I. Einleitung
Der Nationalrat hat am 7. März 2024 die Motion 24.3003[1] ihrer Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-NR) mit grosser Mehrheit angenommen. Die Motion möchte die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen unterstützen. Dies soll durch eine Revision des Bundesgesetzes über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von «invaliden»[2] Personen (IFEG)[3] sowie der weiteren damit verbundenen Bundesgesetze erfolgen. Eine Plafonierung der Gesamtkosten pro Person soll die bedarfsgerechte und wirtschaftliche Aufgabenerfüllung sichern und insgesamt zu einem kostenneutralen Resultat führen.
Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats (SGK-SR) wird sich der Motion ab Herbst 2024 annehmen. Der Bundesrat empfiehlt deren Abweisung.[4] Er anerkennt in seiner Stellungnahme zur Motion die Wichtigkeit des selbstbestimmten Wohnens. Gleichzeitig verweist der Bundesrat auf Fragen im Bereich der Zuständigkeiten und Kompetenzen, die geklärt werden müssen.[5] Demgegenüber vertreten die Motionäre die Position, wonach mit der Umsetzung keine Verschiebung der Kompetenzen stattfinde; es gehe einzig um die Verbesserung der Rahmenbedingungen innerhalb der bestehenden Kompetenzen.[6]
Der vorliegende Beitrag nimmt diese politische Debatte zum Anlass, um die strittige Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen im Bereich Wohnen von Menschen mit Behinderung zu untersuchen. Hierzu wird in einer völkerrechtskonformen Auslegung zunächst das Recht auf Selbstbestimmung im Bereich Wohnen in der Bundesverfassung sowie in den völkerrechtlich bindenden Abkommen verortet (Rz. 4 ff.). Im Anschluss folgt eine Untersuchung der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen im relevanten Sachbereich (Rz. 17 ff.). Die Auslegung der Verfassungsgrundlagen wird mit einer Analyse der gegenwärtigen Ausgestaltung der Leistungen und Finanzflüsse im Bereich des autonomen Wohnens ergänzt (Rz. 36 ff.). Daraus wird deutlich, dass die Verantwortung von Bund und Kantonen im Bereich des selbstbestimmten Wohnens eng verschränkt ist (Rz. 37 ff.). Zahlreiche Kantone kommen ihren Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention (BRK)[7] durch grundlegende Systemwechsel in der Finanzierung von Leistungen nach (Rz. 42 ff.); auf Bundesebene sind entsprechende Reformen aber teilweise noch ausstehend (Rz. 45).
II. Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen - Grund- und menschenrechtliche Pflichten von Bund und Kantonen
Das Kernanliegen der Motion ist die Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich des Wohnens. Die Motion greift damit das in der Behindertenrechtskonvention gewährleistete Recht von Menschen mit Behinderungen auf, selbstbestimmt in der Gemeinschaft zu leben (Art. 19 BRK) (Rz. 5 f.). Dieses Recht ist auch in weiteren internationalen Abkommen (Rz. 10 ff.) und in der Schweizer Bundesverfassung (Rz. 13 ff.) verankert. In den nachfolgenden Abschnitten sind die daraus folgenden Rechte und Pflichten zusammenfassend dargelegt.
1. Recht auf unabhängige Lebensführung und Inklusion (Art. 19 BRK)
a) Hintergrund und Zweck der Bestimmung
Die Schweiz hat mit Ratifikation der BRK das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen anerkannt, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben (Art. 19 BRK). Die Bestimmung bedeutet einen Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderungen. Gemäss Art. 1 wird Behinderung als Resultat des Zusammenspiels einer individuellen Beeinträchtigung einerseits und einer behindernden Umwelt andererseits verstanden. Menschen mit Behinderung werden als Personen mit denselben Rechten, Pflichten und Möglichkeiten wie Menschen ohne Behinderung angesprochen, die lediglich spezifische Unterstützung zu deren Wahrnehmung benötigen.[8] Zurückgewiesen werden damit in der Vergangenheit vorherrschende Perspektiven, wonach Menschen mit Behinderungen kaum zu selbstständiger Lebensgestaltung innerhalb der Gesellschaft fähig und hilfsbedürftig seien. Auch historisch bedingt negative gesellschaftliche Einstellungen gegenüber Behinderungen führten zu Einschränkungen der unabhängigen Lebensgestaltung für Menschen mit Behinderungen. Diese Einstellungen können sich in Form von Vorurteilen, Stereotypen und Missverständnissen über die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen («ableism») manifestieren.[9] Unter anderem diese Vorstellungen haben dazu geführt, dass in der heutigen Gesellschaft die für ein selbstbestimmtes Leben notwendigen Unterstützungsleistungen immer noch in unzureichender Weise verfügbar sind.
Ein unabhängiges Leben wird Menschen mit Behinderungen gerade auch dadurch erschwert, dass die öffentliche Infrastruktur und der Zugang zu Dienstleistungen und Wohnräumen nicht universell gestaltet sind.[10] Sowohl Art. 9 als auch Art. 19 BRK adressieren diese zahlreichen weiteren Hindernisse. In ihrer Kombination haben diese verschiedenen Faktoren zu Vernachlässigung, Abhängigkeit von der Familie, Institutionalisierung, Isolation und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen geführt.[11] Art. 19 BRK bezweckt, die für ein selbstbestimmtes Leben notwendigen Bedingungen zu schaffen.
