I. Einleitung
Besetzungen von Banken, temporäre Blockaden von Autobahnen oder Attacken auf Kunstwerke durch Klimaaktivist:innen: Ziviler Ungehorsam hat Hochkonjunktur.[1] Nicht immer scheint jedoch klar zu sein, ob es sich bei all diesen aufsehenerregenden Aktionen tatsächlich um zivilen Ungehorsam handelt. Statt von politisch motiviertem Rechtsbruch ist in den Medien und der Politik teilweise von Querulanten, «Klimachaoten» oder «Klimaterroristen»[2] die Rede.[3] Ein Blick in die Geschichte des zivilen Ungehorsams zeigt, dass der Kampf um die Etikettierung von politischem Aktivismus kein neues Phänomen ist. Während Martin Luther King Jr., prominentes Sprachrohr der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, heute als Lichtfigur des friedlichen Protests gilt, wurde er zu Lebzeiten von staatlicher Seite als «evil, abnormal beast» überwacht.[4] Wie die Öffentlichkeit und im Besonderen der Staat eine Protestbewegung terminologisch erfasst - als terroristische Gefahr oder gewaltlosen Protest -, ist nicht nur zeitgeistlich kontingent, sondern vor allem bedeutsam für die Wirkmächtigkeit der Aktion. Was als friedlicher Protest bezeichnet wird, gewinnt an legitimatorischer Kraft und erleichtert die Öffentlichkeitskommunikation, die Mobilisierung und letztlich die effektive politische Einflussnahme hinsichtlich einer gewünschten Änderung der politischen oder rechtlichen Massnahmen.[5] Der Begriff «ziviler Ungehorsam», von Aktivist:innen strategisch genutzt und von der Gegenseite bewusst verweigert, wird unvermeidbar von einem symbolischen Ringen um seine Auslegung begleitet.
Vor diesem Hintergrund erlangt das - auf den ersten Blick freilich wenig fesselnde - Vorhaben einer Begriffsklärung an Bedeutung. Was genau ist eigentlich ziviler Ungehorsam? Wie ist dieser Begriff entstanden? Und welche Merkmale müssen aktuelle Protestaktionen aufweisen, damit sie unter diese Kategorie zu subsumieren sind? Dieser Beitrag nimmt sich diesen Fragen an. Dabei gilt es allerdings zweierlei zu beachten:
Erstens stellt eine Begriffsklärung stets einen wirkmächtigen Akt dar. Wer eine Definition bereitstellt, legt zugleich die Weichen dafür, wie die zu definierende Handlung in der Folge betrachtet, diskutiert und beurteilt wird. Denn ob es sich um zivilen Ungehorsam, Vandalismus oder einen Terrorakt handelt, entscheidet darüber, welche Kriterien auf der Rechtfertigungsebene zur Anwendung gelangen. Eine tragfähige Definition muss sich daher an ihrer Verwertbarkeit für die Würdigung der Rechtfertigungsmöglichkeiten messen lassen.
Zweitens war und ist die Begriffsbestimmung seit jeher Gegenstand einer kontroversen wissenschaftlichen Debatte.[6] Dies gründet zum einen in der Konturlosigkeit der Protestform als solche, die eine Zuordnung zu einer spezifischen normativen Kategorie erschwert. Aktionen zivilen Ungehorsams zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich zwischen grundrechtlich geschützter politischer Teilnahme und strafrechtlich relevantem Angriff auf die politische Ordnung bewegen, mithin irgendwo zwischen «normaler Politik» und «revolutionärem Umsturz».[7] Damit sich ein solcher Protest in einer «informationsgesättigten Gesellschaft»[8] Gehör verschaffen kann, bedient er sich zudem immer wieder neuer kreativer und unorthodoxer Ausdrucksformen und präsentiert sich nicht als eine spezifische Taktik in einem spezifischen Kontext. Diese dem zivilen Ungehorsam charakteristische Wandlungsfähigkeit erschwert zwar das Vorhaben einer Begriffsbestimmung, offenbart zugleich jedoch sein transformatives Potential, auch zu neuen Themen Impulse für die politische Diskussion zu erzeugen.
