegen und
Neuseeland (unbezahlt).
[35]
Für Vater und Mutter zur Verfügung stehender Urlaub.
[36]
100% erste 3 Tage, danach 82%
[37]
Jeweils 14 Wochen reserviert für den Vater bzw. die Mutter.
[38]
Danach Pauschalbetrag.
[39]
Davon müssen 480 Tage von den Eltern geteilt werden.
[40]
Danach Pauschalbetrag.
[41]
EGMR, Markin gegen Russland (FN 4), § 71-75.
[42]
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV;
SR 101).
[43]
Bigler-Eggenberger, Margrith, Kommentar zu Art. 8 Abs. 3 BV, in:
Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Auflage,
Zürich, St. Gallen, Basel, Genf, 2008, S. 211-226, Rn. 75/75.
[48]
01.426
- Revision Erwerbsersatzgesetz. Ausweitung der
Erwerbsersatzansprüche auf erwerbstätige Mütter.
[51]
Während der neun Monate unmittelbar vor der Niederkunft muss
sie mindestens fünf Monate lang eine Erwerbstätigkeit
ausgeübt haben.
[52]
Bzw. maximal 196 Franken pro Tag.
[56]
Grossen, Joel und Brindley, Callum, Comparative Study of National
Paternity Leave Policies, Seminar on Gender and Sustainability,
University of Bern, IZFG, 2014, S. 5.
[62]
Bericht des Bundesrates zum Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub (FN
1), S. 14/15.
[63]
Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel
(ArG;
SR 822.11).
[64]
Stellungnahme des Bundesrates vom 6. November 2002
zu 01.426 Parlamentarische Initiative Revision Erwerbsersatzgesetz.
Ausweitung der Erwerbsersatzansprüche auf erwerbstätige
Mütter (Triponez Pierre). Bericht vom 3. Oktober 2002 der
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des
Nationalrates, BBl 2003 1112, S. 1114.
[66]
Kägi-Diener, Regula, Beschwerdeschrift
Bundesgericht in Sachen X. gegen Ausgleichskasse Kanton
Bern, 20. November 2013 (liegt der Autorin vor).
[67]
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Februar 1994 i.S. X.,
BVR 1995 S. 109-116, S. 116.
[70]
Motion Grünliberale Fraktion (14.3068) Elternurlaub statt Mutterschaftsentschädigung; Motion Andrea
Caroni (14.3109) Elternurlaub. Mehr Wahlfreiheit bei gleichen Kosten;
Parlamentarische Initiative Martin Candinas, (14.415) Zwei Wochen über die EO bezahlten Vaterschaftsurlaub;
Interpellation Sebastian Frehner (14.3483) Rechtsübernahme bei der Sozialwerken.
[71]
Interpellation Sebastian Frehner (14.3483) Rechtsübernahme bei der Sozialwerken.
[73]
Bericht des Bundesrates zum Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub (FN
1), S. 66.