b) Schutzbereich
Art. 19 BRK ist einer der weitreichendsten Artikel des Übereinkommens. Das gewährleistete Recht hat den Anspruch, intersektionaler Diskriminierungserfahrung entgegenzutreten und berührt alle Bereiche des menschlichen Lebens. Es umfasst alle Freiheiten und Unterstützungsleistungen, die notwendig sind, um Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen und vollständig an der Gesellschaft auf gleicher Basis mit anderen teilzunehmen. Dazu gehört insbesondere das Recht, Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen, einschliesslich wo und wie zu leben, zu arbeiten und soziale Kontakte zu pflegen, in die Gesellschaft inkludiert zu sein und selbstgewählte Beziehungen und soziale Kontakte und Aktivitäten zu haben, Zugang zu angemessenen Unterstützungsleistungen wie persönlicher Assistenz, Gesundheitsversorgung, Rehabilitation und Hilfstechnologien zu haben und diese Rechte mittels Zugang zu Rechtsschutzmassnahmen geltend machen zu können.[12] Letztlich bedeutet das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen, die notwendige Unterstützung, Ressourcen und Möglichkeiten zu haben, um eigenverantwortlich zu leben und auf eine Weise zur Gesellschaft beizutragen, die mit den persönlichen Zielen und Fähigkeiten übereinstimmt.
c) Staatliche Pflichten
Die Vertragsstaaten der BRK sind verpflichtet, die volle Verwirklichung der Rechte für alle Menschen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern (Art. 4 Abs. 1 BRK). Zur Gewährleistung des Rechts auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft nach Art. 19 BRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, wirksame und geeignete Massnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts zu erleichtern. Dazu gehört sowohl die Beseitigung von gesetzlichen Hindernissen als auch die Schaffung von Rechtsgrundlagen, damit Menschen mit Behinderungen tatsächlich in den Genuss ihres Rechts auf unabhängige Lebensführung kommen. Weiter sind Staaten unter anderem verpflichtet, Politiken und Strategien zu entwickeln, um das selbstbestimmte Leben zu fördern und zu schützen, Barrieren im Zugang zu Wohnraum abzuschaffen, Zugang zu bezahlbarem Wohnraum zu gewährleisten und Unterstützungsdienste, einschliesslich persönlicher Assistenz, verfügbar und zugänglich zu machen.[13]
Bund und Kantone sind folglich verpflichtet, unter anderem mittels Anpassung der Rechtsgrundlagen ein System zu etablieren, das die Wahl der Wohnform und des Wohnorts gewährleistet und das autonome Wohnen von Menschen mit Behinderungen ermöglicht. Diese Pflicht spiegelt sich auch in Art. 8 Abs. 4 BV[14], wonach die Rechtsordnung Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Behinderten vorsehen muss (siehe Rz. 13 ff.).
2. Weitere staatsvertragliche Verpflichtungen der Schweiz
Neben der BRK gewährleisten auch weitere für die Schweiz verbindliche Übereinkommen gewisse Aspekte der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich des Wohnens. Art. 19 BRK ist sowohl in den zivilen und politischen Rechten als auch in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten verankert, insbesondere im Recht auf Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Wohnsitzes (Art. 12 UN-Pakt II[15]) und dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, einschliesslich angemessener Kleidung, Nahrung und Wohnung (Art. 11 UN-Pakt I[16]).[17]
Art. 9 (1) KRK[18] verlangt von den Vertragsstaaten, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird. Art. 23 (1) KRK gewährleistet, dass alle Kinder mit Behinderungen ein Leben unter Bedingungen führen sollen, die ihre Selbstständigkeit gewährleisten und ihre aktive Teilnahme an der Gemeinschaft fördern. Diese Bestimmung richtet sich auch gegen die hohe Anzahl von Kindern mit Behinderungen, die mangels anderer Optionen in Institutionen untergebracht sind und verpflichtet die Vertragsstaaten zur Deinstitutionalisierung.[19]
Der EGMR hat in mehreren Urteilen verschiedene Aspekte der selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen unter Anwendung der EMRK[20] geschützt.[21] Im Fall Stanev gegen Bulgarien[22] hat die Grosse Kammer des EGMR beispielsweise die Unterbringung einer Person mit einer psychischen Behinderung in einer Anstalt gegen ihren Willen als Freiheitsentzug i.S.v. Art. 5 EMRK beurteilt. Der EGMR hat in einer Reihe weiterer Urteile festgehalten, dass der Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK auch das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Beziehungen mit anderen Menschen und Integration in die Gesellschaft umfasst, ebenso wie die autonome Lebensgestaltung.[23]
3. Schutz der selbstbestimmten Lebensführung in der Bundesverfassung
Die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen ist auch in der Schweizerischen Bundesverfassung verankert, namentlich im Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), der freien Wahl des Wohnorts (Art. 24 BV), dem Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV), dem Recht auf Ehe und Familie (Art. 14 BV), der Eigentumsgarantie (Art. 26 BV) und der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV).[24]
Die Bundesverfassung verbietet mit Art. 8 Abs. 2 BV die Diskriminierung von Menschen aufgrund einer Behinderung. Dazu gehört auch der diskriminierungsfreie Zugang zu Unterstützungsleistungen und gemeindenahen Dienstleistungen und Einrichtungen, eingeschlossen im Bereich des autonomen Wohnens.[25] Mit Art. 8 Abs. 4 BV besteht ein ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Auftrag, gesetzliche Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung zu schaffen. Diese Bestimmung verpflichtet sowohl den Bund als auch die Kantone. Der Bund hat mit dem Behindertengleichstellungsgesetz[26] erste Rechtsgrundlagen geschaffen. Das Gesetz adressiert dabei auch den gleichberechtigten und barrierefreien Zugang zu Bauten und Anlagen, darin eingeschlossen Wohnbauten.[27]
Auch die Sozialziele nach Art. 41 BV verpflichten Bund und Kantone, im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten und ihrer verfügbaren Mittel verschiedene Aspekte des autonomen Wohnens zu verwirklichen, darunter die notwendige Pflege (lit. b), der Schutz und die Förderung eines Lebens in familiärer Gemeinschaft (lit. c), der Zugang zu einer angemessenen Wohnung zu tragbaren Bedingungen (lit. e) und die Förderung der Selbstständigkeit und Integration von Kindern und Jugendlichen (lit. g).[28] Die Sozialziele begründen weder Individualrechte noch eigenständige Kompetenzen, sind aber durch die Behörden bei allen Aufgaben in ihrem Zuständigkeitsbereich und auch bei der Rechtsauslegung zu berücksichtigen.[29]
4. Zwischenfazit
Bund und Kantone sind basierend auf der von der Schweiz ratifizierten BRK, weiterer internationaler Verträge, der Grundrechte und der Sozialziele der Bundesverfassung zur Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen verpflichtet. Die Umsetzung des Rechts erfolgt mittels gesetzgeberischer Massnahmen, politischer Strategien, der Förderung der Barrierefreiheit und bezahlbarem Wohnraum, der Finanzierung von Unterstützungsdiensten sowie durch Bildungs- und Aufklärungsprogramme. Wie die Ergebnisse der nachfolgenden Abschnitte aufzeigen, sind dafür sowohl der Bund als auch die Kantone zuständig.