Zum anderen gilt es bei der Begriffsbestimmung auch den Eigenheiten der historischen Situation, unter denen der Aktivismus sowie die wissenschaftliche Diskussion stattfanden und -finden, Rechnung zu tragen. Für die Bestimmung einer juristisch tragfähigen Definition von zivilem Ungehorsam bedeutet dies, dass die aktuelle Praxis (z.B. Klimaproteste, digitales Whistleblowing oder transnationaler Aktivismus) und die Besonderheiten der heutigen digitalisierten und globalisierten Gesellschaft miteinzubeziehen sind.[9]
II. Lexikalische Betrachtung
Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, warum gewisse politische Protestaktionen mit der Wortkombination «ziviler Ungehorsam» beschrieben werden, lohnt sich zunächst eine lexikalische Betrachtung.
Die Analyse des Begriffs «Ungehorsam» bereitet kaum Schwierigkeiten. Als Gegenstück zum Gehorsam bedeutet er die Nichtbefolgung eines Gesetzes oder die Weigerung, einer Anordnung einer Autorität zu entsprechen. Daraus folgt, dass Protestformen, die sich innerhalb der Rechtsordnung bewegen, mithin den Gesetzen folgen, nicht unter den Begriff «ziviler Ungehorsam» zu subsumieren sind. Soweit Ungehorsam im rechtlichen Kontext betrachtet wird, impliziert er stets Rechtsbruch und Illegalität.
Viel wichtiger, wenn auch ungleich schwieriger zu bestimmen, ist der Zusatz «zivil». «Zivil» geht etymologisch auf das lateinische civilis (den Bürger betreffend, bürgerlich, öffentlich, politisch) zurück. Der Duden nennt denn auch als Bedeutungen «anständig, annehmbar» sowie «bürgerlich, nicht militärisch». Der Zusatz «zivil» enthält somit Hinweise einerseits auf die Begehungsweise des Protests (öffentlich, tolerierbar) sowie andererseits auf die angestrebten Ziele und Interessen (diejenigen der Gesellschaft, der Bürger:innen). Der explizit «zivile» Ungehorsam verweist also auf den öffentlich-politischen Bereich eines Staates, in welchem die Menschen in ihrer Rolle als Bürger:innen[10] Angelegenheiten von Gemeinwohlinteresse verhandeln. Sie tun dies auf eine Art und Weise, die das Fundament der Gesellschaft nicht nachhaltig beschädigt und die zukünftige Möglichkeit politischen Zusammenlebens offenlässt.[11] Davon zeugt die Wahl von nichtmilitärischen, gewaltlosen und kommunikativen Mitteln.[12] Erst durch das Wort «zivil» entledigt sich der Ungehorsam seiner in der Umgangssprache üblichen egoistisch-obstruktiven Zuschreibungen und offenbart seinen besonderen politischen Charakter.
III. Historische Betrachtung
Im Gegensatz zur Praxis des zivilen Ungehorsams, die mindestens bis zu den alten Griechen zurückgeht,[13] ist die Begriffsgeschichte und die theoretische Auseinandersetzung relativ jung. Wenngleich den traditionellen Definitionen historisch gewandelte Erfahrungsinhalte zugrunde liegen, lassen sich der Entstehungsgeschichte des Begriffs «zivilen Ungehorsam» einige relevante Begriffselemente entnehmen. Diese sind im Rahmen der Begründung einer zeitgemässen Definition jedoch neu zu interpretieren.
