I. Einleitung
Die Energiekrise, die im Jahre 2022 im Nachgang an den Kriegsbeginn in der Ukraine ausgelöst wurde, hat auch in der Schweiz grundlegende Herausforderungen und Verwundbarkeiten aufgezeigt. Als Drittstaat ohne Energieabkommen mit der EU kann die Schweiz ohne besondere völkerrechtliche Verträge nicht von den Solidaritätsmechanismen im EU-Recht profitieren und ist im Krisenfall grundsätzlich auf sich alleine gestellt.[1] Mit dem trilateralen Solidaritätsabkommen hat die Schweiz auf diesen Umstand reagiert, indem sie die Landesversorgung im Gasbereich zunehmend kooperativ absichert.[2]
Am 19. März 2024 haben Deutschland, Italien und die Schweiz ein Gas-Solidaritätsabkommen unterzeichnet.[3] In diesem Abkommen verpflichten sich die drei Länder, sich im Notfall mit Gaslieferungen für die Versorgung der geschützten Kundinnen und Kunden zu unterstützen. In einer Mangellage eröffnet das Abkommen die Möglichkeit, mittels wechselseitiger Solidarität zwischen den Vertragsparteien weiterhin Gas zum Heizen der Haushalte oder für den Betrieb von grundlegenden Diensten bereitzustellen.[4] Mit derartigen Solidaritätsabkommen, die sich auf das EU-Recht stützen, wird der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Energiesolidarität gemäss Art. 194 AEUV[5] konkretisiert und aktiviert. Bemerkenswert am vorliegenden Solidaritätsabkommen ist, dass es sich hierbei nicht um ein bilaterales, sondern um ein trilaterales Abkommen handelt und dass mit der Schweiz eine der Vertragsparteien ein Drittstaat ist.
Dieser Beitrag zeigt in einem ersten Schritt, wie internationale Solidaritätsabkommen im Gasbereich den Grundsatz der Energiesolidarität im EU-Recht konkretisieren und aktivieren (Ziffer II.), um in einem zweiten Schritt die spezifischen Eigenheiten des vorliegenden Solidaritätsabkommens zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz zu untersuchen (Ziffer III. und IV.). Der Fokus liegt dabei auf der trilateralen Natur des Abkommens und dem Einbezug der Schweiz als Drittstaat. Schliesslich wird in einem dritten Schritt darauf eingegangen, wie dieses trilaterale Solidaritätsabkommen in der Schweiz umgesetzt wird und zur Verbesserung der Gasversorgung beiträgt (Ziffer V.).
II. Aktivierung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Energiesolidarität
Der unionsrechtliche Grundsatz der Energiesolidarität in Art. 194 Abs. 1 AEUV konkretisiert den allgemeinen Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bezeichnet die Solidarität als einen der tragenden Grundsätze des Unionsrechts («one of the fundamental principles of EU law»).[6] Mehrere Bestimmungen der Verträge nehmen auf den Grundsatz der Solidarität Bezug, so insbesondere die Präambel, Art. 2 EUV[7], Art. 3 Abs. 3 Unterabsatz 3 EUV, Art. 21 Abs. 1 EUV, Art. 24 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 67 Abs. 2 AEUV, Art. 122 Abs. 1 AEUV, Art. 222 AEUV. Hieraus folgt der Europäische Gerichtshof, dass die Solidarität «dem gesamten Rechtssystem der Union zugrunde liegt».[8]
Die Solidarität ist damit nicht nur ein Wert gemäss Art. 2 EUV und Ziel gemäss Art. 3 Abs. 3 Unterabsatz 3 EUV, sondern ein Grundsatz der EU, der für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung massgebend war und den sie gemäss Art. 21 EUV auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will. Unklar bleiben jedoch die Rechtsnatur und der genaue Gehalt des Solidaritätsprinzips. So ist es höchst fraglich, inwiefern das Solidaritätsprinzip als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts gemäss Art. 6 Abs. 3 EUV qualifiziert werden kann.[9] Klar ist jedoch, dass dem Solidaritätsprinzip als Strukturprinzip ein grosses normatives Entfaltungspotential zukommt.[10]
Art. 194 Abs. 1 AEUV sieht vor, dass die Energiepolitik der Union im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten folgende Ziele verfolgt: Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts (lit. a), Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit (lit. b), Förderung der Energieeffizienz und Entwicklung erneuerbarer Energiequellen (lit. c) sowie Förderung der Interkonnexion der Energienetze (lit. d). Der rechtliche Grundsatz der Energiesolidarität hat insbesondere als kooperatives Instrument zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit praktische Bedeutung.[11] Die Europäische Kommission hält in ihrer Empfehlung zur Anwendung des Solidaritätsmechanismus fest, dass «die Verordnung die Solidarität von der Ebene eines national angewandten Prinzips auf die Ebene eines EU-weiten Sicherheitsnetzes für die am stärksten gefährdeten Verbrauchergruppen» anhebt.[12] Nationale Solidarität wird damit durch europäische Solidarität ergänzt.
Der unionsrechtliche Grundsatz der Energiesolidarität hat folgende Funktionen: Erstens ist er Ausdruck des Binnenmarktes (internal market approach), zweitens beschreibt er die Risikoverteilung zwischen Mitgliedstaaten (risk-sharing) und drittens stellt er ein Mittel zum Schutz der von einer Krise am stärksten betroffenen Menschen und Gemeinschaften dar (protecting the most affected citizens and communities).[13] Solidaritätsabkommen im Gasbereich erfüllen dabei alle drei Funktionen: Erstens stärken Solidaritätsabkommen den Energiebinnenmarkt. Dies kommt im Abkommen unter anderem durch den expliziten Verweis auf die Umsetzung der gemeinsamen Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt zum Ausdruck, die im Dritten Energiepaket insbesondere Verpflichtungen zur Transparenz und Nichtdiskriminierung vorsehen. Zweitens haben Solidaritätsabkommen die Gewährleistung der sicheren Gasversorgung zum Ziel (Art. 1). Die Zusammenarbeit im Gasbereich soll damit die Risiken für die Energieversorgung für jedes einzelne Land mindern. Drittens sollen Solidaritätsabkommen besonders verletzliche Personengruppen, sog. geschützte Kundinnen und Kunden, vor negativen Auswirkungen bewahren. Sie schützen folglich jene Bevölkerungsgruppen, die von einer mangelhaften Gasversorgung am stärksten betroffen sind. Kurzum: Solidaritätsabkommen im Gasbereich bekräftigen die wirtschaftliche Interdependenz zwischen den Staaten und fördern damit den Binnenmarkt. Gleichzeitig aktivieren sie eine doppelte Hilfeleistungspflicht: Die zwischenstaatliche Pflicht zur Zusammenarbeit (horizontale Ebene) zur Unterstützung der von der Solidarität geschützten Kundinnen und Kunden (vertikale Ebene).
Dass dem Grundsatz der Energiesolidarität gemäss Art. 194 Abs. 1 AEUV auch eigenständige praktische Bedeutung zukommt, wurde bereits in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes im Fall OPAL[14] deutlich. Der EuGH hatte in diesem aufsehenerregenden Fall klargestellt, dass die Bedeutung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Energiesolidarität über die blosse Auslegung des Sekundärrechts hinausgeht und eigenständige Rechte und Pflichten für die Union wie auch für die Mitgliedstaaten beinhaltet.[15] Es ist jedoch unklar, inwiefern der Grundsatz der Energiesolidarität nicht nur die Berücksichtigung von Interessen anderer Mitgliedstaaten im Rahmen von Folgenabschätzungen verlangt (due regard-Verpflichtung), sondern unmittelbar ohne sekundärrechtlichen Umsetzungsakt oder Vereinbarung zur wechselseitigen Hilfe verpflichten kann. Konkret geht es darum, ob der Solidaritätsgrundsatz über die Erfüllung von negativen Unterlassungspflichten und die Einhaltung unionsrechtlicher Vorschriften hinaus zusätzlich auch eigenständige positive Handlungspflichten begründen kann.
Die Frage, inwiefern unmittelbar aus dem Grundsatz der Energiesolidarität wechselseitige Hilfeleistungspflichten begründet werden können, entschärft sich durch die Konkretisierung der Energiesolidarität im Sekundärrecht und der Aktivierung der sekundärrechtlichen Verpflichtungen durch den Abschluss von Solidaritätsabkommen. Solidaritätsabkommen im Gasbereich - wie das Abkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz - stützen sich dabei auf Art. 13 Absatz 10 Satz 2 der EU-Verordnung 2017/1938 über die Sicherheit der Gasversorgung[16]. Im Kern dieser Solidaritätsabkommen steht die wechselseitige Solidarität: Ist die Versorgung von durch Solidarität geschützten Kunden in der Schweiz nicht länger sichergestellt, so hat die Schweiz gemäss Art. 9 des Abkommens das Recht, sowohl Deutschland als auch Italien ein Solidaritätsersuchen zu unterbreiten. Im umgekehrten Fall, wo die Versorgung von durch Solidarität geschützten Kunden in Deutschland oder Italien nicht länger sichergestellt ist, haben sowohl Deutschland als auch Italien ebenfalls das Recht, der Schweiz ein Solidaritätsersuchen zu unterbreiten. Das trilaterale Abkommen regelt sowohl freiwillige, d.h. marktbasierte wie auch verpflichtende, d.h. nicht marktbasierte Solidaritätsmassnahmen mit dem Ziel, geschützte Kundinnen und Kunden gemäss Art. 2 Abs. 6 der EU-Verordnung 2017/1938 mit Gas zu versorgen. Darunter fallen Haushaltskunden, die an ein Erdgasverteilnetz angeschlossen sind, wie beispielsweise Fernwärmeanlagen, Krankenhäuser und grundlegende Einrichtungen gesundheitlicher und sozialer Art. Solidaritätsersuchen eines Vertragsstaates an die anderen Vertragsstaaten haben im Wesentlichen eine Privilegierung von durch Solidarität geschützten Kunden gegenüber nicht von Solidarität geschützten Kunden zur Folge. Die um Solidarität ersuchten Vertragsparteien sind nämlich grundsätzlich verpflichtet, die Gasversorgung ihrer nicht geschützten Kundinnen und Kunden zu senken oder zu unterbrechen, bis der Bedarf der geschützten Kundinnen und Kunden des ersuchenden Staats gedeckt ist.[17]
Gemäss der EU-Kommission wird mit der EU-Verordnung 2017/1938 «das politische Konzept der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten in der Energiepolitik der EU zum ersten Mal in die Realität umgesetzt».[18] Gas-Solidaritätsabkommen wie dasjenige zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz aktivieren damit das unionsrechtliche Solidaritätsprinzip im Energiebereich gemäss Art. 194 Abs. 1 AEUV.
III. Von bilateralen zu trilateralen Solidaritätsabkommen
EU-Mitgliedsstaaten sind gemäss Art. 13 Abs. 10 der EU-Verordnung 2017/1938 verpflichtet, Solidaritätsvereinbarungen abzuschliessen, welche die technischen, rechtlichen und finanziellen Einzelheiten regeln. Die Kommission kritisiert in ihrem Bericht zur Überprüfung der Anwendung der EU-Verordnung 2017/1938 vom 5. Oktober 2023, dass die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, solche Solidaritätsabkommen abzuschliessen.[19] So bestehen gemäss aktuellem Stand - abgesehen vom jüngst abgeschlossenen trilateralen Abkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz - erst gerade acht von möglichen 40 Solidaritätsabkommen.[20] Vor diesem Hintergrund hatte die Kommission bereits im Mai 2020 aufgrund der Nichteinhaltung der Verpflichtung zum Abschluss von Solidaritätsabkommen an 25 Mitgliedsstaaten ein Aufforderungsschreiben gerichtet.[21]
In der Energiekrise von 2022 verabschiedeten die EU-Ministerinnen und Minister am 19. Dezember 2022 gestützt auf Art. 122 Abs. 1 AEUV die EU-Solidaritätsverordnung 2022/2576[22], in der Standardsolidaritätsvorschriften für den Fall festgelegt werden, dass keine bilateralen Vereinbarungen gemäss Art. 13 Abs. 10 der EU-Verordnung 2017/1938 vorliegen. Im Fall von gravierenden Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, gibt Art. 122 Abs. 1 AEUV dem Rat die Kompetenz, auf Vorschlag der Kommission im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Massnahmen zu beschliessen. Die auf Art. 122 AEUV gestützte Verordnung ist befristet und Ende 2023 ausgelaufen, und wurde mit der EU-Verordnung 2023/2919[23] wiederum um ein Jahr bis Ende 2024 verlängert. Mit der Verlängerung der Geltungsdauer der Verordnung wird auf den Umstand reagiert, dass der Abschluss von Solidaritätsabkommen nur sehr langsam vorankommt. Die auf Art. 122 AEUV gestützte EU-Solidaritätsverordnung 2022/2576 dient damit als temporäre, subsidiäre Auffangregelung. Die EU will damit verhindern, dass Solidaritätslücken entstehen, weil sich die EU-Mitgliedsstaaten nicht auf die technischen, rechtlichen und finanziellen Einzelheiten einigen können oder der politische Wille zur Aktivierung der Solidarität im Einzelnen teilweise noch fehlt.
Auffällig ist, dass es sich bei den acht anderen bereits abgeschlossenen Solidaritätsabkommen zwischen Deutschland und Dänemark (14. Dezember 2020), Deutschland und Österreich (2. Dezember 2021), Estland und Lettland (4. Januar 2022), Litauen und Lettland (10. März 2022), Italien und Slowenien (22. April 2022), Finnland und Estland (25. April 2022), Dänemark und Schweden (8. Mai 2023) sowie Slowenien und Kroatien (14. Juli 2023) um bilaterale Abkommen handelt. Das Abkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz ist damit das erste trilaterale Solidaritätsabkommen.
So stellen sich in diesem Dreiecksverhältnis neue Fragen, insbesondere hinsichtlich Prioritätenregeln für Notlagen, die geschützte Kundinnen und Kunden in mehreren der drei Länder betreffen. Art. 7 des Abkommens hält fest, dass die durch Solidarität geschützten Kunden in der Schweiz den deutschen und italienischen durch Solidarität geschützten Kunden gleichgestellt werden. Art. 5 des Abkommens stellt in diesem Sinne klar, dass ein Solidaritätsangebot zwischen Deutschland und Italien die Versorgung von durch Solidarität geschützten Kunden in der Schweiz nicht beeinträchtigen darf. Für den Fall, dass ein Solidaritätsangebot zwischen Deutschland und Italien die Versorgungssicherheit von durch Solidarität geschützten Kunden in der Schweiz gefährdet, so sieht Art. 8 des Abkommens vor, dass sich die zuständigen Behörden der Vertragsparteien auf Ersuchen der schweizerischen zuständigen Behörde innerhalb kürzester Zeit treffen, um Massnahmen zur Sicherstellung der Versorgung von durch Solidarität geschützten Kunden in der Schweiz zu ergreifen. Das Abkommen statuiert damit die Gleichwertigkeit der durch Solidarität geschützten Kunden in den drei Vertragsstaaten und verfolgt einen prozeduralen Ansatz für den Fall, dass Solidaritätsersuchen zwischen Deutschland und Italien die von der Solidarität geschützten Kunden in der Schweiz gefährdet. Dies ist notwendig, um sicherzustellen, dass die bilaterale Solidarität die trilaterale Solidarität nicht kompromittiert. Trilaterale Gas-Solidaritätsabkommen sind daher im Vergleich zu bilateralen Solidaritätsabkommen nicht nur quantitativ, sondern insbesondere qualitativ verschieden.
IV. Solidaritätsabkommen mit einem Drittstaat
Das Solidaritätsabkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz ist nicht nur das erste trilaterale Abkommen, sondern auch das erste Abkommen, das mit einem Drittstaat (Nicht-EU-Mitgliedstaat) abgeschlossen wurde. Konkret handelt es sich um ein deutsch-italienisches Abkommen über solidarische Unterstützung im Falle einer Gasversorgungskrise und um ein trilaterales Abkommen, in dem die Schweiz in die Regelungen des bilateralen Abkommens einbezogen wird. Die Kernelemente des bilateralen Abkommens zwischen Deutschland und Italien, das auf EU-Recht beruht, gelten aufgrund des trilateralen Abkommens analog auch für Solidaritätsmassnahmen mit der Schweiz.[24] Die Rolle der Schweiz als gastransitierender Drittstaat ist jedoch mit anderen Drittstaaten, die keine Transitländer sind, nicht vergleichbar. Die EU-Verordnung 2017/1938 über die sichere Gasversorgung verpflichtet nämlich die Mitgliedstaaten, Solidaritätsmassnahmen auch dann einzusetzen, wenn ein Mitgliedstaat mit einem anderen Mitgliedstaat über ein Drittland verbunden ist, sofern der Durchfluss durch dieses Drittland nicht eingeschränkt ist.[25] Durch den Einbezug der Schweiz in das bereits abgeschlossene Gas-Solidaritätsabkommen zwischen Deutschland und Italien ist der Transit gewährleistet (vgl. Art. 1 des Abkommens). Der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck betonte sodann, dass dieses trilaterale Solidaritätsabkommen ein «wichtiges Signal der politischen Geschlossenheit über die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinaus» darstelle. Die Europäische Politische Gemeinschaft, die am 6. Oktober 2022 in Prag gegründet wurde, verfolgt ebenfalls den Ansatz, in strategisch wichtigen Sektoren wie beispielsweise im Energiebereich eine Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnerstaaten über die EU-Grenzen hinaus anzustreben. Solidarität wird damit nicht nur als Prinzip innerhalb der EU, sondern auch in ihren Aussenbeziehungen mit Drittstaaten aktiviert (vgl. Art. 21 EUV), sofern dies mit den Interessen und den Werten der EU übereinstimmt.
Die Anschlussfrage, die sich stellt, ist die nach der Rechtsnatur von solchen Solidaritätsabkommen, die mit einem Drittstaat abgeschlossen werden. Inwiefern handelt es sich hierbei um EU-rechtliche oder völkerrechtliche Vereinbarungen? Die Vereinbarungen stützen sich auf Art. 13 Abs. 10 der EU-Verordnung 2017/1938 über die sichere Gasversorgung und damit auf EU-Recht. Es handelt sich bei diesen Abkommen um die Durchführung einer unionsrechtlichen Verpflichtung. Auch der Inhalt wird nach dem EU-Recht modelliert. In den Vereinbarungen soll gemäss der Ansicht der EU-Kommission lediglich festgelegt werden, wie die im Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Pflichten auszuüben sind. Das Recht, um Solidarität zu ersuchen, und die Pflicht, diese Solidarität zu leisten, sind bereits im EU-Recht verankert.[26] Um sicherzustellen, dass «zwischenstaatliche Energieabkommen die Versorgungssicherheit der EU und das Funktionieren des Binnenmarkts nicht gefährden», hatte die EU-Kommission das Solidaritätsabkommen bereits vorgeprüft.[27]
Dies gesagt, handelt es sich um eine zwischenstaatliche Vereinbarung intergouvernementaler Natur (horizontale Ebene), auch wenn sie eine unionsrechtliche Verpflichtung umsetzt und Vorgaben des EU-Rechts (vertikale Ebene) einhalten muss. Deutschland und Italien haben den völkerrechtlichen Vertrag im Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen und anzuwenden, weil sie zugleich an das Unionsrecht gebunden sind. Mit der Schweiz ist ein Drittstaat Vertragspartei dieses Solidaritätsabkommens, die nicht an den EU-Besitzstand gebunden ist. Dementsprechend ist für die Beilegung von Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Abkommens gemäss Art. 11 Abs. 2 ein ad-hoc Schiedsgericht und nicht der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig. Die Schiedsgerichtsklausel sieht in diesem Sinne in Abs. 5 vor, dass das Abkommen in Einklang mit dem Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge auszulegen ist. Es nennt aber auch andere zwischen den Vertragsparteien geltende völkerrechtliche Regeln und Grundsätze als Auslegungsmassstab. Je nach Fragestellung wird das Schiedsgericht folglich auch auf das bilaterale Abkommen zwischen Deutschland und Italien zurückgreifen, um das trilaterale Abkommen auszulegen, das gemäss Art. 1 Bestandteil des bilateralen Abkommens ist und auf dieses Bezug nimmt.[28] In diesem Sinne wird das Schiedsgericht sich auch auf EU-Recht stützen, um Streitigkeiten zu entscheiden.
Der Bundesrat anerkennt, dass das EU-Recht bei der Auslegung des trilateralen Abkommens bis zu einem gewissen Grad eine Rolle spielen könnte, da das Abkommen auf einem Konzept des EU-Rechts beruht.[29] Gemeint ist hierbei insbesondere die Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten zum Abschluss von solchen Solidaritätsabkommen in Art. 13 Abs. 10 sowie die Definition von durch Solidarität geschützten Kunden in Art. 2 Abs. 6 der EU-Verordnung 2017/1938 über die sichere Gasversorgung. Die wichtigsten Rechtsakte der EU im Bereich der Gasversorgung sind zudem im Ingress des trilateralen Abkommens aufgeführt. Für die Schweiz relevante Verweise auf das EU-Recht ergeben sich dadurch, dass das trilaterale Abkommen mit der Schweiz Bestandteil des bilateralen Abkommens zwischen Deutschland und Italien darstellt, das auf EU-Recht basiert. Die Verweise auf das EU-Recht haben jedoch gemäss der Ansicht des Bundesrates nur eine beschränkte Wirkung, da die zentralen Rechte und Pflichten der Vertragsparteien detailliert und umfassend im Abkommen selbst geregelt sind und die Verweise statischer Natur sind und die Fundstelle der betreffenden Texte klar angeben.[30]
Dem Bundesrat ist bei dieser Analyse zweifellos zuzustimmen, wonach das trilaterale Gas-Solidaritätsabkommen kein EU-, sondern völkerrechtliches Instrument darstellt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Gas-Solidaritätsabkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz nicht um einen völkerrechtlichen Staatsvertrag handelt, der im luftleeren Raum abgeschlossen wurde. Vielmehr profitiert die Schweiz mit diesem Solidaritätsabkommen von einem im EU-Recht bereits entwickelten Solidaritätsmechanismus, der durch eine völkerrechtliche Übertragung im wechselseitigen Interesse nun auch die Schweiz einbezieht.
V. Innerstaatliche Umsetzung in der Schweiz
Das Abkommen über Solidaritätsmassnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien muss vom Parlament genehmigt werden und untersteht dem fakultativen Referendum gemäss Art. 141 Abs. 1 lit. d Ziff. 3 BV[31], weil ein Solidaritätsersuchen unmittelbare Folgen für die nicht durch Solidarität geschützten Schweizer Kunden hat, die in ihrer Gasversorgung eingeschränkt werden.[32]
Gemäss Art. 102 BV stellt der Bund die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Der Bund handelt dabei nicht bloss reaktiv, sondern trifft vorsorgliche Massnahmen und kann nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen. Es ist anerkannt, dass in einer globalisierten und interdependenten Welt die Landesversorgung nicht im Alleingang, sondern realistischerweise in Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnerstaaten gewährleistet werden muss.[33]
Art. 61 Abs. 1 LVG[34] ist Ausdruck dieser strategischen Ausrichtung, wonach sich die Schweiz zur Gewährleistung ihrer Versorgungssicherheit auch kooperativer Instrumente bedient. Gemäss dieser Bestimmung kann der Bundesrat zur Sicherstellung der wirtschaftlichen Landesversorgung völkerrechtliche Verträge abschliessen über den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit, die Mitwirkung in internationalen Gremien zur Versorgungssicherheit, sowie die Vorbereitung, den Einsatz und die Koordination von Massnahmen zur Bewältigung von Versorgungskrisen.
Die Schweiz hat im Unterschied zu Deutschland und Italien kein Gasversorgungsgesetz, welches die Rechtsgrundlage für die Umsetzung des Solidaritätsabkommens bieten könnte.[35] Der Bundesrat stützt daher die Verordnung auf Art. 5 Abs. 4, Art. 57 Abs. 1, und Art. 60 Abs. 1 LVG.[36] Die Verordnung beauftragt die schweizerische Aktiengesellschaft für Erdgas (Swissgas) mit der Vorbereitung und Umsetzung der Solidaritätsmassnahmen nach dem Abkommen (vgl. Art. 1). Swissgas prüft insbesondere, ob ein Risiko besteht, dass die Umsetzung der Solidaritätsmassnahmen bei einem ersuchen von Deutschland oder Italien die Funktionsfähigkeit und die Sicherheit der Gas- und Elektrizitätssysteme der Schweiz beeinträchtigt (vgl. Art. 8 Abs. 1 Bst. b). Art. 2 der Verordnung listet zudem alle durch Solidarität geschützten Kundinnen und Kunden. Die oder der Delegierte für wirtschaftliche Landesversorgung, die oder der gemäss Art. 58 LVG vom Bundesrat ernannt wird und aus der Wirtschaft stammt, ist gemäss Art. 15 für den Vollzug der Verordnung zuständig und überwacht die getroffenen Massnahmen auf ihre Zweckmässigkeit, Angemessenheit und Wirksamkeit (vgl. auch Art. 170 BV).
VI. Fazit
Das trilaterale Solidaritätsabkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz verdeutlicht, dass Solidarität in erster Linie als kooperatives Instrument der Krisenvorsorge dient. Das unionsrechtliche Solidaritätsprinzip in der europäischen Energiepolitik (Art. 194 Abs. 1 AEUV) wird zwar in der EU-Verordnung 2017/1938 konkretisiert, aber erst durch zwischenstaatliche Solidaritätsabkommen aktiviert. Das Abkommen zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz zeigt weiter, dass Solidarität nicht nur bilateral, sondern auch trilateral aktiviert werden kann. Zuletzt verdeutlicht dieses Beispiel, dass Solidarität über EU-Grenzen hinausgehen und strategische Drittstaaten einbeziehen kann. Solidarität wird damit nicht nur als Prinzip innerhalb der EU, sondern auch in ihren Aussenbeziehungen mit Drittstaaten aktiviert, sofern dies mit den Interessen und den Werten der EU übereinstimmt.