III. Kompetenzaufteilung im Bereich Wohnen von Menschen mit Behinderungen
Im Zuge der Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA) erfolgte 2008 eine teilweise Aufgaben- und Finanzierungsentflechtung zur Stärkung der Rollen von Bund und Kantonen und des Föderalismus. Gegenstand der Verfassungsänderung war auch der Bereich der sozialen Sicherheit. Der bisherige Art. 112 Abs. 6 BV (Eingliederung Invalider und Unterstützung von Betagten, Hinterlassenen und «Invalider») wurde aufgehoben und durch Art. 112b (Eingliederung «Invalider») und Art. 112c BV (Betagten- und Behindertenhilfe) ersetzt.[30] Die Tragweite dieser beiden Bestimmungen ist Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte.
1. Kompetenzaufteilung gemäss Art. 112b BV
Mit Art. 112b BV sollte hinsichtlich der individuellen Leistungen der IV und der AHV eine vollständige Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Kantonen erfolgen. Geld- und Sachleistungen zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen wurden damit ausschliesslich Sache des Bundes (Art. 112 Abs. 2 lit. abis, Art. 112 Abs. 3 lit. b und Art. 112b Abs. 1 BV).[31] Gleichzeitig wurden die vor der Reform vom Bund geleisteten kollektiven Beiträge an Anstalten und Werkstätten aufgehoben und neu die Kantone verpflichtet, die Eingliederung von behinderten Personen, insbesondere durch Beiträge an den Bau und den Betrieb von Institutionen, die dem Wohnen und Arbeiten dienen, zu fördern (Art. 112b Abs. 2 BV).[32]
a) Sachlicher Geltungsbereich: Förderung der Eingliederung i.S.v. Art. 112b BV
Sachlich regelt Art. 112b BV die «Förderung der Eingliederung Invalider» durch den Bund und die Kantone. Als materielles Eingliederungsziel sollen Menschen mit Behinderungen gemäss Botschaft unabhängig von ihrem Wohnort in den Lebensbereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Beschäftigung sowie soziale Kontakte und Freizeit unter Wahrung des Grundsatzes der Integration und der Selbstbestimmung eine ihnen angemessene und wirtschaftlich vertretbare Förderung und Betreuung erhalten.[33]
Art. 112b BV und Art. 112c BV sind im Kontext der schweizerischen Sozialverfassung als Konkretisierung der Sozialziele zu verstehen. Die Förderung der Eingliederung dient gerade auch der Förderung der Selbstverantwortung.[34] Gemäss Gächter/Filippo sowie Landolt und Dupont ist «Eingliederung» im Sinne von Art. 112b BV deshalb nicht auf das Leistungsspektrum der Invalidenversicherung beschränkt, sondern umfasst die berufliche, medizinische und soziale Eingliederung.[35] Die weite Auslegung des Begriffs «Eingliederung» wird auch durch eine grundrechts- und völkerrechtskonforme Verfassungsauslegung unter Einbezug der Grundrechte der Bundesverfassung und Art. 19 BRK gestützt (dazu vorne Rz. 4 ff.). Folglich umfasst der Begriff der Eingliederung in Art. 112b BV auch die gesellschaftliche Eingliederung und damit auch das selbstbestimmte Wohnen.
b) Persönlicher Geltungsbereich: «Invalide» i.S.v. Art. 112b BV
Art. 112b BV regelt die «Förderung der Eingliederung Invalider» durch den Bund und die Kantone. Gemäss der Botschaft sind mit dem Begriff der «Invaliden» in Art. 112b BV erwerbsunfähige Personen im Sinne der Invalidenversicherung gemeint.[36] Die damalige Begriffsdefinition in der Botschaft wird in der Lehre als zu eng kritisiert. Nach Biaggini sind zusätzlich zu den dauerhaft Erwerbsunfähigen i.S.v. Art. 7 f. ATSG wohl auch weitere von der IV-Gesetzgebung erfasste Personen gemeint, jedoch nicht alle Menschen mit Behinderung.[37] Ein noch weiteres Begriffsverständnis vertreten Gächter/Filippo sowie Landolt und Dupont. Dem persönlichen Anwendungsbereich der Verfassungsbestimmung müsse ein offener, nicht leistungsspezifischer Invaliditätsbegriff zu Grunde gelegt werden, der einen weiteren Kreis von gesundheitlich beeinträchtigten Personen erfasst, deren Erwerbsfähigkeit oder deren Fähigkeit, «sich in einem nichterwerblichen Aufgabenbereich zu betätigen», beeinträchtigt oder bedroht ist.[38] Ein weites Begriffsverständnis wird auch durch die völkerrechtskonforme Auslegung der Bestimmung gestützt. Demnach soll die Eingliederung nicht nur erwerbsunfähige Personen erfassen, sondern dem Abbau aller Hindernisse dienen, die ein selbstbestimmtes Leben erschweren.