1. Erste Erwähnung bei Thoreau und Fortführung durch Gandhi
Am Anfang der Begriffsgeschichte stehen die politischen Schriften Henry David Thoreaus, aus denen seine Urheberschaft für den Begriff Civil Disobedience abgeleitet wird.[14] Thoreaus Akte der Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Staat - beispielsweise in Form von Steuerboykott oder Amtsniederlegungen - waren durch gesellschaftliche Missstände wie die Sklaverei oder den Krieg gegen Mexiko motiviert. Sein Ungehorsam fusste somit nicht allein auf eigennützigen Beweggründen, sondern offenbarte die politische Dimension seines Protests.[15] Insofern enthielten die Gedanken von Thoreau bereits ein Grundelement des Begriffs «ziviler Ungehorsam»: die besondere moralische und zugleich politische Motivation.
Inspiriert von Thoreaus Schriften entwickelte Mahatma Gandhi eine eigene Theorie zur Begründung seines Befreiungskampfes gegen die Kolonialmacht des Vereinigten Königreichs: die Handlungslehre des Satyagraha. Satyagraha ist ein politisches Instrument, bei welchem das Streben nach der Wahrheit den Handelnden verbietet, den Gegner zu verletzen, und stattdessen gebietet, «durch freundliches Argumentieren an seine Vernunft oder durch das Selbstopfer an sein Herz»[16] zu appellieren. Mit seinem Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit (auf Sanskrit «ahimsa», wörtlich das «Nicht-verletzen») leistete Gandhi einen begriffsgeschichtlich bedeutsamen Beitrag.[17] Neben dem Gebot bzw. der Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit umfasst die Lehre des Satyagraha ein weiteres wichtiges Begriffselement: Die Folgenverantwortung. Die Bereitschaft, Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen, unterscheide den Satyagrahi (Anhänger der Lehre des Satyagraha) vom gewöhnlichen Gesetzesbrecher, der das Gesetz heimlich bricht und versucht, der Strafe zu entgehen.[18]
2. Amerikanische Diskussion während der Bürgerrechts- und Friedensbewegung
Die Lehre des Satyagraha spielte später auch eine bedeutende Rolle bei der unter anderem von Martin Luther King Jr. geführten Bürgerrechtsbewegung in den USA.[19] Für King Jr. war Gandhis Lehre für ein unterdrücktes Volk in seinem Kampf um die Freiheit die einzige moralisch und praktisch vertretbare Methode.[20] Der Zweck von gewaltloser direct action sei dabei stets, durch einen Appell an das Gewissen der Mitbürgerschaft eine schöpferische Spannung zu erzeugen, um die Tür zu Verhandlungen zu öffnen und Änderungen der Verhältnisse herbeizuführen.[21]
Die amerikanische Diskussion ab den 1960er-Jahren brachte diverse Definitionsvorschläge hervor.[22] Die bis heute meist zitierte Definition geht auf den Moralphilosophen John Rawls zurück. Unter dem Eindruck des politischen Aktivismus während der Bürgerrechts- und Friedensbewegung bestimmte Rawls in Anlehnung an Hugo Bedau[23] zivilen Ungehorsam als «eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzeswidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll».[24] Dieser symbolische Akt habe «innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue» (gemeint der allgemeinen Gesetzestreue) zu erfolgen, was sich unter anderem in der Akzeptanz der Strafe manifestiere.[25] In Rawls Definitionsvorschlag finden sich neu die Elemente Öffentlichkeit und Systemimmanenz. Ziviler Ungehorsam ist öffentlich, als er als Appell an die Öffentlichkeit (publicity-as-appeal) vor dem Forum der Öffentlichkeit (publicity-as-visibility) stattfindet.[26] Ziviler Ungehorsam vollzieht sich sodann «ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren».[27] Wer zivilen Ungehorsam leiste, anerkenne den Rechtsstaat, nicht aber jene Gesetze oder politischen Akte, dessen Unrechtsgehalt Anlass des Ungehorsams waren.[28]
3. Neuere Ansätze
Die veränderten Rahmenbedingungen der globalisierten und digital vernetzten Welt formten gleichsam die heutige Protestkultur sowie ihre Themen, die Adressaten und die Mittelwahl der Aktivist:innen. Zu nennen sind neue Formen zivilen Ungehorsams wie digital disobedience oder transnational disobedience, die sich globalen Themen mit einer Vielzahl von Akteuren und möglichen Betroffenen widmen. Angesichts der global zu lösenden Probleme und der Entnationalisierung und Privatisierung der politischen Macht[29] richten die Aktivist:innen ihr Anliegen sowohl an staatliche Institutionen wie auch internationale Organisationen und multinationale privatwirtschaftliche Konzerne. Als Beispiele sind etwa der Protest gegen die Welthandelsorganisation (WTO) durch Global Justice Movements, der Protest gegen internationale Finanzakteure durch die Occupy Wall Street Bewegung oder der aktuelle Klimaprotest gegen die Banken und ihre Investitionspolitik zu nennen. Zugleich erschaffen die technologischen Möglichkeiten digitaler Zusammenkunft neue digitale Foren der Öffentlichkeit, wodurch ziviler Ungehorsam in Form von digitalen Handlungen (z.B. digitales Whistleblowing) ebenfalls eine Neubetrachtung des Begriffselements öffentliche Begehungsweise einfordert.
