Behördenbeschwerde im Opferhilferecht

Überlegungen zu Beschwerdelegitimation, Behördenpraxis und Rechtsprechung

Karl-Marc Wyss *

Der Beitrag stellt die Beschwerdemöglichkeit des Bundes im Opferhilferecht vor. Er behandelt die Frage, wann das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zur Behördenbeschwerde gegen kantonale Entscheide betreffend Opferhilfe berechtigt ist und welche Funktion dabei dem Bundesamt für Justiz (BJ) zukommt. Er nennt jüngere Anwendungsbeispiele und erläutert, weshalb das BJ im Namen des EJPD auch Behördenbeschwerden «pro Adressat» führen kann und was Anwältinnen und Anwälte angesichts der Behördenbeschwerde beachten sollten.

L'article examine la possibilité pour la Confédération d'exercer un recours dans le cadre du droit de l'aide aux victimes. Il aborde la question de savoir à quel moment le Département fédéral de justice et police (DFJP) est en droit de contester les décisions cantonales relatives à l'aide aux victimes et décrit le rôle de l'Office fédéral de la justice (OFJ) dans ce contexte. L'article cite des exemples récents pour illustrer cette pratique et explique pourquoi l'OFJ peut également déposer des recours administratifs au nom du DFJP en tant que tiers agissant en faveur du destinataire de la décision contestée. Il souligne également les points auxquels les avocats doivent prêter attention lorsqu'ils traitent des recours administratifs.

Zitiervorschlag: Karl-Marc Wyss, Behördenbeschwerde im Opferhilferecht, sui generis 2024, S. 155

DOI: https://doi.org/10.21257/sg.261

* Dr. iur. Karl-Marc Wyss, Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Rechtsetzungsprojekte II, Bundesamt für Justiz. Der Autor vertritt im Beitrag ausschliesslich seine persönliche Auffassung. Er dankt Dr. iur. Michel Besson, LLM, Chef Rechtsetzungsprojekte II, Bundesamt für Justiz, sowie Prof. Dr. iur. Franz Zeller und Maria Gertsch, beide wissenschaftliche Mitarbeitende, Rechtsetzungsprojekte II, Bundesamt für Justiz, für die wertvollen Hinweise und Anmerkungen.


I. Einleitung

Wer einen Entscheid eines kantonalen Verwaltungs- oder Obergerichts betreffend Opferhilfe nach Opferhilfegesetz (OHG)[1] in den Händen hält, dem fällt vielleicht auf, dass das Gericht den Entscheid nicht nur den Parteien, sondern jeweils auch dem Bundesamt für Justiz (BJ) eröffnet.[2] Dies geschieht von Bundesrechts wegen und ermöglicht der Bundesbehörde, ihre Aufsicht über die einheitliche Anwendung der bundesrechtlichen Opferhilfegesetzgebung wahrzunehmen und soweit erforderlich mittels Beschwerde zu reagieren. Der Beitrag widmet sich dieser sog. Behördenbeschwerde im Opferhilferecht. Er beginnt kurz mit dem Beschwerderecht des Bundes im Allgemeinen (Rz. 2 f.), bevor er spezifisch auf die Behördenbeschwerde im Opferhilfebereich eingeht (Rz. 4 ff.) und dabei u.a. klärt, ob eine Beschwerde «pro Adressat» möglich ist (Rz. 18 ff.), welche Informationspflichten für die Kantone bestehen (Rz. 31 ff.) und ob Verfahrenskosten zu erheben sind (Rz. 35 f.).

II. Behördenbeschwerderecht des Bundes im Allgemeinen

Der Bund wacht gemäss Art. 49 Abs. 2 der BV[3] darüber, ob die Kantone das Bundesrecht einhalten. Eines der zentralen Mittel der Bundesaufsicht ist dabei die Behördenbeschwerde.[4] Ihre Voraussetzungen verankerte der Bundesgesetzgeber denn auch im Bundesgerichtsgesetz (BGG)[5]: Die Beschwerdebefugnis (Legitimation) ist dabei eine der Sachurteilsvoraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein kantonales oder eidgenössisches Gericht - im vorliegenden Kontext meist das Bundesgericht - auf eine Beschwerde eintritt.[6] Das Gemeinwesen und damit auch der Bund können sich zwar unter gewissen Voraussetzungen über das allgemeine Beschwerderecht (vgl. Art. 89 Abs. 1 BGG) legitimieren. Im vorliegenden Kontext geht es jedoch allein um die sog. Behördenbeschwerde - einem besonderen Beschwerderecht. Letzteres liegt vor, wenn ein Verfahrens- oder ein Sachgesetz das Gemeinwesen zur Beschwerde ermächtigt (vgl. Art. 89 Abs. 2 BGG).[7]

Gestützt auf Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG zur Behördenbeschwerde berechtigt sind im Bund die Departemente und die Bundeskanzlei, sofern der angefochtene Akt die Bundesgesetzgebung in ihrem Aufgabenbereich verletzen kann.[8] Unter denselben Voraussetzungen können zudem die den Departementen unterstellten Dienststellen (Bundesämter) im eigenen Namen Beschwerde führen, soweit das Bundesrecht es vorsieht.[9] Eine Verordnung des Bundesrats oder des Departements genügt dazu.[10] Bei der Berechtigung zur Behördenbeschwerde nach Art. 89 Abs. 2 BGG handelt es sich «um ein [meist][11] abstraktes Beschwerderecht mit Beteiligungsrecht, aber ohne Beteiligungspflicht am kantonalen Verfahren und mit der Möglichkeit, eine reformatio in peius zu verlangen».[12] Es dient laut Bundesgericht dazu, «den Vollzug des Bundesrechts in den Kantonen und in der Bundesverwaltung zu überwachen und dessen richtige und einheitliche Anwendung - wenn nötig letztinstanzlich durch das Bundesgericht - sicherzustellen».[13] Soweit ein Departement oder eine Amts- oder Dienststelle namens des Gemeinwesens Beschwerde führt, hat es seine Vertretungsbefugnis explizit darzulegen: Es oder sie kann dazu entweder den entsprechenden speziellen Ermächtigungsbeschluss einreichen oder die zur Prozessführung berechtigenden Vorschriften angeben.[14]

III. Beschwerderecht des EJPD im Opferhilferecht und die Rolle des BJ

Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) ist im Sinne von Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG zur Behördenbeschwerde berechtigt, da die kantonalen Entscheide (Anfechtungsobjekte) das OHG und damit die Bundesgesetzgebung in seinem Aufgabenbereich verletzen können. Innerhalb des EJPD obliegt die Beschwerdeführung in Sachen OHG dem BJ, das u.a. die Aufgabe hat, beim Vollzug des OHG mitzuwirken und dessen einheitliche Anwendung zu gewährleisten.[15] Entsprechend verfasst das BJ die Beschwerden in Sachen Opferhilfe,[16] wobei amtsintern der Fachbereich Rechtsetzungsprojekte II im Direktionsbereich Öffentliches Recht diese Aufgabe übernimmt. Das BJ konnte bis anhin aufgrund der Rechtsgrundlagen nicht im eigenen Namen Beschwerden führen, sondern nur im Namen des EJPD. Gestützt auf Art. 49 Abs. 1 lit. b RVOG[17] i.V.m. Ziff. 7 der Weisung des EJPD vom 1. Januar 2012 zur Delegation der Unterschriftsberechtigung der Departementsvorsteherin (UDel) war u.a. die stellvertretende Direktorin des BJ in ihrer Funktion als Chefin des Direktionsbereichs Öffentliches Recht ermächtigt, die OHG-Beschwerdeschrift namens des EJPD zu unterzeichnen.

Das EJPD revidierte jedoch jüngst seine Organisationsverordnung (OV-EJPD). Gemäss dieser kann das BJ zukünftig in sämtlichen Bereichen in eigenem Namen Beschwerde führen (Art. 7c Abs. 2 OV-EJPD).[18] Diese Änderungen traten am 1. Mai 2024 in Kraft. Seither kann das BJ daher Behördenbeschwerde im Opferhilfebereich neu in eigenem Namen führen.