Da «Invalide» i.S. Sozialversicherungsrechts unbestritten auch als behinderte Personen im Sinne von Art. 8 Abs. 2 BV qualifizieren, bildet Art. 112b BV auch in einer engen Auslegung (wie in der damaligen Botschaft vertreten) mindestens für diese Personen eine Kompetenzgrundlage des Bundes zur Konkretisierung der verfassungs- und völkerrechtlichen Pflichten im Bereich selbstbestimmten Wohnens. Folgt man einer umfassenderen Auslegung des verfassungsrechtlichen Begriffs der «Invaliden» (wie von einem Teil der Lehre vertreten), erfassen die Bundeskompetenzen nach Art. 112b BV einen noch umfangreicheren Kreis von Personen mit Behinderungen. Unbestritten ist damit, dass der Bund auf jeden Fall für mindestens einen Teil von Menschen mit Behinderungen - nämlich alle, die auch als «Invalide» gemäss IVG qualifizieren - über eine Kompetenzgrundlage verfügt.[39]
c) Zuständigkeiten
Die Bestimmung schafft eine parallele Förderkompetenz von Bund und Kantonen im Bereich der Eingliederung von Menschen mit Behinderung. Die Kompetenz des Bundes ist dabei auf individuelle Leistungen (Geld- und Sachleistungen) ausgerichtet (Abs. 1), während die Förderung der Kantone breit angelegt ist und auch kollektive Leistungen «insbesondere» im Bereich Eingliederung durch Beiträge an Institutionen für Wohnen und Arbeiten umfasst (Abs. 2).[40] Ergänzend dazu erhält der Bund eine Grundsatzgesetzgebungskompetenz zur einheitlichen Regelung der Ziele, Grundsätze und Kriterien der Eingliederung behinderter Personen (Abs. 3).
aa) Förderpflicht des Bundes (Abs. 1)
Die Verfassungsbestimmung verpflichtet den Bund, die Eingliederung durch Ausrichtung von Geld- und Sachleistungen zu fördern (Art. 112b 1. Satz BV). Die Förderung durch den Bund ist damit auf individuelle Leistungen beschränkt.[41] Der offene Wortlaut der Bestimmung lässt es dem Bund grundsätzlich frei, mit welchen Mitteln er die Geld- und Sachleistungen ausrichtet. Die Bestimmung hält lediglich fest, dass er Mittel der Invalidenversicherung verwenden kann (Art. 112b 2. Satz BV). Der Bund kann dazu aber auch allgemeine Bundesmittel einsetzen.[42] Gegenwärtig verwendet der Bund ausschliesslich Mittel aus der Invalidenversicherung.[43]
bb) Förderpflicht der Kantone (Abs. 2)
Die Kantone erhalten durch Art. 112b Abs. 2 BV einen verbindlichen Förderungsauftrag zur Eingliederung von Menschen mit Behinderung. Sinngemäss ergibt sich dieser Förderungsauftrag auch aus Art. 8 Abs. 4 BV und der BRK.[44] Der verfassungsrechtliche Auftrag ist weit formuliert, so dass den Kantonen die Wahl der Mittel freisteht; sie können damit zweifellos auch Massnahmen zur Förderung des selbstbestimmten Wohnens erlassen. Einzig im Bereich des Wohnens und Arbeitens von behinderten Personen sind die Kantone aufgrund der Konkretisierung in Abs. 2 zu kollektiven Beiträgen an den Bau und den Betrieb von Institutionen verpflichtet, wobei die Tragweite der Aufgabe aufgrund der Pflicht zur Desinstitutionalisierung nach Art. 19 BRK stark zu relativieren ist.[45]
cc) Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes (Abs. 3)
Der Bund erhält mit Art. 112b Abs. 3 BV die weit ausgestaltete Grundsatzgesetzgebungskompetenz[46] zur Regelung der Ziele, Grundsätze und Kriterien der Eingliederung «Invalider». Mit dem Einschluss der Kompetenz, auch konkrete Kriterien der Eingliederung festzulegen, sollte sichergestellt werden, dass schweizweit ein gewisser Schutzstandard eingehalten wird und das Angebot in angemessener Weise den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung entspricht.[47] Neben punktuellen Änderungen in den sozialversicherungsrechtlichen Erlassen verabschiedete der Bund gestützt auf den neuen Art. 112b Abs. 3 BV bis anhin ein Rahmengesetz «über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen» (IFEG). Das IFEG regelt die Eingliederung von behinderten Personen mittels Institutionen und soll den Zugang zu einer Institution zur Förderung der Eingliederung sicherstellen (Art. 1 IFEG).[48]
Da der Begriff der «Eingliederung» nach Art. 112b BV im weiten Sinn zu verstehen ist (Rz. 19 ff.), hat der Bund mit dem Erlass des IFEG nur einen Teil seiner Grundsatzgesetzgebungskompetenz ausgeschöpft.[49] Der Bund ist gestützt auf Art. 112b Abs. 3 BV kompetent, für weitere soziale Bereiche der Eingliederung Ziele, Grundsätze und Kriterien festzulegen, darin eingeschlossen der Bereich des selbstbestimmten Wohnens. In Verbindung mit Art. 19 BRK (siehe Rz. 5 ff.) sowie den einschlägigen Grundrechten (insbes. Art. 10 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 4 BV) und den Sozialzielen (siehe Rz. 13 ff.) ist sogar von einer entsprechenden Pflicht des Bundes auszugehen, die Eingliederung im Bereich des autonomen Wohnens mit entsprechenden Rechtsgrundlagen zu fördern.