Um diese neue Protestpraxis theoretisch besser erfassen zu können und zugleich als Kritik am liberal-konstitutionellen Model von Rawls, entwickelten sich radikaldemokratische[30] und anarchistische[31] Deutungsparadigma. Diese verstehen die Begriffselemente im Allgemeinen weiter als in der liberal-konstitutionellen Deutungstradition, indem sie die positiven Aspekte politischer Konflikte mehr in den Fokus rücken.
IV. Begriffselemente
Im Folgenden wird zunächst erörtert, warum ein bestimmtes Begriffselement konstitutiv sein sollte, gefolgt von den Fragen, was unter dem Begriffselement zu verstehen ist, und welche Abgrenzungen mit dem definierten Begriffselement vollzogen werden können.
1. Gesetzeswidrigkeit
Im heutigen Verständnis impliziert ziviler Ungehorsam Rechtsbruch bzw. ein gesetzeswidriges Verhalten. Die Anerkennung der Gesetzeswidrigkeit als konstitutives Begriffselement von zivilem Ungehorsam ist in der wissenschaftlichen Diskussion unbestritten. Bei zivilem Ungehorsam handelt es sich um eine bewusste Verletzung von Rechtsnormen. Häufig handelt es sich bei den verletzten Rechtsnormen um strafrechtliche Normen (Nötigung, Hausfriedensbruch usw.) oder verwaltungsrechtliche Ordnungsvorschriften (z.B. Verstösse gegen kantonale Polizeigesetze). In subjektiver Hinsicht ist eine vorsätzliche Rechtsverletzung vorauszusetzen, wobei der Rechtsbruch selbst nicht die eigentliche Intention des zivilen Ungehorsams ist, sondern stets nur Mittel zur Durchsetzung eines politischen Anliegens.
Es genügt, wenn die Protesthandlung im Tatzeitpunkt eine Gesetzeswidrigkeit indiziert.[32] Nicht verlangt ist, dass die Gesetzeswidrigkeit bzw. die Strafbarkeit gerichtlich abschliessend festgestellt wurde.[33] Die Frage der Strafbarkeit kann Gegenstand eines langen Gerichtsverfahrens bilden, deren Beantwortung zu Beginn der Untersuchungshandlungen im Lichte systeminhärenter Rekursmöglichkeiten und fortlaufender Rechtsfortentwicklung noch offen ist. Überdies werden längst nicht alle Fälle von zivilem Ungehorsam überhaupt vor Gericht verhandelt, weil z.B. aus strategischen oder politischen Überlegungen auf eine Strafanzeige verzichtet wurde, um einen medienwirksamen Prozess zu vermeiden.[34] Die Verknüpfung der Begriffsebene mit der letztgültigen rechtlichen Beurteilung ist deshalb nicht praktikabel und abzulehnen. Bei aller Unschärfe des Begriffselements der Gesetzeswidrigkeit ist nicht aus den Augen zu verlieren, dass es im Rahmen der Begriffsklärung zunächst vorstehend um eine Abgrenzung zu legalen Protestaktionen geht. Ziel ist die Einordnung einer Protestaktion als zivilen Ungehorsam und nicht die Auseinandersetzung mit der rechtlichen Bewertung der als zivilen Ungehorsam erfassten Protestaktion.