1. Richtige und einheitliche Anwendung der Opferhilfegesetzgebung: Rechtsschutzinteresse und Fallkonstellationen

Ein allgemeines Interesse an der richtigen und einheitlichen Anwendung der jeweilig betroffenen Bundesgesetzgebung - im vorliegenden Kontext der Opferhilfegesetzgebung - ist für die Beschwerdelegitimation ausreichend. Das Erfordernis der materiellen Beschwer entfällt:[19] So muss das Gemeinwesen - anders als private Beschwerdeführende - vom angefochtenen Opferhilfeentscheid nicht stärker als jedermann betroffen sein (keine drohenden persönlichen und realen - materiellen oder ideellen - Nachteile).[20] Das BJ rekurriert (bis am 31. April 2024 im Namen des EJPD; siehe Rz. 4 f.) denn auch mit dem Ziel, eine einheitliche und korrekte Anwendung des Bundesrechts in Form des Opferhilfegesetzes und der zugehörigen Opferhilfeverordnung sicherzustellen. Es ist also weder selbst betroffen, noch steht der Schutz einzelner Betroffener (Opfer) im Vordergrund. Die Beschwerde bezweckt vielmehr, dass im konkreten Fall ein Rechtsverhältnis bundesrechtskonform beurteilt wird (Durchsetzung der in der Opferhilfegesetzgebung verkörperten öffentlichen Interessen).[21]

a) Beschwerdeführung: Entscheidautonomie und -kriterien

Das BJ sichtet die zugestellten letztinstanzlichen kantonalen Entscheide zur Opferhilfe, überprüft diese hinsichtlich der richtigen und einheitlichen Anwendung der Opferhilfegesetzgebung und erhebt soweit erforderlich Beschwerde. Das BJ entscheidet dabei autonom über die Beschwerdeführung; es ist selbst bei entsprechender Forderung eines Kantons nicht zur Beschwerdeführung verpflichtet.[22] Mit Blick auf die einheitliche Anwendung des Opferhilferechts muss in vergleichbaren Fällen ein hinreichendes Interesse an der Beurteilung der aufgeworfenen Probleme vorliegen. Dies trifft praxisgemäss zu, wenn das BJ dem Gericht eine neue Rechtsfrage unterbreiten kann oder eine konkret drohende, nicht anders abwendbare bundesrechtswidrige Rechtsentwicklung verhindert werden soll.[23] Für die Beschwerdeerhebung kommen namentlich folgende Konstellationen in Frage (in Anlehnung an Berset Hemmer):[24]

  • Der kantonale Entscheid weicht deutlich vom Bundesrecht - zugehörige Rechtsprechung eingeschlossen - ab und könnte eine bundesrechtswidrige Praxis innerhalb des betroffenen Kantons und anderer Kantone präjudizieren oder begünstigen;
  • Der kantonale Entscheid wirft Fragen auf, welche die Rechtsprechung des Bundesgerichts noch nicht eindeutig geklärt hat und die bei den kantonalen Behörden häufig Auslegungs­probleme verursachen (bzw. verursachen könnten, denn letztlich handelt es sich meist um eine Prognose);
  • Der kantonale Entscheid behandelt ein Problem, welches zu unterschiedlichen Praktiken in den Kantonen führt, und eine Harmonisierung wäre zu begrüssen;
  • Der kantonale Entscheid betrifft einen Punkt, der im Rahmen einer Revision geregelt wird, und es wäre nicht wünschenswert, dass sich vor dem Inkrafttreten der Revision eine gegenteilige Praxis etabliert;
  • Der kantonale Entscheid betrifft eine kantonale Praxis, die nach Inkrafttreten einer Revision deren Zweck zuwiderläuft;
  • Der kantonale Entscheid weicht erheblich von etablierten behördlichen Empfehlungen und Richtlinien ab (siehe Empfehlungen der Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz [SVK-OHG][25] zur Anwendung des Opferhilfegesetzes wie auch den Leitfaden zur Bemessung der Genugtuung nach Opferhilfegesetz vom 3. Oktober 2019[26], den das BJ herausgeben hat).

Beim Entscheid über die Beschwerdeführung können überdies «weiche Faktoren» eine Rolle spielen. Dazu gehören etwa die Eignung des konkreten Einzelfalls, die prozessualen Erfolgschancen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen.

b) Beispiele aus der jüngeren Praxis

In den Jahren 2020 bis 2022 erhob das BJ namens des EJPD insgesamt dreimal Behördenbeschwerde in Opferhilfeangelegenheiten beim Bundesgericht. Zweimal veranlasste die von den kantonalen Behörden zugesprochene Genugtuungssumme das EJPD zur Beschwerde, im dritten Fall war es die Art der Straftat:

  • Das Genfer Obergericht sprach einer Mutter eine opferhilferechtliche Genugtuung von CHF 40'000 zu, deren Lebenspartner 2012 die zwölfjährige Tochter in der gemeinsamen Wohnung vergewaltigt und stranguliert hatte (Fall 1).[27] Die vierzehnjährige Schwester des Todesopfers erhielt CHF 24'000 Genugtuung zugesprochen (Fall 2).[28] Während die Genugtuung für die Mutter bereits den gesetzlichen Maximalbetrag für Angehörige von CHF 35'000 (Art. 23 Abs. 2 lit. b OHG) offensichtlich sprengte, widersprach die Genugtuung für die Schwester sowohl der zivilrechtlichen Genugtuungspraxis[29] als auch dem BJ-Leitfaden.[30] Letzterer bindet zwar die Kantone nicht, sondern bietet Anhaltspunkte.[31] Die starke Abweichung um 140 Prozent von dessen empfohlenem Maximalbetrag erachtete das Bundesgericht jedoch als exzessiv.[32] Das Bundesgericht hiess die Beschwerden des EJPD gut, senkte die Genugtuung der Mutter auf CHF 35'000 und diejenige der Schwester auf CHF 12'000.[33]
  • Im dritten Fall führte das EJPD Beschwerde gegen einen weiteren Genfer Entscheid. Das Opfer eines Einbruchdiebstahls hatte eine opferhilferechtliche Genugtuung zugesprochen erhalten, obwohl Diebstahl keine Straftat ist, welche die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität unmittelbar beeinträchtigt - wie für die Anwendung des OHG erforderlich (Art. 1 Abs. 1 OHG).[34] Das Genfer Obergericht hatte dies zwar ebenfalls für rechtswidrig deklariert, die Genugtuung gestützt auf das kantonale Verbot der reformatio in peius aber nicht aufgehoben.[35] Das Bundesgericht sah in seinem Urteil 1C_384/2021 kein hinreichendes Beschwerdeinteresse des Bundes mehr (fehlendes aktuelles und praktisches Interesse). Es trat daher nicht auf die Beschwerde ein.[36]

Das BJ kann zudem in OHG-Beschwerdeverfahren Stellung nehmen, ohne die Beschwerde selbst initiiert zu haben. So lud das Bundesgericht das BJ z.B. im Jahr 2020 sechsmal, im Jahr 2021 viermal und 2022 zweimal zur Stellungnahme ein. Das BJ nimmt materiell Stellung, wenn sich das Verfahren um eine bedeutende Rechtsfrage im Opferhilferecht dreht und/oder sich z.B. aus den Akten ergibt, dass gewichtige Argumente fehlen.[37] Häufig kann es dagegen auf eine inhaltliche Rückmeldung verzichten,[38] namentlich wenn eine Stellungnahme keinen wesentlichen Mehrwert verspricht, da die einschlägigen Argumente zur bundesrechtskonformen Anwendung des Opferhilferechts bereits hinreichend aus dem vorinstanzlichen Verfahren oder den Akten hervorgehen.

c) Aktualität und potentielle Relevanz

Die Behördenbeschwerde setzt keine Beschwer voraus.[39] Sie gilt daher als «abstraktes» Beschwerderecht. Die Behörde bedarf aber einer sachlichen Veranlassung zur Beschwerdeergreifung - namentlich einer aktuell-konkreten Gefährdung der öffentlichen Interessen, die sie von Gesetzes wegen zu wahren hat.[40] So benötigt die Behördenbeschwerde nach Art. 89 Abs. 2 BGG gemäss Bundesgericht zu ihrer Legitimation eine gewisse Aktualität und potentielle Relevanz - vergleichbar mit dem aktuellen und praktischen Interesse, welches die individualrechtliche Beschwerde nach Art. 89 Abs. 1 BGG erfordert.[41] Bei der Individualbeschwerde liegt ein aktuelles und praktisches Interesse vor, wenn sich der gerügte Nachteil einerseits durch die erfolgreiche Beschwerdeführung beseitigen lässt und andererseits im Urteilszeitpunkt noch besteht.[42] Dagegen knüpft das Bundesgericht in BGE 135 II 338 bei der Behördenbeschwerde an das öffentliche Interesse an der Beurteilung der Rechtsfrage und die Aktualität an:

«Immerhin muss ein mit Blick auf die einheitliche Anwendung des Bundesrechts in vergleichbaren Fällen zureichendes Interesse an der Beurteilung der aufgeworfenen Probleme bestehen. Dies ist praxisgemäss (insbesondere) dann der Fall, wenn dem Gericht eine neue Rechtsfrage unterbreitet oder eine konkret drohende und nicht anders abwendbare bundesrechtswidrige Rechtsentwicklung verhindert werden soll (BGE 134 II 201 E. 1.1 mit Hinweisen). Die Behördenbeschwerde darf nicht der Behandlung einer vom konkreten Fall losgelösten abstrakten Frage des objektiven Rechts dienen. Sie hat sich vielmehr auf konkrete Probleme eines tatsächlich bestehenden Einzelfalls mit Auswirkungen über diesen hinaus zu beziehen; zudem muss sie für diesen von einer gewissen Aktualität und (wenigstens potentiellen) Relevanz sein (vgl. Urteil 2C_49/2009 vom 27. April 2009 E. 1)».[43]

Ähnlich lautet die Formulierung in seinem Urteil 2C_1038/2020 vom 15. März 2022 (BGE 148 II 369, unpublizierte Erwägung 1.5):

«Verlangt wird jedoch rechtsprechungsgemäss ein zureichendes Interesse an der Klärung der vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Frage. Letztere muss sich auf einen konkreten Fall beziehen, d.h. eine davon losgelöste, abstrakte Frage des objektiven Rechts genügt nicht (BGE 135 II 338 E. 1.2.1; Urteil 1C_283/2019 vom 24. Juli 2020 E. 2.3.1). Zudem muss die zu klärende Frage - sollte kein aktuelles praktisches Interesse vorliegen - zumindest noch von einer gewissen Aktualität sein, welche darin zum Ausdruck kommt, dass sie für weitere Fälle zumindest potentiell relevant ist (BGE 138 II 42 E. 1.3; Urteil 2C_1040/2018 vom 18. März 2021 E. 2.2.2). Es geht mit anderen Worten darum, aufgeworfene Fragen zu klären, welche sich unter gleichen oder ähnlichen Umständen jederzeit wieder stellen können, wobei eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre und die Beantwortung wegen deren grundsätzlicher Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt (BGE 139 I 206 E. 1.1 mit Hinweisen; Urteil 2C_1040/2018 vom 18. März 2021 E. 2.2.2 mit Hinweisen).»

Die Erwägungen verdeutlichen Folgendes: Erstens steht die Behördenbeschwerde nur für die Behandlung von konkreten Rechtsfragen in tatsächlich bestehenden Streitsachen zur Verfügung, nicht jedoch für abstrakte Rechtsfragen; zweitens muss die strittige Rechtsfrage bei der Behördenbeschwerde von einer gewissen Aktualität sein und für weitere Fälle mindestens eine potenzielle Relevanz haben. Letztere ergibt sich - gleich der Praxis bei fehlendem aktuellem und praktischem Interesse bei der Individualbeschwerde[44] -, wenn sich die Rechtsfrage unter gleichen oder ähnlichen Umständen jederzeit wieder stellen könnte, eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre und es sich um eine Grundsatzfrage handelt, deren Beantwortung im öffentlichen Interesse liegt.[45]

Im oben erwähnten dritten opferhilferechtliche Beispielfall (Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2021 vom 18. August 2022; Rz. 9) sah das Bundesgericht den hinreichenden Nachweis der Aktualität und der Relevanz für Behördenbeschwerden im Bereich des OHG als nicht gegeben - u.a., weil das kantonale Urteil die Bundesrechtswidrigkeit in Erwägungen und Dispositiv als solche deklariert hatte und insofern das erforderliche Interesse an der korrekten und einheitlichen Anwendung des Bundesrechts nicht mehr gegeben sei. So gab es laut Bundesgericht keinen Hinweis darauf, dass sich die kantonale Entschädigungsbehörde zukünftig nicht an der Auslegung des Bundesrechts des angefochtenen kantonalen Entscheids orientieren würde.[46] Ob diese Argumen­tation dem Aufsichtsmittel Behördenbeschwerde und dessen präventiver Wirkung vollumfänglich gerecht wird, lässt sich m.E. bezweifeln, schliesslich bleibt die bundesrechtswidrige Zahlung bestehen.

Immerhin schloss das Bundesgericht in seinem Urteil 1C_384/2021 die Behördenbeschwerde in Konstellationen wie im dritten Fall nicht generell aus, sondern forderte von der Bundesbehörde einen spezifischen Nachweis respektive eine Begründung (vgl. Art. 106 BGG), inwiefern deren Beschwerde das Interesse an der korrekten und einheitlichen Anwendung verfolgt, falls dies nicht offensichtlich ist. Sie müsste z.B. nachweisen, dass Indizien bestehen, wonach die kantonale Entschädigungsbehörde wohl weiterhin im Widerspruch zum Bundesrecht und zum angefochtenen Entscheid Kosten sprechen würde.[47] Hält sich eine kantonale Entschädigungsbehörde wiederholt nicht an die bundesrechtlichen Vorgaben, bleibt die Behördenbeschwerde weiterhin möglich. Das Urteil 1C_384/2021 könnte jedoch einzelne Entschädigungsbehörden in Versuchung führen, in Einzelfällen - insbesondere im Kontext stark mediatisierter Straffälle z.B. bei Sexual- und Tötungsdelikten mit Kindern - bundes­rechtswidrig hohe Beträge zu sprechen. Spricht die Entschädigungsstelle einen zu hohen Betrag zu, wäre eine nachträgliche Korrektur kaum mehr möglich, wenn das kantonale Prozessrecht das kantonale Gericht an die Parteianträge bindet (Verbot einer reformatio in peius)[48] und das Bundesgericht dem Bund die Behördenbeschwerde verwehrt. Für die Betroffenen zählt es wohl kaum, ob im Dispositiv ein entsprechender rechtlicher Hinweis steht, solange sie den höheren bundesrechtswidrigen Geldbetrag erhalten.

Das aktuelle und praktische Interesse knüpft von seiner Grundidee her an eine konkrete individuelle materielle Beschwer an, weshalb es mitunter als Teilaspekt des schutzwürdigen Interesses verstanden und zusammen mit der materiellen Beschwer geprüft wird.[49] Die materielle Beschwer entfällt jedoch bei der Behördenbeschwerde - Stichwort «abstrakte Natur der Behördenbeschwerde».[50] Massgebend für die Befugnis zur Behördenbeschwerde sollte aufgrund deren Funktion alleine sein, ob das Gericht mit ihrer Beurteilung der Beschwerde einer Gefährdung der korrekten und einheitlichen Anwendung des Bundesrechts entgegenwirken kann. Dies kann ein bundesgerichtliches Urteil unabhängig davon, ob im konkreten Einzelfall ein aktuelles und praktisches Rechtsschutzinteresse im Sinne der Individualbeschwerde vorliegt oder nicht.[51] Das Bundesgericht sollte daher nach hier vertretener Ansicht und abweichend zur herrschenden Lehre[52] erwägen, bei Behördenbeschwerden - nicht nur im Opferhilfebereich, sondern generell - nicht stark an das Erfordernis des aktuellen und praktischen Rechtsschutzinteresses der Individualbeschwerde anzuknüpfen respektive dieses begrifflich und dogmatisch abweichend zu erfassen. Ein entsprechendes Erfordernis sollte im Vergleich zur Individualbeschwerde grosszügiger zu bejahen sein. Ausreichend wäre, dass die Behörde eine «vernünftige Veranlassung»[53] zur Beschwerde hat. Eine gewisse Aktualität und potenzielle Relevanz können dazu gute Indizien bilden.

d) Zwischenfazit

Das EJPD und seit 1. Mai 2024 auch das BJ sind zur Behördenbeschwerde im Opferhilfebereich berechtigt, sofern und soweit der angefochtene Entscheid in Anwendung der Opferhilfegesetzgebung (Bundesrecht) und damit in dessen Aufgabenbereich erging. Bloss in seltenen Sonderfällen könnte die Beschwerdelegitimation noch verneint werden. Dies betrifft Entscheide, bei denen einer Beschwerde die Aktualität fehlt.[54] Das BJ entschied bis anhin - namens des EJPD - autonom über die Beschwerdeerhebung und verfasste die Beschwerde.

2. Beschwerde zugunsten des Opfers (pro Adressat) möglich

Gemäss Bundesgericht dürfen besondere Beschwerderechte zur Verwirklichung des objektiven Rechts nicht zur Durchsetzung privater Interessen benutzt werden.[55] Vereinzelte Stimmen in der Lehre folgern daraus, dass Behörden keine Beschwerden «pro Adressat» erheben dürfen.[56] In Anbetracht der Rechtsprechung und der übrigen Lehre ist diese Ansicht abzulehnen und für die Bundesbehörde nicht massgebend, wie die nachfolgenden Ausführungen aufzeigen.

a) Rechtsprechung zu Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG

Das Bundesgericht musste die Frage in Opferhilfeangelegenheiten unter dem revidierten OHG noch nicht behandeln. Ein Blick auf die Rechtsprechung in anderen Rechtsgebieten (namentlich im Sozialversicherungsrecht) zeigt jedoch, dass das Bundesgericht auf Behördenbeschwerden «pro Adressat» eintrat, ohne die Frage zu thematisieren, wie z.B. nachfolgende Urteile illustrieren:

  • So hiess das Bundesgericht in BGE 142 V 442 eine Beschwerde des Bundesamts für Sozialversicherungen gut, was sich zugunsten des Adressaten auswirkte (Erwägung zu Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG nur im nicht amtlich publizierten Urteil[57]).
  • Im Urteil 9C_612/2011 vom 28. Juni 2012 behandelte das Bundesgericht die Beschwerde des Bundesamts für Sozialversicherungen, welche sich bei Gutheissung zugunsten des Adressaten ausgewirkt hätte, ohne weiteres.

Das Bundesgericht hat zudem zur Behördenbeschwerde nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG mehrfach festgehalten, dass die Bundesbehörden nicht an die Einschränkungen des Streitgegenstands im kantonalen Beschwerdeverfahren gebunden seien, sondern mit ihrem Beschwerderecht auch neue Begehren beantragen dürfen, «insbesondere auch eine reformatio in peius».[58] Entsprechend müsste eine Beschwerde mit Anträgen, die sich bei Gutheissung zugunsten des Adressaten auswirken, ebenfalls zulässig sein (e contrario).

b) Lehre zu Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG

Herzog hält in ihrer VRPG[59]-Kommentierung unmissverständlich fest, dass auf Behördenbeschwerde hin eine Änderung einer Verfügung oder eines Entscheids zum Nachteil und zum Vorteil der Parteien möglich ist, wobei es sich nicht um einen Fall von reformatio in peius vel in melius handle.[60] Dagegen thematisieren die einschlägigen BGG-Kommentare die Frage kaum. Oft beschränken sie sich auf zwei Aussagen: Zum einen halten sie fest, die Beschwerdebefugnis nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG setze nicht voraus, dass zugleich einer der beteiligten privaten Parteien Beschwerde erhebt.[61] Zum andern vermerken sie mit Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, dass die Behörde nicht zwingend am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen haben muss, sie nicht an den dortigen Streitgegenstand gebunden ist, sondern auch zum Nachteil der Gegenpartei einen neuen Antrag stellen kann.[62] Entsprechend sei auf die oben erwähnten Schlussfolgerungen zur Rechtsprechung verwiesen. Die Kommentare lassen folglich eine Beschwerdeführung zu, die sich «pro Adressat» auswirken kann, bzw. schliessen eine solche jedenfalls nicht aus.

Eine Auseinandersetzung mit der Thematik findet sich bei Häner sowie vertieft bei Pflüger. Erstere wollte - noch unter der alten Bundesrechtspflege (2000) - Behördenbeschwerden «pro Adressat» nur in Fällen zulassen, wenn ein paralleles öffentliches Interesse betroffen ist. Bei Identität zwischen den öffentlichen Interessen und den privaten Interessen des Verfügungsadressaten sei die Ausübung des Beschwerderechts dem Verfügungs­adressaten zu überlassen.[63] Pflüger hält in seiner Dissertation (2013) «Die Legitimation des Gemeinwesens zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten» zum Beschwerderecht nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG überzeugend Folgendes fest:

Beschwerden «pro Adressat» müssen «zur Verwirklichung des objektiven Rechts zulässig sein. Denn die richtige und einheitliche Anwendung des Rechts kann durch zu stark belastende Verfügungen und Entscheide ebenso gefährdet sein wie durch zu stark begünstigende. Den Aufsichtsbehörden sollte daher zugestanden werden, die korrekte und einheitliche Anwendung des Bundesrechts - ähnlich einer Staatsanwältin oder einem Staatsanwalt [Art. 381 Abs. 1 StPO[64]] - ‹in beide Richtungen› erzwingen zu können. Das muss vor allem bei denjenigen Staatsaufgaben gelten, wo die öffentlichen Interessen gerade unmittelbar die Individuen schützen wollen, so dass praktisch Identität zwischen den öffentlichen und den privaten Interessen besteht, wie dies vor allem in der Leistungsverwaltung der Fall ist».[65]

Dass dem Adressaten bei einem Entscheid, der zu stark gegen seine Interessen ausfiel, selbst eine Beschwerde offensteht, darf gemäss Pflüger keine Rolle spielen: Es treffe zwar zu, dass im Verwaltungsverfahren jedes Subjekt die eigenen Interessen selbst wahren soll. Bei der Behördenbeschwerde nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG gehe es aber gerade nicht um den Betroffenenschutz, sondern allein um die optimale Verwirklichung des objektiven Rechts, losgelöst von irgendwie gearteten Betroffenheiten.[66] Wie erwähnt setzt die Beschwerdebefugnis nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG nicht voraus, dass zugleich eine der beteiligten privaten Parteien Beschwerde erhebt.[67] Es ist nämlich gut möglich, dass Betroffene trotz der Mangelhaftigkeit des Entscheids keine Beschwerde erheben, etwa aus Angst vor dem Prozessrisiko oder vor einer zusätzlichen Verzögerung des Verfahrensabschlusses.[68] Der mangelbehaftete Entscheid würde rechtskräftig und könnte sich allenfalls über Jahre auf die erstinstanzliche Praxis auswirken. Die Beschwerdemöglichkeit Privater vermag m.E. die optimale Verwirklichung des objektiven Rechts folglich nicht ausreichend zu gewährleisten; dies entspricht auch nicht ihrem Zweck - will der betroffene Private mit seiner Beschwerde doch primär einen individuellen Nachteil abwenden. Die Behördenbeschwerde bleibt insofern notwendig, obwohl Private ebenfalls die Möglichkeit zur Beschwerde haben.

Verneinte man dagegen eine Behördenbeschwerde «pro Adressat», so müsste der Staat konsequenterweise auch von Behördenbeschwerden «contra Adressat» absehen, wenn Drittbetroffene (also Personen mit dem Adressaten entgegengesetzten Interessen) involviert sind. Die Verwirklichung des objektiven Rechts wäre - der Logik der Argumentation folgend - ja auch hier dann bereits durch diese Dritten sichergestellt.[69] So einfach darf es sich der Bund bei seiner Aufsichts- und Vollzugsfunktion nicht machen: Wer den Aufgabenträger (i.c. das EJPD mit seinen Aufsichts- und Vollzugsaufgaben) nämlich von der Beschwerde ausschliesst, da bereits der Adressat (i.c. das Opfer) gegen das Anfechtungsobjekt beschwerdeberechtigt ist, verlangt im Ergebnis, dass der Adressat auch die Aufsichts- und Vollzugsaufgaben wahrnimmt. Abgesehen davon, dass der Adressat nicht dazu verpflichtet ist, widerspräche ein solches Konstrukt auch dem Verbot, ohne gesetzliche Ermächtigung in Prozessstandschaft für den Staat[70] Beschwerde zu führen.[71] Zudem besteht in der Praxis das Problem, dass für die Bundesbehörde die gleiche Beschwerdefrist wie für die Privaten gilt. Die Behörde kann aber nicht abwarten, ob die Privaten eine Beschwerde machen oder nicht, da sie sonst die Frist verpassen würde, um selbst zu rekurrieren.

Dagegen vertritt Trüeb in seiner umweltschutzrechtlichen Dissertation aus dem Jahre 1990 die Ansicht, die Zulassung einer Behördenbeschwerde zugunsten des Adressaten bedeute «die uneingeschränkte Anerkennung des Instituts eines öffentlichen Streithelfers».[72] Dies stünde dem eigentlichen Motiv der Behördenbeschwerde entgegen, nämlich dem richtigen Vollzug des objektiven Rechts. Deswegen dürfe die spezialgesetzlich beschwerdeberechtigte Behörde nicht für die Erlangung einer Bewilligung oder die Abwendung einer Sanierung zugunsten des Adressaten eintreten.[73] Diese Auffassung überzeugt m.E. lediglich dann, wenn die Behörde ihr gesetzliches Beschwerderecht dazu (miss-)brauchen würde, private Interessen durchzusetzen. Massgebend für die Erhebung der Behördenbeschwerde ist jedoch allein die optimale Verwirklichung des objektiven Rechts; m.a.W. die Sicherstellung der richtigen und einheitlichen Anwendung des Bundesverwaltungsrechts.[74] Dass sich die Beschwerdegutheissung dabei je nach Fall zugunsten oder zuungunsten des Adressaten auswirken kann, ist als Folge zu akzeptieren, aber für die Behörde weder ein Hindernis noch ausschlaggebend. Zur Gefahr der Zweckentfremdung der Behördenbeschwerde halten Kölz, Häner und Bertschi in ihrem Werk kurz und bündig fest: «Das Departement bzw. das betreffende Bundesamt muss jedoch sachlich zuständig sein, und die richtige Durchsetzung von Bundesrecht muss gefährdet erscheinen. Mit dieser Minimal­voraussetzung wird vermieden, dass mit der Behördenbeschwerde private Interessen verfolgt werden».[75] Weitere allgemeine Einschränkungen wie ein Verbot von Beschwerden, deren Gutheissung sich zugunsten des Adressaten auswirken können, sind demnach m.E. zu Recht nicht vorgesehen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Bund auch zu Behördenbeschwerden berechtigt ist, die sich «pro Adressat» auswirken können. Es darf dabei nicht darum gehen, Privatinteressen durchzusetzen oder Einzelperson zu helfen.[76] Solange die Behörde - vorliegend das BJ namens des EJPD und ab 1. Mai 2024 in eigenem Namen - aber glaubhaft darlegen kann, dass sie die gleichmässige Anwendung des Bundesrechts gefährdet sieht bzw. diese sicherstellen will, liegt keine Zweckentfremdung (Durchsetzung privater Interessen) des besonderen Beschwerderechts vor.[77]

c) Schlussfolgerungen für den Opferhilfebereich

Es gibt m.E. keine stichhaltigen Gründe, weshalb die oben dargelegten allgemeinen Überlegungen zur Behördenbeschwerde nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG im Anwendungsbereich der Opferhilfe nicht gelten sollten. So hält auch Berset Hemmer in einem der wenigen Fachartikel zur Opferhilfebeschwerde des BJ fest «L'OFJ est conscient que son droit de recours s'exerce souvent au détriment de la victime»[78] und verdeutlicht damit («e contrario»), dass auch Beschwerden zum Vorteil des Opfers möglich sind. Sie äussert sich aber nicht weiter zur Beschwerde «pro Adressat», sondern zum Miteinbezug der Opfersituation bei Beschwerdeehebung, deren Gutheissung sich zuungunsten des Opfers auswirken.[79]

In Opferhilfebelangen gibt es oft nur wenige bundesgerichtliche Urteile pro Jahr. Das EJPD bzw. BJ muss fehlerhafte kantonale Entscheiden zugunsten des Opfers anfechten können. Verzichten betroffene Opfer trotz der Mangelhaftigkeit des Entscheids auf eine Beschwerde, etwa aus Angst vor dem Prozessrisiko oder um persönlich mit dem Fall und der damit verbundenen Belastung abzuschliessen, so könnte sich der mangelbehaftete Entscheid allenfalls über Jahre auf die erstinstanzliche Praxis im betroffenen Kanton oder darüber hinaus auswirken. Die Sicherstellung der richtigen und einheitlichen Anwendung des Opferhilferechts erfordert daher, dass das EJPD bzw. BJ sowohl in Konstellationen zugunsten wie auch zulasten des Opfers Beschwerde führen kann. Rechtsprechung und vorherrschende Lehre zur Behörden­beschwerde stützen diese Position.

3. Auf Bundes- wie auf Kantonsebene (integrales Beschwerderecht)

Das BJ - früher namens des EJPD und seit 1. Mai 2024 in eigenem Namen - ist nicht nur berechtigt, Beschwerde betreffend OHG in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht zu erheben, sondern kann gemäss Lehre und Rechtsprechung auch kantonale Rechtsmittel ergreifen und sich vor jeder kantonalen Instanz am Verfahren beteiligen (integrales Beschwerderecht; vgl. Art. 111 Abs. 2 BGG).[80] Massgebend für die kantonalen Rechtsmittel sind die entsprechenden Prozessvoraussetzungen gemäss der jeweiligen kantonalen Gesetzgebung zur Verwaltungsrechtspflege, wobei die Bundesvorgaben gemäss Bundesgerichtsgesetz gewisse Minimalstandards setzen und die Legitimation zur Behördenbeschwerde gewährleisten.

Das BJ ist zwar zur Beschwerde im vorinstanzlichen Verfahren berechtigt, jedoch nicht dazu verpflichtet. Nahm es allerdings an einem vorinstanzlichen Verfahren im Kanton teil und drang es mit seinen Anträgen vollumfänglich durch, so ist die Beschwerdebefugnis im nachgelagerten Rechtsmittelverfahren an das Bundesgericht mangels formeller Beschwer (Erfordernis des Unterliegens) zu verneinen.[81]

4. Informationspflicht der Kantone und Beschwerdefrist

Um ihr integrales Beschwerderecht innert Beschwerdefrist nutzen zu können, muss die zuständige Bundesbehörde - wie vorliegend das EJPD handelnd durch das BJ - die strittigen Rechtsanwendungen mitbekommen.[82] Gestützt auf Art. 112 Abs. 4 BGG hat der Bundesrat die Verordnung über die Eröffnung letztinstanzlicher kantonaler Entscheide in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten[83] an die beschwerdeberechtigten Bundesbehörden erlassen. Gemäss dieser Verordnung müssen kantonale Behörden den beschwerdeberechtigten Bundesbehörden letztinstanzliche Entscheide umgehend und unentgeltlich eröffnen (Art. 1). Die Informationspflicht ist für die Ausübung des Beschwerderechts unabdingbar. Das BJ rief dies den kantonal letztinstanzlichen Gerichten im Opferhilfebereich 2014 sowie zuletzt 2022 mittels Schreiben in Erinnerung.[84]

Die Informationspflicht beschränkt sich allerdings auf letztinstanzliche kantonale Entscheide, was das integrale Beschwerderecht zwar schwächt. Im Hinblick auf die Verwaltungsökonomie erscheint dies aber verständlich.[85] Das BJ kann immerhin - wenn aufsichtsrechtlich sinnvoll - spezifisch bei einer oder mehreren kantonalen Behörden beantragen, ihm eine bestimmte Kategorie erstinstanzlicher Entscheide bekanntzugeben respektive zu eröffnen.[86] Die Verfügungen der kantonalen Entschädigungsbehörden sind insofern nicht von Verordnungs wegen, sondern aufgrund einer generellen Weisung oder eines im Einzelfall gestellten Begehrens mitteilungspflichtig.

Die Informationspflicht wirkt zudem verfahrensrechtlich: Unterlassen es kantonale Behörden, dem BJ einen mitteilungspflichtigen Rechtsakt zu eröffnen, beginnt die Rechtsmittelfrist für die Behördenbeschwerde erst ab Kenntnis des Rechtsakts zu laufen.[87] Der aus Sicht der Parteien vermeintlich rechtskräftige Entscheid ist folglich weiterhin mittels Behördenbeschwerde anfechtbar, was der Rechtssicherheit entgegenläuft. Erhält die Behörde erst etliche Monate nach Erlass des mitteilungspflichtigen Rechtsakts Kenntnis von diesem, so kann sie eine aufsichtsrechtliche Verfahrenswiedereröffnung verlangen.[88] Kantonale Behörden - in erster Linie die letztinstanzlichen Gerichte - müssen ihre Informationspflicht daher wahrnehmen. Die Beschwerdefrist bestimmt sich für das kantonale Beschwerdeverfahren nach dem im jeweiligen Kanton anzuwendenden Verfahrensrecht und beträgt meist 30 Tage gleich der 30-tägigen Beschwerdefrist vor Bundesgericht (Art. 100 Abs. 1 BGG).

5. Weder Streitwertgrenze noch Bindung an den Streitgegenstand des kantonalen Verfahrens

Bei der Opferhilfe geht es nicht um Staatshaftung, weshalb die Streitwertgrenze nach Art. 85 Abs. 1 lit. a BGG im Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht keine Anwendung findet.[89] Das EJPD bzw. BJ ist zudem nicht an den Streitgegenstand des kantonalen Rechtsmittelverfahrens gebunden und kann neue Begehren stellen, eingeschlossen solche, welche die Position des vorinstanzlich beschwerdeführenden Opfers verschlechtern.[90] Die anwaltschaftliche Vertretung von Opfern sollte ihre Klientschaft entsprechend aufklären. So kann das EJPD bzw. BJ im kantonalen Verfahren oder vor Bundesgericht gegen Entschädigungen im Sinne von Art. 19 ff. OHG intervenieren, bei denen die kantonale Beschwerde­instanz aufgrund ihrer kantonalrechtlichen Bindung an die Parteibegehren (Verbot einer reformatio in peius)[91] keinen Handlungsspielraum mehr dazu hat oder hatte.[92]

6. Keine Verfahrenskosten und der Parteientschädigungsanspruch

Gemäss Art. 30 OHG erheben Verwaltungs- und Gerichtsbehörden vom Opfer und seinen Angehörigen keine Kosten für ihre Verfahren betreffend die Gewährung von Beratung, Soforthilfe, längerfristiger Hilfe, Entschädigung und Genugtuung (Abs. 1).[93] Vorbehalten bleibt eine Kostenauflage bei mutwilliger Prozessführung (Abs. 2). Die Unentgeltlichkeit gilt für sämtliche Verfahrensstufen und insofern auch im bundesgerichtlichen Rechtsmittelverfahren, welches das EJPD respektive das BJ durch eine Behördenbeschwerde ausgelöst hat.[94] Das EJPD respektive das BJ verzichtet daher bei OHG-Beschwerden im Rechtsbegehren grundsätzlich auf den sonst üblichen Zusatz «Unter Kosten- und Entschädigungsfolge zulasten des Beschwerdegegners». Aber auch dem EJPD respektive BJ dürfen kantonale und eidgenössische Gerichte im OHG-Behördenbeschwerdeverfahren grundsätzliche keine Gerichtskosten auferlegen. Dies ergibt sich aus Art. 66 Abs. 4 BGG sowie der zugehörigen Rechtsprechung.[95]

Im opferhilferechtlichen Behördenbeschwerdeverfahren können bloss die obsiegenden Privatpersonen eine Parteientschädigung für ihre Rechtsvertretung geltend machen.[96] Dem Bund können die Gerichte gemäss den einschlägigen Verfahrensordnungen dagegen in der Regel keine Parteientschädigung zusprechen.[97]

IV. Zusammenfassung

Der Bund überwacht, ob die Kantone das Bundesrecht einhalten (Art. 49 Abs. 2 BV). Die Behördenbeschwerde ist dabei eines der zentralen Mittel dieser Bundesaufsicht. Im Bereich des Opferhilferechts obliegt die Beschwerdeführung dem Bundesamt für Justiz. Bis anhin führte es diese Beschwerden im Namen des EJPD. Seit dem 1. Mai 2024 kann es dies gestützt auf die revidierte OV-EJPD in eigenem Namen tun. Es sichtet die zugestellten letztinstanzlichen kantonalen Entscheide betreffend Opferhilfe, überprüft sie hinsichtlich der richtigen und einheitlichen Anwendung des OHG und erhebt soweit notwendig Behördenbeschwerde. In den Jahren 2020 bis 2022 war dies dreimal der Fall; häufiger kann das BJ dagegen Stellung nehmen bei Verfahren vor Bundesgericht, ohne selbst Beschwerde zu führen. Das BJ entscheidet autonom über Stellungnahme und Beschwerdeführung. Es ist nicht an den Streitgegenstand des kantonalen Rechtsmittelverfahrens gebunden und kann neue Begehren stellen, eingeschlossen solche, welche die Position des vorinstanzlich beschwerdeführenden Opfers verschlechtern. Es geht nicht darum, für oder gegen das jeweilige Opfer Partei zu ergreifen oder anstelle der Beratungsstellen zu prozessieren. Massgebend für das BJ ist bei der Beschwerde­führung alleine die Sicherstellung der richtigen und einheitlichen Anwendung der Opferhilfegesetzgebung. Entsprechend kann das BJ Behördenbeschwerde sowohl in Konstellationen zugunsten wie auch zulasten des Opfers führen. Lehre und Rechtsprechung zur Behördenbeschwerde in andern Rechtsgebieten stützen diese Sicht. Verwaltungs- und Gerichtsbehörden erheben im opferhilfe­rechtlichen Beschwerdeverfahren vom Opfer keine Kosten (Art. 30 OHG). Eine Auflage von Gerichtskosten gegenüber dem Bund im OHG-Behördenbeschwerdeverfahren schliesst die Rechtsprechung ebenfalls aus.



[1] Bundesgesetz über die Hilfe an Opfern von Straftaten vom 23. März 2007 (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5).

[2] Siehe z.B. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 100.2020.92U vom 8. April 2021 und dazu die Ausführungen zur Informationspflicht hinten in Rz. 31 ff.

[3] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Bundesverfassung, BV; SR 101).

[4] Siehe Yannick Fuchs / Markus Müller, Behördenbeschwerde als Mittel der Bundesaufsicht, ZBl 2023, S. 461 f.

[5] Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110).

[6] Vgl. Art. 89 und Art. 111 BGG sowie hinten Rz. 29 f.

[7] Hansjörg Seiler, in: Seiler/von Werdt/Güngerich/Oberholzer (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz (BGG), Stämpflis Handkommentar (SHK), 2. Aufl., Bern 2015, Art. 89 N 69 ff. (zit. SHK BGG-Seiler); René Rhinow / Heinrich Koller / Christina Kiss / Daniela Thurnherr / Denise Brühl-Moser, Öffentliches Prozessrecht, 4. Aufl., Basel 2021, N 1105 ff.; ausführlich zur Beschwerdelegitimation des Gemeinwesens Michael Pflüger, Die Legitimation des Gemeinwesens zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, Zürich et al. 2013.

[8] Siehe SHK BGG-Seiler, Art. 89 N 79.

[9] Siehe Art. 89 Abs. 2 BGG; Regina Kiener / Bernhard Rütsche / Mathias Kuhn, Öffentliches Verfahrensrecht, 3. Aufl., Zürich et al. 2021, N 1471.

[10] BGE 140 V 321 E. 2.2; BGE 142 II 324 E. 1.3.1 «Die Rechtsnorm muss aber die Beschwerdebefugnis ausdrücklich vorsehen; die blosse Tatsache, dass eine Behörde oder Dienststelle in einem bestimmten Aufgabenbereich zuständig ist oder Aufsichtsbefugnisse wahrnimmt, ermächtigt sie noch nicht zur Beschwerde.» (SHK BGG-Seiler, Art. 89 N 79).

[11] Pflüger (Fn. 7), N 752.

[12] Heinz Aemisseger, in: Spühler/Aemisegger/Dolge/Vock (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz, Praxiskommentar, 2. Aufl., Zürich et al. 2013, Art. 89 N 35 (zit. PraxKomm. BGG-Aemisseger).

[13] BGE 142 II 324 E. 1.3.1; vgl. PraxKomm. BGG-Aemisseger, Art. 89 N 35.

[14] Vgl. BGE 141 I 253 E. 3.2; BGE 140 II 539 E. 3 sowie René Wiederkehr / Kaspar Plüss, Praxis des öffentlichen Verfahrensrechts, Bern 2020, N 2095.

[15] Art. 7 Abs. 1 lit. c OV-EJPD (Organisationsverordnung für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement vom 17. November 1999 [OV-EJPD; SR 172.213.1]); siehe - wenn auch altrechtlich - BGE 131 II 121 E. 1 sowie neurechtlich das Urteil des Bundesgerichts 1C_48/2011 vom 15. Juni 2011 E. 1.

[16] Valérie Berset Hemmer, Subventionner et recourir: deux aspects de l'intervention de l'Office fédéral de la justice, in: Ehrenzeller/Guy-Ecabert/Kuhn (Hrsg.), Das revidierte Opferhilfegesetz, Zürich et al. 2009, S. 198 f.

[17] Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010).

[18] Der neue Art. 7c - Sachtitel «Aufgaben in Beschwerde- und Vorabentscheidungsverfahren» - sieht in Abs. 2 vor, dass das BJ zu Beschwerde in Zivilsachen (Art. 76 Abs. 2 BGG), Strafsachen (Art. 81 Abs. 3 BGG) und öffentlich-rechtlichen Angelegenheit (Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG) berechtigt ist.

[19] Vgl. BGE 136 II 359 E. 1.2; Pflüger (Fn. 7), N 840 ff.

[20] Siehe allgemein zur materiellen Beschwer z.B. Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1430 ff. m.w.H.

[21] Siehe Pflüger (Fn. 7), N 763 mit Verweis auf Fritz Gygi.

[22] Berset Hemmer (Fn. 16), S. 202.

[23] Siehe BGE 135 II 338 E. 1.2; vgl. auch Wiederkehr/Plüss (Fn. 14), N 2073 und N 2097.

[24] Berset Hemmer (Fn. 16), S. 201 f.; siehe allgemein zur richtigen und einheitlichen Anwendung des Bundesverwaltungsrechts BGE 135 II 338 E. 1.2 sowie Alfred Kölz / Isabelle Häner / Martin Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl., Zürich et al. 2013, N 1494, wonach eine Behördenbeschwerde insbesondere erfolgt, wenn der Entscheid wegen der präjudiziellen Tragweite oder infolge der Bedeutung des Einzelfalls weitergezogen und durch das Bundesgericht eine andere Gesetzesinterpretation erreicht werden soll.

[25] Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren, Empfehlungen der Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK-OHG) zur Anwendung des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfern von Straftaten (OHG) vom 21. Januar 2010 inklusive Aktualisierungen.

[26] Bundesamt für Justiz (BJ), Leitfaden zur Bemessung der Genugtuung nach Opferhilfegesetz vom 3. Oktober 2019 (zit. Leitfaden BJ).

[27] Siehe Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Kantons Genf ATA/201/2021 vom 23. Februar 2021.

[28] Siehe Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Kantons Genf ATA/202/2021 vom 23. Februar 2021.

[29] Vgl. dazu z.B. Hardy Landolt, Genugtuungsrecht, 2. Aufl., Zürich 2020, S. 265.

[30] Siehe Leitfaden BJ (Fn. 26), S. 19.

[31] Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_184/2021 vom 23. September 2021 E. 3.3 und 5.2.

[32] Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_184/2021 vom 23. September 2021 E. 5.3.

[33] Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_184/2021 vom 23. September 2021.

[34] Siehe zu Art. 1 Abs. 1 OHG Dominik Zehntner,in: Gomm/Zehntner (Hrsg.), Opferhilferecht, Stämpflis Handkommentar (SHK), 4. Aufl., Bern 2020, Art. 1 N 4 ff. (zit. SHK OHG-Bearbeiter:in).

[35] Siehe Urteil der 1. Sektion des Oberverwaltungsgerichts des Kantons Genf ATA/523/2021 vom 18. Mai 2021.

[36] Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2021 vom 18. August 2022; dazu sogleich Rz. 14 ff.

[37] Vgl. z.B. Urteil des Bundesgerichts 1C_115/2020 vom 9. November 2020.

[38] Vgl. z.B. Urteil des Bundesgerichts 1C_439/2020 vom 9. September 2021.

[39] Vgl. Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1476 ff.

[40] Mathias Kaufmann / Andreas Stöckli, Öffentliches Verfahrensrecht, Zürich et al. 2022, S. 150.

[41] Vgl. z.B. BGE 142 I 135 E. 1.3.1 oder BGE 139 I 206 E. 1.1; Bernhard Waldmann, in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger/Kneubühler (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz, Basler Kommentar, 3. Aufl., Basel 2018, Art. 89 N 52a (zit. BSK BGG-Waldmann); ausführlich dazu Pflüger (Fn. 7), N 793 ff.; gemäss Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1478 bedürfen Behörden eines aktuellen und praktischen Interesses an der Beschwerdeführung, es sei denn das Spezialgesetz bestimme etwas anderes.

[42] Siehe allgemein zum aktuellen und praktischen Interesse Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1446 ff.; BSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 17.

[43] BGE 135 II 338 E. 1.2.1 und Urteil des Bundesgerichts 2C_391/2022 vom 4. August 2023 E. 1.2.1; vgl. auch Pflüger(Fn. 7), N 793 ff.

[44] Vgl. Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1449 f.

[45] Vgl. kritischBSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 52a.

[46] Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2021 vom 18. August 2022 E. 3.3.4 f.

[47] Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2021 vom 18. August 2022 E. 3.3.4 f.

[48] Siehe zu reformatio in peius unten Rz. 34 sowie allgemein Kaufmann / Stöckli (Fn. 40), S. 174 f.

[49] Siehe den Teilaspekt prüfend z.B. BSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 10; dazu Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1447.

[50] Siehe exemplarisch BGE 136 II 359 E. 1.2.

[51] So ähnlich bereits Lukas Schaub / Giannina Spescha / Karl-Marc Wyss, Bundesgericht, II. öffentlich-rechtliche Abteilung, 15. März 2022, 2C_1038/2020, ZBl 2022, S. 668.

[52] Siehe Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 1478; BSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 45 und N 53.

[53] Vgl. dazu BGE 114 V 239 E. 3b; Michael Pflüger, in: Herzog/Daum (Hrsg.), Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, 2. Aufl., Bern 2020, Art. 65 N 53 (zit. Komm. VRPG/BE-Bearbeiter:in).

[54] Ausführlich Pflüger (Fn. 7), N 842 i.V.m. N 788 ff.

[55] BGE 128 II 222 (Urteil des Bundesgerichts 1A.22/2002 vom 26. Juni 2002 E. 1.3).

[56] Siehe z.B. Hans Rudolf Trüeb, Rechtsschutz gegen Luftverunreinigungen und Lärm, Zürich 1990, S. 170 f.; vgl. Auflistung bei Pflüger (Fn. 7), Fn. 1722.

[57] Siehe Urteil des Bundesgerichts 8C_54/2016 vom 13. Juli 2016 E. 1.

[59] Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Mai 1989 des Kantons Bern (VRPG/BE; BSG 155.21).

[60] Komm. VRPG/BE-Herzog, Art. 73 N 12 sowie Art. 84 N 25.

[61] BSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 53; SHK BGG-Seiler, Art. 89 N 73; Yves Donzallaz, Loi sur le Tribunal fédéral, Bern 2008, N 3137; Florence Aubry Girardin, in: Corboz et al. (Hrsg.), Commentaire de la LTF, 2. Aufl., Bern 2014, Art. 89 N 45 (zit. Commentaire LTF-Aubry Girardin).

[62] Siehe mit Verweis auf BGE 136 II 359 SHK BGG-Seiler, Art. 89 N 74; BSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 53; Commentaire LTF-Girardin, Art. 89 N 45a; PraxKomm. BGG-Aemisseger, Art. 89 N 35; mit Bezug zum Steuerrecht Martin Kocher, Die bundesgerichtliche Kontrolle von Steuernormen, Bern 2018, N 782.

[63] So zur Behördenbeschwerde unter der altrechtlichen Regelung von Art. 103 lit. b aOG (Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 [aOG; SR 173.110]) Isabelle Häner, Die Beteiligten im Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Zürich 2000, N 971.

[64] Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0).

[65] Pflüger (Fn. 7), N 789 sowie generell zum Begriff «pro Adressat» N 177; ebenfalls bereits für eine Beschwerde «pro Adressaten» Fritz Gygi, Zur Beschwerdebefugnis des Gemeinwesens in der Bundesverwaltungsrechtspflege, ZSR 1979, S. 455, sowie Alfred Kölz, Die Vertretung des öffentlichen Interesses in der Verwaltungsrechtspflege, ZBl 1985, S. 56.

[66] Pflüger (Fn. 7), N 790 i.V.m. N 763.

[67] BSK BGG-Waldmann, Art. 89 N 53; SHK BGG-Seiler, Art. 89 N 73.

[68] Pflüger (Fn. 7), N 790 mit Verweis auf Biaggini.

[69] Pflüger (Fn. 7), N 675.

[70] Siehe zur Prozessstandschaft im öffentlichen Recht Kiener/Rütsche/Kuhn (Fn. 9), N 571.

[71] Pflüger (Fn. 7), N 791.

[72] Trüeb (Fn. 56), S. 170 f.; weniger strikt Häner (Fn. 63), N 971; vgl. auch Pierre Moor, La qualité pour agir des autorités et collectivités dans les recours de droit public et de droit administratif, in: Haldy/Rapp/Ferrari (Hrsg.), Etudes de procédure et d'arbitrage en l'honneur de Jean-François Poudret, Lausanne 1999, S. 98.

[73] Trüeb (Fn. 56), S. 170 f. Zu Missverständnissen könnte im vorliegenden Kontext die Kommentierung von Marantelli-Sonani und Huber führen. Sie halten fest, das Behördenbeschwerderecht setze «kein schutzwürdiges Interesse im Sinne einer «materiellen Beschwerde» voraus und erlaubt insb. nicht die Verfolgung lediglich privater Interessen (z.B. zugunsten belasteter Verfügungsadressaten).» (Vera Marantelli-Sonani / Said Huber, in: Waldmann/Krauskopf [Hrsg.], Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., Zürich et al. 2023, Art. 48 N 38 [Hervorhebung durch Autor]). Diese schliessen damit - mit Blick auf BGE 123 II 16 nämlich zu Recht - nicht die Behördenbeschwerden aus, die sich zugunsten belasteter Adressaten auswirken können. Sie schliessen vielmehr aus, dass Behörden eine Beschwerde nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG allein mit dem Zweck erheben, einem belasteten Adressaten zu helfen und damit lediglich private Interessen durchzusetzen. Der Begriff «Beschwerde zugunsten des Adressaten oder pro Adressat» ist insofern etwas unglücklich, als er prima vista den Eindruck erwecken kann, der Bund führe eine derartige Beschwerde alleine mit dem Ziel, dem Adressaten zu helfen, was rechtlich unzulässig wäre (Durchsetzung privater Interessen; siehe zum Begriff «pro Adressat» René Wiederkehr / Stefan Eggen­schweiler, Die allgemeine Beschwerdebefugnis Dritter, Bern 2018, N 274).

[74] Siehe SHK BGG-Seiler, Art. 89 N 70 ff.

[75] Kölz/Häner/Bertschi (Fn. 24), N 1494.

[76] So hält BGE 125 II 326 zur Legitimation der Eidg. Steuerverwaltung fest, «die Behördenbeschwerde kann nicht dazu dienen, private Interessen durchzusetzen oder zu Gunsten des Steuerpflichtigen benutzt zu werden» (E. 2c) oder mit den Worten von Commentaire LTF-Girardin, Art. 89 N 45 «le droit de recours de l'autorité fédéral ne doit pas être utilisé pour favoriser des intérêts purement privés ou dans le seul but de venir en aide à un particulier».

[77] Pflüger (Fn. 7), N 790.

[78] Berset Hemmer (Fn. 16), S. 202.

[79] Berset Hemmer (Fn. 16), S. 202.

[80] Siehe Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. Februar 2001 (BBl 2001 4202), S. 4350; BGE 148 II 369 E. 3.3.1 f.; Pflüger (Fn. 7), N 845 ff.; ferner Häner (Fn. 63), N 978 ff.

[81] Pflüger (Fn. 7), N 849 mit Verweis auf Urteil des Bundesgerichts 2C_42/2008 vom 14. Mai 2008.

[82] Vgl. dazu Fuchs/Müller (Fn. 4), S. 460 f.

[83] Verordnung über die Eröffnung letztinstanzlicher kantonaler Entscheide in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 8. November 2006 (SR 173.110.47).

[84] Schreiben des Bundesamts für Justiz an die letztinstanzlichen kantonalen Gerichte, Pflicht zur Eröffnung der letztinstanzlichen kantonalen Entscheide nach OHG an das Bundesamt für Justiz vom 7. November 2014 sowie vom 3. März 2022 (Erinnerung).

[85] Kölz/Häner/Bertschi (Fn. 24), N 1496; anders Fuchs/Müller (Fn. 4), S. 468 f., die über eine Ausweitung der Verordnung (Eröffnungspflicht) auf erstinstanzliche Entscheide und Verfügung nachdenken.

[86] Vgl. Art. 111 Abs. 2 BGG; das BJ hat dies z.B. bei der Aufsichtstätigkeit zum Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte vom 23. Juni 2000 (Anwaltsgesetz, BGFA; SR 935.61) so praktiziert (siehe Schaub/Spescha/Wyss [Fn. 51], S. 662 f.).

[87] Aus mangelhafter (oder fehlender) Eröffnung darf den Parteien gemäss Art. 38 VwVG (Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 [Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG; SR 172.021]) kein Nachteil erwachsen (vgl. für die letzten kantonalen Instanzen Art. 1 Abs. 3 VwVG). Siehe dazu Fuchs/Müller (Fn. 4), S. 465 ff., insb. S. 471.

[88] Siehe zur aufsichtsrechtlichen Verfahrenswiedereröffnung Fuchs/Müller (Fn. 4), S. 472 ff.

[89] Urteile des Bundesgerichts 1C_582/2019 vom 9. April 2020 E. 1 sowie 1C_561/2017 vom 4. Mai 2018 E. 1.1 oder jüngst 1C_320/2019 vom 23. April 2020 E. 1.1; vgl. auch BGE 132 II 117 E. 2.2.4 sowie SHK OHG-Gomm, Art. 29 N 30.

[90] Vgl. allgemein für die Behördenbeschwerde BGE 148 II 369 E. 3.3.2, BGE 136 II 359 E. 1.2 sowie spezifisch im OHG-Bereich Urteil des Bundesgerichts 1C_184/2021 vom 23. September 2021 E. 2.3.

[92] Vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_184/2021 vom 23. September 2021 E. 4.1.2 (siehe oben Rz. 9).

[93] Siehe SHK OHG-Zehntner, Art. 30 N 1.

[94] Vgl. BGE 125 II 265 E. 3; SHK OHG-Zehntner, Art. 30 N 3 sowie Eva Weishaupt , Die Ansprüche des Opfers im Adhäsions- und Opferhilfeverfahren, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2008: Dualistisches Haftungskonzept, Erfolgshonorar und Prozessfinanzierung direktes Forderungsrecht, Opferhilfe sowie kantonales Verantwortlichkeitsrecht, Zürich 2008, S. 152 f.

[95] Siehe dazu BGE 148 II 369 sowie die Kommentierung in Schaub/Spescha/Wyss (Fn. 51), S. 1 ff.

[96] Siehe als Beispiel das Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2021 vom 18. August 2022 E. 4.

[97] Siehe z.B. für das bundesgerichtliche Verfahren Art. 68 BGG, wonach Parteientschädigungen nach dem Unterliegerprinzip auszurichten sind (Abs. 1 und Abs. 2), jedoch Bund, Kantone und Gemeinde sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen keinen Anspruch auf Parteientschädigung haben, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegen (Abs. 3) sowie für das Verfahren im Kanton Bern Art. 104 Abs. 3 VRPG/BE, der für die Schweizerische Eidgenossenschaft respektive die mit dem Beschwerderecht ausgestattete Bundesbehörde sinngemäss gilt (Komm. VRPG/BE-Herzog, Art. 104 N 32).

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