2. Kompetenzaufteilung gemäss Art. 112c BV
Im Bereich der Betagten- und Behindertenhilfe kam es mit dem NFA zu einer Teilentflechtung (Art. 112c BV).[50] Die Kantone wurden verpflichtet, für die Hilfe und Pflege von Betagten und Behinderten zu Hause zu sorgen (Abs. 1). Die Kompetenz des Bundes wurde auf die Unterstützung gesamtschweizerischer Bestrebungen zu Gunsten Betagter und Behinderter beschränkt (Abs. 2).
a) Sachlicher Geltungsbereich: Hilfe und Pflege zu Hause i.S.v. Art. 112c BV
Gegenstand der Hilfe und Pflege zu Hause bilden insbesondere Leistungen der Krankenpflege, der Hauspflege, Haushaltshilfen, Mahlzeitendienste, aber auch die tageweise Unterbringung in institutionellen Strukturen, wie etwa Tagesheime.[51] Bei der Auslegung des sachlichen Geltungsbereichs ist zu beachten, dass die Übergänge zwischen den Wohnformen fliessend geworden sind.[52] Das zeigt sich auch an der Ausgestaltung der Leistungen, an denen sowohl für das institutionelle als auch das autonome Wohnen der Bund und die Kantone beteiligt sind (siehe Rz. 37 ff.). Anders als die Unterteilung in Art. 112b und Art. 112c Abs. 1 BV suggeriert, ist der sachliche Geltungsbereich der beiden Bestimmungen somit eng verschränkt.
b) Persönlicher Geltungsbereich: Behinderte i.S.v. Art. 112c BV
Die Botschaft zu Art. 112c BV definiert den Begriff der Behinderten weiter als denjenigen der «Invaliden» nach Art. 112b BV. Es sollen auch Personen erfasst werden, die noch nicht oder nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind oder deren Behinderung keine Auswirkungen auf ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne der IV hat.[53]
Der Begriff der Behinderten i.S.v. Art. 112c BV ist in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 2 BV[54] und Art. 1 Abs. 2 BRK[55] auszulegen. Von dieser Begriffsdefinition ausgehend wird deutlich, dass die in der Botschaft dargelegte Abgrenzung der Begriffe «Invalide» (Art. 112b BV) und «Behinderte» (Art. 112c BV) nicht trennscharf erfolgen kann. Der persönliche Geltungsbereich von Art. 112b BV überschneidet sich mindestens teilweise mit demjenigen von Art. 112c BV.[56] In einer verfassungs- und völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 112b und 112c BV ist sogar von einer weitreichenden Überschneidung auszugehen (siehe auch Rz. 21 f.).
c) Zuständigkeiten gemäss Art. 112c Abs. 1 BV
aa) Aufgaben der Kantone nach Art. 112c Abs. 1 BV
Nach Art. 112c Abs. 1 BV sorgen die Kantone für die Hilfe und Pflege von Betagten und Behinderten zu Hause. Dies ist als verbindlicher Leistungsauftrag (Handlungsverpflichtung) an die Kantone formuliert.[57] Die Organisation der Hilfe und Pflege obliegt damit den Kantonen. Aufgrund der Ausgestaltung der Sozialversicherungsleistungen ist bei der Finanzierung der Hilfe und Pflege zu Hause hingegen von einer subsidiären Finanzierungszuständigkeit der Kantone auszugehen.[58] Dies bestätigen auch kantonale Bestimmungen zur Förderung des selbstbestimmten Wohnens (siehe z.B. Art. 2 Abs. 1 lit. e BLG/BE[59]; § 4 Abs. 2 SLBG/ZH[60]) (siehe Rz. 37 ff.).[61] Die Wahl der Mittel im Bereich der subsidiären Finanzierungszuständigkeit steht den Kantonen frei; sie können diese Leistungen entweder selbst erbringen, Dritte mittels kollektiver Beiträge beauftragen oder den Betroffenen die notwendigen finanziellen Mittel in Form von individuellen Leistungen zur Verfügung stellen.[62]
bb) Hilfe und Pflege zu Hause als Verbundaufgabe von Bund und Kantonen
Obwohl die Aufgaben des Bundes im Bereich der Hilfe und Pflege zu Hause in Art. 112c Abs. 1 BV nicht ausdrücklich erwähnt sind, sind die meisten individuellen Leistungen an die Hilfe und Pflege für Behinderte zu Hause bundesrechtlich geregelt. Sie werden insbesondere von der Invaliden-, Kranken-, Unfall- oder Militärversicherung geleistet (siehe auch Rz. 37 ff.).[63] Aufgrund des Nebeneinanders der individuellen Sozialversicherungsleistungen und kantonalen Versorgungskompetenzen wird die Pflege von Menschen mit Behinderungen als «Verbundaufgabe» bezeichnet.[64] Jüngere Studien im Auftrag des Bundes bestätigen diese Einschätzung (Rz. 37 ff.). Anders als der Wortlaut von Art. 112c Abs. 1 BV suggeriert, ist sowohl die Finanzierung des Wohnens in Institutionen als auch des Wohnens «zu Hause» für Menschen mit Behinderungen in der Umsetzung eine geteilte Aufgabe von Bund und Kantonen.
cc) Aufgaben des Bundes nach Art. 112c Abs. 2 BV
Mit Art. 112c Abs. 2 BV erhält der Bund einen subsidiären Förderungsauftrag[65], gesamtschweizerische Bestrebungen zu Gunsten Betagter und Behinderter zu unterstützen. Gestützt auf diese Grundlage kann der Bund beispielsweise Organisationen wie das Rote Kreuz oder Pflege-Organisationen (z.B. Spitex) sowie private Behindertenhilfeorganisationen bei ihren gesamtschweizerischen Tätigkeiten (wie Beratungen, Kurse oder Weiterbildungen) unterstützen.[66] Vom Wortlaut her ist der Bund aber nicht auf die Unterstützung von Organisationen beschränkt. Er kann sämtliche Bestrebungen unterstützen, solange sie gesamtschweizerisch sind.[67]
3. Zwischenfazit
Die Anpassungen der Bundesverfassung und der Bundesgesetze im Rahmen des NFA erfolgten noch deutlich vor Ratifikation der BRK. Das zeigt sich an der Ausrichtung des dazumal gestützt auf Art. 112b Abs. 3 BV verabschiedeten Rahmengesetzes des Bundes über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG).[68] Dieser auf Institutionen beschränkte Ansatz der Eingliederung ist historisch zu erklären. Er vermag die geltenden Pflichten von Bund und Kantonen aus der Bundesverfassung (Rz. 13 ff.) und dem Völkerrecht (Rz. 5 ff. und Rz. 10 ff.) nur unzureichend zu erfüllen. Gefordert sind Rechtsgrundlagen auf allen Staatsebenen, die die Selbstbestimmung im Bereich des Wohnens systematisch priorisieren und fördern, wobei sowohl der Bund als auch die Kantone über die dazu notwendigen Kompetenzen in ihrem jeweiligen Aufgabengebiet verfügen.
IV. Ausgestaltung der Leistungen auf Kantons- und Bundesebene im Bereich Wohnen von Menschen mit Behinderungen
Die Zuständigkeiten von Bund und Kantonen im Bereich des selbstbestimmten Wohnens sind eng verschränkt. Das zeigen auch jüngere Studien zur tatsächlichen Ausgestaltung der Leistungen und Finanzflüsse (Rz. 37 ff.) sowie die zahlreichen Reformen in den Kantonen (Rz. 42 ff.) und auf interkantonaler Ebene (Rz. 45). Auch der Bund ist in seinen Kompetenzbereichen gefordert, die notwendigen Reformen in Umsetzung seiner verfassungs- und völkerrechtlichen Pflichten vorzunehmen (Rz. 37 f.).
1. Ausgestaltung der Leistungen
Im Bereich der sozialen Sicherheit erfolgte mit dem NFA nur eine teilweise Entflechtung zwischen Leistungen des Bundes und der Kantone. Gerade auch im Bereich des Wohnens für Menschen mit Behinderungen blieben die Zuständigkeiten und Finanzierungsmodelle verflochten.[69] Dies bestätigen auch eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in Auftrag gegebene Studie von 2017[70] sowie eine gemeinsam vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), dem BSV und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) in Auftrag gegebene Studie von 2022.[71]
Die Studie von 2017 stellt einen Trend weg vom Heim hin zu möglichst selbstständigem Wohnen fest, der mit der Ratifizierung der BRK und dem darin verfestigten Recht auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe noch einmal bekräftigt wurde.[72] Die meisten Kantone tragen die Stossrichtung der BRK mit.[73] In der Praxis bleibt es gerade auch aufgrund der fragmentierten Finanzierung zwischen Bund und Kantonen eher schwierig, die für ein Leben ausserhalb einer Institution benötigte Unterstützung zu finanzieren und zu organisieren.[74] Entsprechend folgt die Empfehlung an den Bund, Eckpunkte für ein Finanzierungsmodell auszuarbeiten, dass diesen Bereich gegenüber dem institutionellen Bereich gleich behandelt.[75] Der daran anschliessende Bericht von 2022 bestätigt diese Thesen.[76] Die geteilte Verantwortung von Bund und Kantonen zeigt sich auch in den jeweiligen prozentualen Finanzierungsanteilen für das private Wohnen. Der Bund finanziert rund einen Fünftel der Leistungen. Die Kantone finanzieren rund einen Drittel bis einen Viertel der Leistungen. Der restliche Anteil (rund die Hälfte der Gesamtfinanzierung) wird beim privaten Wohnen durch das persönliche Einkommen finanziert, wobei der Grossteil des Einkommens wiederum aus Bundesleistungen der IV oder weiterer Versicherungen stammt.[77]
Die Auftraggeber des Berichts (EBGB, BSV und SODK) erachten es entsprechend als gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen, ein bedürfnisgerechtes Angebot an geeigneten Wohnungen und finanzierbaren Unterstützungsangeboten für das private Wohnen zu schaffen.[78] Sie sehen dabei Verbesserungspotential sowohl auf Bundesebene im Bereich der IV-Leistungen und weiterer Versicherungsleistungen als auch auf Kantonsebene im Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung.[79]
Die soeben dargelegten Studien bestätigen die Schlussfolgerungen des Ausschusses über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK-Ausschuss) im Rahmen des ersten Staatenberichts zur Schweiz[80]. Darin hatte der BRK-Ausschuss festgestellt, dass Erwachsene und Kinder mit Behinderungen in Heimen untergebracht sind und Berichte über Gewalt und Missbrauch in diesen Einrichtungen vorliegen. Ergänzend hat der BRK-Ausschuss das Fehlen eines umfassenden Systems zur Bereitstellung von individueller Unterstützung und persönlicher Hilfe für ein unabhängiges Leben in der Gemeinschaft festgestellt sowie auf den Mangel an erschwinglichem und zugänglichem Wohnraum für Menschen mit Behinderungen hingewiesen.[81]
Die jüngst publizierte Synthese des vom Bund in Auftrag gegebenen Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang - Geschichte, Gegenwart, Zukunft» (NFP 76)[82] bestätigt die Empfehlungen des BRK-Ausschusses. Beispielhaft verdeutlicht etwa die Untersuchung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen, dass individuelle Bedürfnisse bis in die jüngste Gegenwart häufig missachtet wurden. Einige Betroffene erlitten gewaltsame Übergriffe.[83] Die Forschungsergebnisse betonen, dass die Mittel des Bundes und der Kantone gerade auch seit der Reorganisation im Rahmen des NFA dafür gedacht waren, die Eingliederung in die Gesellschaft zu fördern; aufgrund der gewählten Mittel zur Umsetzung des Eingliederungsziels - nämlich dem Fokus auf Institutionen - verstärkten sie aber die Separation.[84] Gestützt auf diese breit abgestützten Forschungsergebnisse regt der Bericht unter anderem dazu an, die Finanzierung im Sozialwesen so auszugestalten, dass die betroffenen Personen in ihrer Selbstbestimmung gefördert werden.[85]
2. Reformen in den Kantonen
Eine Mehrheit der Kantone hat den von der BRK und den Grundrechten der Bundesverfassung gestützten Paradigmenwechsel aufgegriffen. In vielen Kantonen lässt sich ein dynamischer Prozess beobachten, bei dem schrittweise die kantonale Behindertenpolitik und deren rechtliche Grundlagen an die Vorgaben der BRK angeglichen und die Gleichstellung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen auch im Bereich Wohnen gestärkt werden.
Die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft haben mit der Verabschiedung der Gesetze über die Behindertenhilfe (BHG/BS[86] und BHG/BL[87]) den Paradigmenwechsel auf kantonaler Ebene bereits ab 2017 vollzogen.[88] Beide Kantone orientieren die Leistungen der Behindertenhilfe am individuellen Bedarf der Personen mit Behinderung - unabhängig vom Ort des Leistungsbezugs.[89]
Auch die jüngst in Kraft gesetzten Rechtsgrundlagen in den Kantonen Bern[90], Zürich[91] und Zug[92] (in Kraft seit 1. Januar 2024) fördern die Selbstbestimmung der Behinderten mit vergleichbaren Ansätzen. In anderen Kantonen (siehe etwa Appenzell Ausserrhoden[93], Thurgau[94], Luzern[95], St. Gallen[96], Aargau, Freiburg, Graubünden, Nidwalden, Schwyz, Uri und Genf) sind Rechtsgrundlagen zur Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in Ausarbeitung oder bereits in Kraft. Ergänzend zur Anpassung des Unterstützungssystems für Menschen mit Behinderungen haben einige Kantone auch die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung mit allgemeinen Rechtgrundlagen (siehe z.B. Kanton Basel-Stadt[97]) oder in Form von Leitbildern oder Richtlinien (siehe z.B. Kanton Luzern[98]) gestärkt. Nicht wenige Kantone erkennen im Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung auch bedeutendes Sparpotential, was für sie ein weiterer Grund für die Systemänderung ist.[99]
3. Interkantonale Reformen
Für Menschen mit Behinderungen mit ausserkantonalem Wohnsitz ist die Interkantonale Vereinbarung für Soziale Einrichtungen (IVSE)[100] anwendbar. Die SODK unterstützt die Entwicklung der Kantone in Richtung durchlässige und selbstbestimmte Wohn- und Arbeitsangebote und hat 2021 eine entsprechende Vision[101] verabschiedet. Weiter hat die SODK einen Fachausschuss eingesetzt, der die IVSE in Übereinstimmung mit den Anforderungen der BRK weiterentwickeln und neue Angebotsformen im ambulanten Bereich aufnehmen soll.[102]
4. Reformen auf Bundesebene
Mit den umfassenden Pflichten der BRK erfolgte eine Vertiefung der Zusammenarbeit von Bund und Kantonen in sämtlichen Bereichen, die für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zentral sind. Ein Schwerpunkt liegt dabei auch auf der freien Wahl der Wohnform und des Wohnorts. Bund und Kantone haben im Anschluss an das gemeinsame Mehrjahresprogramm «Selbstbestimmtes Leben» ein gemeinsames Mehrjahresprogramm «Wohnen» für die Zeitperiode 2023-2026[103] verabschiedet. Dieses Programm ist gleichzeitig ein Bestandteil der Behindertenpolitik des Bundes 2023-2026[104], welches ebenfalls im Bereich des Wohnens einen Schwerpunkt setzt.[105]
Der Bund hat damit den bereichsübergreifenden Revisionsbedarf zur Förderung des selbstbestimmten Wohnens anerkannt. Auf Bundesebene läuft ein erstes Revisionsvorhaben zum Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG)[106]. Damit will der Bund im Rahmen der Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten Leistungen einführen, die im Alter das selbstständige Wohnen im angestammten Zuhause oder in einer betreuten Wohnform ermöglichen.[107] Gemäss Auswertung der Stellungnahmen im Vernehmlassungsverfahren unterstützen ausnahmslos alle Teilnehmenden (inklusive Kantone und SODK) die Stossrichtung dieser Vorlage. Besonders hervorgehoben wurde dabei die wohnformunabhängige Vergütung der Betreuungsleistungen in Umsetzung der BRK.[108] Die ELG-Revision und die von der Motion 24.3003 geforderte Revision des IFEG sind komplementär zu verstehen.
5. Zwischenfazit
Eine Entflechtung der Verantwortlichkeiten und Finanzierungsmodelle zwischen Bund und Kantonen im Bereich des Wohnens für Menschen mit Behinderungen ist nur teilweise erfolgt. Studien aus den Jahren 2017 und 2022 belegen, dass die finanzielle und organisatorische Unterstützung von Bund und Kantonen für ein selbstbestimmtes Leben ausserhalb von Institutionen eng verschränkt ist und deren gegenwärtige Ausgestaltung oft unzureichend ist.
Auf kantonaler Ebene sind bereits erste Reformen umgesetzt worden, wobei der Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung im Vordergrund steht. Auch interkantonale Reformvorhaben und gemeinsame Programme von Bund und Kantonen zielen darauf ab, die Kooperation zwischen Bund und Kantonen zu vertiefen und ein kohärentes Unterstützungsangebot zu schaffen. Auf Bundesebene könnte mit weiteren Massnahmen - wie etwa die mit Motion 24.3003 geforderte Revision des IFEG - die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen weiter fördern.[109]
V. Schlussfolgerungen
Art. 19 BRK garantiert das Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen innerhalb der Gesellschaft zu leben. Gefordert ist die Beseitigung von Hindernissen, die ein selbstbestimmtes Leben erschweren, sowie die Ausrichtung von Unterstützungsdiensten im Bereich des autonomen Wohnens. Auch weitere internationale Verträge schützen Aspekte des selbstbestimmten Wohnens. Das Recht auf selbstbestimmtes Wohnen ist auch in der Bundesverfassung verankert. Sowohl die Sozialziele (Art. 41 BV) als auch die Grundrechte der Bundesverfassung (siehe insbes. Art. 8 Abs. 4 BV) verpflichten Bund und Kantone, gesetzliche Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen im Bereich des autonomen Wohnens zu ergreifen.
Das bedeutet für Bund und Kantone, dass sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Rechtsgrundlagen anpassen müssen, um die Selbstbestimmung im Bereich Wohnen zu gewährleisten. Der Bund verfügt über die notwendigen Kompetenzen, um diese Pflichten auf Bundesebene umzusetzen. Im Zuge des NFA erfolgte eine teilweise Entflechtung der Aufgaben und Finanzierung der Eingliederung für Menschen mit Behinderungen. Dabei blieben die Zuständigkeiten des Bundes und der Kantone im Bereich des autonomen Wohnens tatsächlich weiterhin eng verschränkt. Das private Wohnen wird gemäss aktuellen Statistiken sowohl durch individuelle Leistungen des Bundes als auch durch Leistungen der Kantone finanziert. Die Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen erfordert deshalb Reformen auf Bundes- und auf Kantonsebene.
Dabei kommt bereits in der Botschaft zum NFA ein weites Verständnis des Eingliederungsziels nach Art. 112b BV zum Ausdruck. Die Eingliederung soll von Bund und Kantonen unabhängig vom Wohnort in den Lebensbereichen Wohnen, Bildung, Arbeit, Beschäftigung sowie soziale Kontakte und Freizeit unter Wahrung des Grundsatzes der Integration und der Selbstbestimmung gefördert werden. In persönlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass sich die Begriffe «Invalide» (nach Art. 112b BV) und «Behinderte» (nach Art. 112c BV) massgeblich überschneiden.
Der Bund verfügt mit Art. 112b Abs. 3 BV über eine Grundsatzgesetzgebungskompetenz zum Erlass von Zielen, Grundsätzen und Kriterien der Eingliederung von Personen mit Behinderungen. Dazu gehört auch das autonome Wohnen. Dass der Bund diese Kompetenz mit dem Erlass des IFEG bis anhin einzig in Bezug auf Institutionen ausgeübt hat, lässt sich historisch erklären. Es steht dem Bund offen, auch Grundsätze und Kriterien zur Förderung des selbstbestimmten Wohnens zu erlassen. In einer verfassungs- und völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 112b Abs. 3 BV ist sogar von einer Pflicht des Bundes auszugehen, die Eingliederung im Bereich des autonomen Wohnens mit entsprechenden Rechtsgrundlagen zu fördern.
Die finanzielle und organisatorische Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben ausserhalb von Institutionen ist sowohl auf Bundesebene als auch in vielen Kantonen oftmals noch unzureichend. Aktuelle Studien empfehlen zur Umsetzung der verfassungs- und völkerrechtlichen Pflichten Bund und Kantonen ein koordiniertes Finanzierungssystem zu entwickeln, das private Wohnformen gleichwertig zu institutionellen Angeboten behandelt. Die Umsetzung der Subjektfinanzierung, die sich am individuellen Bedarf orientiert, wird als zentraler Lösungsansatz gesehen. Eine Vielzahl der Kantone hat entsprechende Reformen bereits umgesetzt oder bereitet diese vor. Auch auf interkantonaler und auf Bundesebene bestehen Reformbemühungen. Für den Bund betrifft der Reformbedarf insbesondere die individuellen Sozialleistungen sowie eine Anpassung der Ziele, Grundsätze und Kriterien der Eingliederung gemäss Art. 112b Abs. 3 BV. Dies könnte - wie mit Motion 24.3003 gefordert - unter anderem mittels Revision oder Ergänzung des IFEG erfolgen.