Allgemein anerkannt ist schliesslich, dass der Rechtsbruch unmittelbar oder mittelbar erfolgen kann.[35] Beim unmittelbaren zivilen Ungehorsam sind Protestziel und Rechtsverletzung kongruent, d.h. der Protest richtet sich gegen jene Norm, gegen die auch verstossen wird. Als Beispiele unmittelbaren zivilen Ungehorsam sind der gegen die britischen Salzgesetze gerichtete Salzmarsch von Gandhi und seinen Anhängern, die Verletzung des Konkubinatverbots um des Lebens im Konkubinat willen oder der Sitzboykott von Rosa Louise Parks als Protest gegen die Rassentrennungsvorschriften in öffentlichen Bussen zu nennen. Weitaus häufiger ist heute der indirekte zivile Ungehorsam, bei dem nicht die Norm, gegen die protestiert wird, sondern eine beliebige Norm verletzt wird. Der Rechtsbruch ist hier blosses Mittel, um dem Protest einen besonderen Nachdruck zu verleihen. Die Aktivist:innen der Klimaprotestbewegung beispielsweise verletzen die Straftatbestände des Hausfriedensbruchs oder der Nötigung, ohne Absicht, damit auf eine Änderung dieser Strafrechtsnormen hinzuwirken.
2. Besondere politisch-moralische Motivation
Aus der Anerkennung der gesetzeswidrigen Begehungsweise folgt die Frage, inwiefern sich ziviler Ungehorsam von gewöhnlicher Kriminalität unterscheidet. Die Antwort weist auf das Erfordernis einer besonderen motivationalen Grundlage hin. Mit der Aufnahme besonderer Beweggründe in den Begriff des zivilen Ungehorsams sollen rein eigennützige Motivationen[36] (z.B. Gewinnstreben) sowie «abwegige Privat- und Gruppenmoralen»[37] (z.B. einer religiösen Sekte) ausgeschlossen werden.
Die motivationale Grundlage von zivilem Ungehorsam zeichnet sich durch ihre politisch-moralische Natur aus. Die Motivation ist insoweit als politisch zu bezeichnen, als die Akteure annehmen, dass ihr Anliegen Grundfragen des Zusammenlebens der Bürger:innen, der Gestaltung von Gemeinwesen und der allgemeinverbindlichen Regelungsmechanismen öffentlicher Konflikte berühren. Gegenstand politisch motivierten Ungehorsams sind demnach Gemeinschaftsangelegenheiten (res publica) in Abgrenzung zu reinen Individualinteressen.[38]
Während die Bezeichnung von Beweggründen als «politisch» auf den Gegenstand verweist, bringt die «moralische» Motivation zum Ausdruck, gestützt auf welche Überzeugungen die Angelegenheiten öffentlich zu regeln sind. Vor dem Hintergrund einer wertpluralistischen und heterogenen Gesellschaft stellt eine inhaltliche Konkretisierung der moralischen Beweggründe eine kaum zu bewältigende Hürde dar. Dessen ungeachtet werden in der Lehre substantielle Ansätze verfolgt und als moralisch vertretbare Gründe die Berufung auf bestehende Bürger- und Menschenrechte[39] und bereits konstitutionell abgesicherte Gerechtigkeitsgrundsätze[40] verstanden, die von der Mehrheit der Gesellschaft anerkannt sind.[41] Werden an die Motivation solche inhaltliche Anforderungen gestellt, befördert dies allerdings bereits auf der begrifflichen Ebene die Bewahrung des Status quo, mithin der bestehenden Verfassungsprinzipien und Gerechtigkeitsgrundsätze. Damit wird die Entfaltung des transformativen Potentials von zivilem Ungehorsam erschwert, der gerade das herrschende Gerechtigkeitsempfinden zu problematisieren wünscht. So waren etwa die Anliegen der Frauenstimmrechtsbewegungen zu ihrer Zeit weder konstitutionell implementiert, noch hätte eine Mehrheit der Gesellschaft eine Gleichstellung von Frau und Mann (u.a. die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für alle) befürwortet. Trotzdem handelte es sich dabei um bedeutsame moralische Anliegen, deren Diskussion mangels politischer Partizipationsmöglichkeiten erst durch zivilen Ungehorsam angestossen wurde und deren Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft sich über Jahre hinweg entwickeln musste.
Anstelle einer inhaltlichen Verengung auf bestimmte - namentlich «konstitutionell abgesicherte» und von der Mehrheit anerkannte - moralische Gründe ist deshalb zweierlei zu fordern: (1) In substantieller Hinsicht genügt eine Bezugnahme auf grundlegende Wert- und Moralvorstellungen,[42] (2) die in formeller Hinsicht intersubjektiv teilbar sind.[43] Grundlegende moralische Gründe bedingen insofern eine höhere Stufe der Abstraktion, als sie unter möglichen Normadressaten - unabhängig von Kräfteverhältnissen, Vorlieben oder Abneigungen - Anerkennung finden sollen.[44] Die Anerkennung solcher moralischen Gründe hängt dabei massgeblich von ihrer Vermittlung ab, weshalb zivil Ungehorsame ihre moralische Überzeugung substantiiert und konsistent darlegen und plausibilisieren sollten. Mit dem Zusatz «intersubjektiv teilbare» Moralvorstellungen wird auf dieses Erfordernis hingewiesen. Das formale Kriterium «intersubjektiv teilbar» bedeutet jedoch nicht, dass die moralischen Gründe in der politischen Kultur bereits «generell anerkannt sein oder eine vorherrschende Überzeugung widerspiegeln müssen».[45] Gemeint ist vielmehr, dass sich die moralische Überzeugung Dritten gegenüber nachvollziehbar vermitteln lässt, so dass die Motive wenn zwar noch nicht akzeptiert, doch zumindest verstanden werden können.[46] Anders als bei substantiellen Ansätzen bildet hier nicht der Inhalt, sondern die Darlegung der moralischen Motivation das massgebende Kriterium. Bestehende Menschenrechte und Verfassungsprinzipien werden damit ebenso erfasst, wie auch noch nicht verfassungsrechtlich implementierte Gerechtigkeitsvorstellungen, soweit sie abstrakt vermittelbar sind.
Zusammenfassend erfordert das Begriffselement «politisch-moralische Motivation», dass der Handlungswille zivil Ungehorsamer von der Motivation getragen ist, gestützt auf kommunikativ-intersubjektiv teilbare moralische Überzeugungen (= moralischer Teilgehalt) öffentliche Angelegenheiten des Gemeinwesens (= politischer Teilgehalt) zur Diskussion zu stellen.
3. Öffentlichkeit
Im Gegensatz zur motivationalen Grundlage, bei der die politische Motivation auf die Diskussion öffentlicher Themen verweist, bezieht sich das Element Öffentlichkeit auf die Form und den Adressatenkreis des Protests.
Im traditionellen liberal-konstitutionellen Verständnis nach Rawls meint Öffentlichkeit primär publicity-as-visibility,[47] also unmittelbare Sichtbarkeit der Aktivist:innen. Dies setzt (1) vorgängige Ankündigung über die geplante Aktion,[48] (2) offener und nicht-anonymer Vollzug der Aktion[49] und (3) Bereitschaft, für die Konsequenzen der Aktion einzustehen[50] (sog. Folgenverantwortung) voraus. Diese Teilaspekte von publicity-as-visibility erweisen sich jedoch als problematisch. So würde die Forderung, geplante Aktionen vorgängig anzukündigen, selbst etablierte Formen zivilen Ungehorsams wie Sit-ins, Blockaden und Hausbesetzungen unmöglich machen, weil die Ordnungsbehörden deren Durchführung zu verhindern wüssten.[51] Denkt man an andere Formen zivilen Ungehorsams, beispielsweise digitaler Ungehorsam, ist auch das Erfordernis einer unmittelbar öffentlichen Begehungsweise zu problematisieren. Digitales Whistleblowing basiert etwa gerade darauf, dass der initiale Akt der Vorbereitung und Durchführung unter Geheimhaltung erfolgt, bevor Informationen an die Öffentlichkeit gebracht werden.[52] In solchen Fällen muss es genügen, wenn die Öffentlichkeit erst nachträglich hergestellt wird.[53] Im Vordergrund steht nicht unmittelbare Sichtbarkeit der Handelnden bzw. deren Identifizierbarkeit im Sinne von publicity-as-visibility, sondern die Sichtbarkeit der politischen Kommunikationsabsicht der Handelnden im Sinne von publicity-as-appeal. Die Ungehorsamen offenbaren durch die öffentliche Begehungsweise ihren kommunikativen Anspruch, in ihrer Rolle als Bürger:innen in Anerkennung der anderen als Mitbürger:innen öffentliche Themen zur Diskussion zu stellen. Der Adressatenkreis dieser kommunikativen Absicht ist in horizontaler Hinsicht die Mitbürgerschaft, auf deren Zustimmung für das Anliegen eine gute Kommunikation abzielt, und in vertikaler Hinsicht die politische Autorität, die die gewünschten Veränderungen umsetzen soll.[54]
Das Begriffselement «Öffentlichkeit» fordert im vorliegenden Verständnis somit, dass die kommunikative Absicht erkennbar auf die politische Öffentlichkeit, bestehend aus politischer Autorität und Mitbürgerschaft, gerichtet ist. Irrelevant ist, ob die Akteure zeitweise anonym, mithin nicht sichtbar im Sinne von publicity-as-visibility agieren, und wann sich die kommunikative Absicht - bei der Vorbereitung, der Durchführung oder im Nachgang zur Aktion - entfaltet, solange sich die Handlung nicht vollständig im Verborgenen oder im blossen Privatbereich abspielt.
4. Reformorientierung
Dass ziviler Ungehorsam darauf ausgerichtet ist, eine Veränderung herbeizuführen, findet sich in den meisten Definitionsvorschlägen. Im Gegensatz zu einer Revolution versucht der zivile Ungehorsam diese Veränderung auf eine reformatorische Art und Weise zu vollziehen. Essenziel ist dabei das Bekenntnis zu einer nichtmilitärischen Begehungsweise. Im Weiteren zeichnet sich ziviler Ungehorsam durch ein bewusst gezieltes oder gestaffeltes Vorgehen aus. Gewöhnlich strebt ziviler Ungehorsam nur eine Veränderung eines bestimmten Umstandes an.[55] Es handelt sich also um «the refusal of particular legal commands, not of every legal command».[56] Ziviler Ungehorsam mag zwar in Einzelfällen vom Geist der Revolution getragen sein und in seiner Wirkung in gewissen Fällen Anteil an einer revolutionären Änderung nehmen, und doch bleibt er stets ein gezielter, partieller Ungehorsam, in welchem die Aktivist:innen ihre (staats-)bürgerlichen Verpflichtungen innerhalb einer Assoziation lediglich in begrenztem Ausmass aufkündigen.[57] Der Salzmarsch von Gandhi ist beispielsweise als ziviler Ungehorsam zu qualifizieren, weil er sich gegen eine bestimmte als ungerecht empfundene Regelung (die ans britische Salzmonopol geknüpfte Verpflichtung, eine Salzsteuer zu zahlen) richtete. Selbst wenn Gandhi daneben die britische Herrschaft als solche ablehnte und diesbezüglich durchaus revolutionäre Gedanken hegte, befürwortete er in der Frage der Salzsteuer nicht ein revolutionäres, sondern ein zivil ungehorsames Vorgehen. Dass das Einlenken der Kolonialverwaltung in diesem Anliegen im Nachhinein wohl die Begehung weiterer Aktionen beförderte, welche in ihrer Gesamtheit den Umsturz des kolonialen Systems herbeiführten, ändert nichts daran, dass der Salzmarsch zunächst mal nur auf die Beseitigung der Salzsteuer und des Salzmonopols abzielte.
Diesen Unterschieden zwischen zivilem Ungehorsam und Revolution soll durch die Aufnahme des Begriffsmerkmals der Reformorientierung Rechnung getragen werden. Reform als Antonym zu Revolution steht für eine planvollere Entwicklung ohne disruptiven Wandel.
Fraglich bleibt, an wen sich die Forderung nach Reform und Veränderung richtet. Als politisch relevante Autorität galt lange allein der Staat. Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung vollzog sich jedoch eine Macht- und Kompetenzverschiebung von Nationalstaaten hin zu internationalen Organisationen und multinationalen privatwirtschaftlichen Konzernen. Dadurch ist nicht mehr allein die Staatsbürgerschaft die Bedingung, die einen Menschen zum Betroffenen einer bestimmten Politik werden lässt. Stattdessen formieren sich Betroffene heute themenzentriert durch einen gemeinsamen politischen Kontext partikularer Anliegen[58] - wie beispielsweise durch den Kontext des Klimawandels (z.B. Fridays for Future), der Globalisierung (z.B. Occupy Wall Street) oder der Internet Governance (z.B. Anonymous). Diese neuen, transnationalen, sozialen Bewegungen richten ihr Veränderungsanliegen an politische Autoritäten staatlicherund auch nicht-staatlicher Natur.[59]
Mit Reformorientierung soll nach dem Gesagten insbesondere die transformative und schöpferische Kraft[60] zivilen Ungehorsams betont werden,die sich gezielt gegen bestimmte politische Massnahmen der bestehenden Machtstrukturen - staatlicher und nicht-staatlicher Natur - richtet, ohne in abrupter Weise das Fundament des Zusammenlebens zu erodieren.
5. Gewaltlosigkeit?
Bei der Frage, ob ziviler Ungehorsam stets gewaltfrei sein muss, handelt es sich um das weitaus umstrittenste Begriffselement. Historisch als Kernmerkmal des zivilen Ungehorsams bezeichnet, zeigt sich in der Diskussion von Praxisbeispielen ein Bedarf an inhaltlicher Konkretisierung, was genau unter Gewalt zu verstehen ist. Umfasst Gewalt nur Verletzungen der körperlichen Integrität von Personen? Wie verhält es sich mit Gewalt gegen Eigentum? Ist eine Sitzblockade vor einer Bankfiliale oder auf einer Autobahn als Gewalt gegen Bankmitarbeitende bzw. Autofahrende zu werten? Und ist eine friedliche Aktion, in deren Verlauf vereinzelt Sachbeschädigungen begangen werden, noch gewaltloser ziviler Ungehorsam?
Um zu begründen, warum eine gewaltlose Begehungsweise konstitutiv sein soll, wird häufig auf die paradigmatischen Fällen zivilen Ungehorsams wie Gandhi und King Jr. verwiesen. Allerdings scheint in einer geschichtlichen Glorifizierung dieser Lichtfiguren des zivilen Ungehorsams vergessen zu gehen, dass deren Erfolg zumindest teilweise auch von Provokationen, Drohungen und Gewalttätigkeiten (z.B. durch radikalere Gruppierungen wie die Black Panthers oder Black Muslims) begleitet und abhängig gewesen ist.[61] Selbst historisch bedeutsame Protagonisten wie King Jr., die in der heutigen theoretischen Reflexion vermeintlich als Vertreter eines durchwegs gewaltfreien Protests bezeichnet werden, haben die Grenzen rein symbolischer Aktionen und die Notwendigkeit von konfrontativen Elementen erkannt: