«Klimaterrorismus» oder ziviler Ungehorsam? Eine Begriffsklärung.

Adina Keller *

Die Klimabewegung ergreift in letzter Zeit immer öfter radikalere Mittel des Protests. Während die Klimaaktivist:innen ihren Protest als zivilen Ungehorsam verstehen, werden vereinzelt auch Vergleiche zu Ökoterrorismus und Klima-RAF gezogen. Selbst wenn solche Vergleiche als völlig überrissen zu bewerten sind, haben sie eine Debatte ausgelöst zur Frage: Was ist eigentlich ziviler Ungehorsam? Die traditionellen Definitionen haben sich dabei als zunehmend ungeeignet erwiesen, um die Eigenheiten zeitgenössischen Protests zu erfassen. Im vorliegenden Beitrag wird daher ausgehend von einer Analyse des Sprachgebrauchs der beiden Begriffe «zivil» und «Ungehorsam» zunächst die begriffshistorische Entwicklung rekonstruiert. Die daraus extrahierten Begriffselemente werden anschliessend in Würdigung der aktuellen Praxis und der gegenwärtigen Bedingungen für einen zeitgemässen Definitionsvorschlag fruchtbar gemacht.

Les défenseurs du climat ont de plus en plus recours à des moyens de protestation radicaux. Alors que les militants pro-climat qualifient ces actions de désobéissance civile, d'autres les comparent plutôt à de l'écoterrorisme. Si cette comparaison peut sembler exagérée, elle a le mérite d'ouvrir le débat sur la question suivante : qu'est-ce que la désobéissance civile ? Les définitions traditionnelles s'avèrent mal adaptées aux spécificités des protestations contemporaines. Cet article se base sur une analyse linguistique des termes «civile» et «désobéissance» et de leur usage, afin de reconstituer lvolution historique du concept. Les éléments conceptuels qui en résultent sont ensuite utilisés pour proposer une définition contemporaine qui tient compte des pratiques et des conditions actuelles.

Zitiervorschlag: Adina Keller, «Klimaterrorismus» oder ziviler Ungehorsam? Eine Begriffsklärung., sui generis 2024, S. 123

DOI: https://doi.org/10.21257/sg.258

* Adina Keller, MLaw, Rechtsanwältin, Mediatorin SAV, wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern, Lehrstuhl von Prof. Martino Mona und zurzeit Visiting Researcher am Charles and Louise Travers Department of Political Science, University of California Berkeley (adina.keller@unibe.ch). Die Autorin bedankt sich bei Prof. Martino Mona und MLaw/RA Christoph Ammon für ihr konstruktives Feedback zu diesem Beitrag.


I. Einleitung

Besetzungen von Banken, temporäre Blockaden von Autobahnen oder Attacken auf Kunstwerke durch Klimaaktivist:innen: Ziviler Ungehorsam hat Hochkonjunktur.[1] Nicht immer scheint jedoch klar zu sein, ob es sich bei all diesen aufsehenerregenden Aktionen tatsächlich um zivilen Ungehorsam handelt. Statt von politisch motiviertem Rechtsbruch ist in den Medien und der Politik teilweise von Querulanten, «Klimachaoten» oder «Klimaterroristen»[2] die Rede.[3] Ein Blick in die Geschichte des zivilen Ungehorsams zeigt, dass der Kampf um die Etikettierung von politischem Aktivismus kein neues Phänomen ist. Während Martin Luther King Jr., prominentes Sprachrohr der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, heute als Lichtfigur des friedlichen Protests gilt, wurde er zu Lebzeiten von staatlicher Seite als «evil, abnormal beast» überwacht.[4] Wie die Öffentlichkeit und im Besonderen der Staat eine Protestbewegung terminologisch erfasst - als terroristische Gefahr oder gewaltlosen Protest -, ist nicht nur zeitgeistlich kontingent, sondern vor allem bedeutsam für die Wirkmächtigkeit der Aktion. Was als friedlicher Protest bezeichnet wird, gewinnt an legitimatorischer Kraft und erleichtert die Öffentlichkeitskommunikation, die Mobilisierung und letztlich die effektive politische Einflussnahme hinsichtlich einer gewünschten Änderung der politischen oder rechtlichen Massnahmen.[5] Der Begriff «ziviler Ungehorsam», von Aktivist:innen strategisch genutzt und von der Gegenseite bewusst verweigert, wird unvermeidbar von einem symbolischen Ringen um seine Auslegung begleitet.

Vor diesem Hintergrund erlangt das - auf den ersten Blick freilich wenig fesselnde - Vorhaben einer Begriffsklärung an Bedeutung. Was genau ist eigentlich ziviler Ungehorsam? Wie ist dieser Begriff entstanden? Und welche Merkmale müssen aktuelle Protestaktionen aufweisen, damit sie unter diese Kategorie zu subsumieren sind? Dieser Beitrag nimmt sich diesen Fragen an. Dabei gilt es allerdings zweierlei zu beachten:

Erstens stellt eine Begriffsklärung stets einen wirkmächtigen Akt dar. Wer eine Definition bereitstellt, legt zugleich die Weichen dafür, wie die zu definierende Handlung in der Folge betrachtet, diskutiert und beurteilt wird. Denn ob es sich um zivilen Ungehorsam, Vandalismus oder einen Terrorakt handelt, entscheidet darüber, welche Kriterien auf der Rechtfertigungsebene zur Anwendung gelangen. Eine tragfähige Definition muss sich daher an ihrer Verwertbarkeit für die Würdigung der Rechtfertigungsmöglichkeiten messen lassen.

Zweitens war und ist die Begriffsbestimmung seit jeher Gegenstand einer kontroversen wissenschaftlichen Debatte.[6] Dies gründet zum einen in der Konturlosigkeit der Protestform als solche, die eine Zuordnung zu einer spezifischen normativen Kategorie erschwert. Aktionen zivilen Ungehorsams zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich zwischen grundrechtlich geschützter politischer Teilnahme und strafrechtlich relevantem Angriff auf die politische Ordnung bewegen, mithin irgendwo zwischen «normaler Politik» und «revolutionärem Umsturz».[7] Damit sich ein solcher Protest in einer «informationsgesättigten Gesellschaft»[8] Gehör verschaffen kann, bedient er sich zudem immer wieder neuer kreativer und unorthodoxer Ausdrucksformen und präsentiert sich nicht als eine spezifische Taktik in einem spezifischen Kontext. Diese dem zivilen Ungehorsam charakteristische Wandlungsfähigkeit erschwert zwar das Vorhaben einer Begriffsbestimmung, offenbart zugleich jedoch sein transformatives Potential, auch zu neuen Themen Impulse für die politische Diskussion zu erzeugen.

Zum anderen gilt es bei der Begriffsbestimmung auch den Eigenheiten der historischen Situation, unter denen der Aktivismus sowie die wissenschaftliche Diskussion stattfanden und -finden, Rechnung zu tragen. Für die Bestimmung einer juristisch tragfähigen Definition von zivilem Ungehorsam bedeutet dies, dass die aktuelle Praxis (z.B. Klimaproteste, digitales Whistleblowing oder transnationaler Aktivismus) und die Besonderheiten der heutigen digitalisierten und globalisierten Gesellschaft miteinzubeziehen sind.[9]

II. Lexikalische Betrachtung

Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, warum gewisse politische Protestaktionen mit der Wortkombination «ziviler Ungehorsam» beschrieben werden, lohnt sich zunächst eine lexikalische Betrachtung.

Die Analyse des Begriffs «Ungehorsam» bereitet kaum Schwierigkeiten. Als Gegenstück zum Gehorsam bedeutet er die Nichtbefolgung eines Gesetzes oder die Weigerung, einer Anordnung einer Autorität zu entsprechen. Daraus folgt, dass Protestformen, die sich innerhalb der Rechtsordnung bewegen, mithin den Gesetzen folgen, nicht unter den Begriff «ziviler Ungehorsam» zu subsumieren sind. Soweit Ungehorsam im rechtlichen Kontext betrachtet wird, impliziert er stets Rechtsbruch und Illegalität.

Viel wichtiger, wenn auch ungleich schwieriger zu bestimmen, ist der Zusatz «zivil». «Zivil» geht etymologisch auf das lateinische civilis (den Bürger betreffend, bürgerlich, öffentlich, politisch) zurück. Der Duden nennt denn auch als Bedeutungen «anständig, annehmbar» sowie «bürgerlich, nicht militärisch». Der Zusatz «zivil» enthält somit Hinweise einerseits auf die Begehungsweise des Protests (öffentlich, tolerierbar) sowie andererseits auf die angestrebten Ziele und Interessen (diejenigen der Gesellschaft, der Bürger:innen). Der explizit «zivile» Ungehorsam verweist also auf den öffentlich-politischen Bereich eines Staates, in welchem die Menschen in ihrer Rolle als Bürger:innen[10] Angelegenheiten von Gemeinwohlinteresse verhandeln. Sie tun dies auf eine Art und Weise, die das Fundament der Gesellschaft nicht nachhaltig beschädigt und die zukünftige Möglichkeit politischen Zusammenlebens offenlässt.[11] Davon zeugt die Wahl von nichtmilitärischen, gewaltlosen und kommunikativen Mitteln.[12] Erst durch das Wort «zivil» entledigt sich der Ungehorsam seiner in der Umgangssprache üblichen egoistisch-obstruktiven Zuschreibungen und offenbart seinen besonderen politischen Charakter.

III. Historische Betrachtung

Im Gegensatz zur Praxis des zivilen Ungehorsams, die mindestens bis zu den alten Griechen zurückgeht,[13] ist die Begriffsgeschichte und die theoretische Auseinandersetzung relativ jung. Wenngleich den traditionellen Definitionen historisch gewandelte Erfahrungsinhalte zugrunde liegen, lassen sich der Entstehungsgeschichte des Begriffs «zivilen Ungehorsam» einige relevante Begriffselemente entnehmen. Diese sind im Rahmen der Begründung einer zeitgemässen Definition jedoch neu zu interpretieren.

1. Erste Erwähnung bei Thoreau und Fortführung durch Gandhi

Am Anfang der Begriffsgeschichte stehen die politischen Schriften Henry David Thoreaus, aus denen seine Urheberschaft für den Begriff Civil Disobedience abgeleitet wird.[14] Thoreaus Akte der Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Staat - beispielsweise in Form von Steuerboykott oder Amtsniederlegungen - waren durch gesellschaftliche Missstände wie die Sklaverei oder den Krieg gegen Mexiko motiviert. Sein Ungehorsam fusste somit nicht allein auf eigennützigen Beweggründen, sondern offenbarte die politische Dimension seines Protests.[15] Insofern enthielten die Gedanken von Thoreau bereits ein Grundelement des Begriffs «ziviler Ungehorsam»: die besondere moralische und zugleich politische Motivation.

Inspiriert von Thoreaus Schriften entwickelte Mahatma Gandhi eine eigene Theorie zur Begründung seines Befreiungskampfes gegen die Kolonialmacht des Vereinigten Königreichs: die Handlungslehre des Satyagraha. Satyagraha ist ein politisches Instrument, bei welchem das Streben nach der Wahrheit den Handelnden verbietet, den Gegner zu verletzen, und stattdessen gebietet, «durch freundliches Argumentieren an seine Vernunft oder durch das Selbstopfer an sein Herz»[16] zu appellieren. Mit seinem Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit (auf Sanskrit «ahimsa», wörtlich das «Nicht-verletzen») leistete Gandhi einen begriffsgeschichtlich bedeutsamen Beitrag.[17] Neben dem Gebot bzw. der Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit umfasst die Lehre des Satyagraha ein weiteres wichtiges Begriffselement: Die Folgenverantwortung. Die Bereitschaft, Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen, unterscheide den Satyagrahi (Anhänger der Lehre des Satyagraha) vom gewöhnlichen Gesetzesbrecher, der das Gesetz heimlich bricht und versucht, der Strafe zu entgehen.[18]

2. Amerikanische Diskussion während der Bürgerrechts- und Friedensbewegung

Die Lehre des Satyagraha spielte später auch eine bedeutende Rolle bei der unter anderem von Martin Luther King Jr. geführten Bürgerrechtsbewegung in den USA.[19] Für King Jr. war Gandhis Lehre für ein unterdrücktes Volk in seinem Kampf um die Freiheit die einzige moralisch und praktisch vertretbare Methode.[20] Der Zweck von gewaltloser direct action sei dabei stets, durch einen Appell an das Gewissen der Mitbürgerschaft eine schöpferische Spannung zu erzeugen, um die Tür zu Verhandlungen zu öffnen und Änderungen der Verhältnisse herbeizuführen.[21]

Die amerikanische Diskussion ab den 1960er-Jahren brachte diverse Definitionsvorschläge hervor.[22] Die bis heute meist zitierte Definition geht auf den Moralphilosophen John Rawls zurück. Unter dem Eindruck des politischen Aktivismus während der Bürgerrechts- und Friedensbewegung bestimmte Rawls in Anlehnung an Hugo Bedau[23] zivilen Ungehorsam als «eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzeswidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll».[24] Dieser symbolische Akt habe «innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue» (gemeint der allgemeinen Gesetzestreue) zu erfolgen, was sich unter anderem in der Akzeptanz der Strafe manifestiere.[25] In Rawls Definitionsvorschlag finden sich neu die Elemente Öffentlichkeit und Systemimmanenz. Ziviler Ungehorsam ist öffentlich, als er als Appell an die Öffentlichkeit (publicity-as-appeal) vor dem Forum der Öffentlichkeit (publicity-as-visibility) stattfindet.[26] Ziviler Ungehorsam vollzieht sich sodann «ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren».[27] Wer zivilen Ungehorsam leiste, anerkenne den Rechtsstaat, nicht aber jene Gesetze oder politischen Akte, dessen Unrechtsgehalt Anlass des Ungehorsams waren.[28]

3. Neuere Ansätze

Die veränderten Rahmenbedingungen der globalisierten und digital vernetzten Welt formten gleichsam die heutige Protestkultur sowie ihre Themen, die Adressaten und die Mittelwahl der Aktivist:innen. Zu nennen sind neue Formen zivilen Ungehorsams wie digital disobedience oder transnational disobedience, die sich globalen Themen mit einer Vielzahl von Akteuren und möglichen Betroffenen widmen. Angesichts der global zu lösenden Probleme und der Entnationalisierung und Privatisierung der politischen Macht[29] richten die Aktivist:innen ihr Anliegen sowohl an staatliche Institutionen wie auch internationale Organisationen und multinationale privatwirtschaftliche Konzerne. Als Beispiele sind etwa der Protest gegen die Welthandelsorganisation (WTO) durch Global Justice Movements, der Protest gegen internationale Finanzakteure durch die Occupy Wall Street Bewegung oder der aktuelle Klimaprotest gegen die Banken und ihre Investitionspolitik zu nennen. Zugleich erschaffen die technologischen Möglichkeiten digitaler Zusammenkunft neue digitale Foren der Öffentlichkeit, wodurch ziviler Ungehorsam in Form von digitalen Handlungen (z.B. digitales Whistleblowing) ebenfalls eine Neubetrachtung des Begriffselements öffentliche Begehungsweise einfordert.

Um diese neue Protestpraxis theoretisch besser erfassen zu können und zugleich als Kritik am liberal-konstitutionellen Model von Rawls, entwickelten sich radikaldemokratische[30] und anarchistische[31] Deutungsparadigma. Diese verstehen die Begriffselemente im Allgemeinen weiter als in der liberal-konstitutionellen Deutungstradition, indem sie die positiven Aspekte politischer Konflikte mehr in den Fokus rücken.

IV. Begriffselemente

Im Folgenden wird zunächst erörtert, warum ein bestimmtes Begriffselement konstitutiv sein sollte, gefolgt von den Fragen, was unter dem Begriffselement zu verstehen ist, und welche Abgrenzungen mit dem definierten Begriffselement vollzogen werden können.

1. Gesetzeswidrigkeit

Im heutigen Verständnis impliziert ziviler Ungehorsam Rechtsbruch bzw. ein gesetzeswidriges Verhalten. Die Anerkennung der Gesetzeswidrigkeit als konstitutives Begriffselement von zivilem Ungehorsam ist in der wissenschaftlichen Diskussion unbestritten. Bei zivilem Ungehorsam handelt es sich um eine bewusste Verletzung von Rechtsnormen. Häufig handelt es sich bei den verletzten Rechtsnormen um strafrechtliche Normen (Nötigung, Hausfriedensbruch usw.) oder verwaltungsrechtliche Ordnungsvorschriften (z.B. Verstösse gegen kantonale Polizeigesetze). In subjektiver Hinsicht ist eine vorsätzliche Rechtsverletzung vorauszusetzen, wobei der Rechtsbruch selbst nicht die eigentliche Intention des zivilen Ungehorsams ist, sondern stets nur Mittel zur Durchsetzung eines politischen Anliegens.

Es genügt, wenn die Protesthandlung im Tatzeitpunkt eine Gesetzeswidrigkeit indiziert.[32] Nicht verlangt ist, dass die Gesetzeswidrigkeit bzw. die Strafbarkeit gerichtlich abschliessend festgestellt wurde.[33] Die Frage der Strafbarkeit kann Gegenstand eines langen Gerichtsverfahrens bilden, deren Beantwortung zu Beginn der Untersuchungshandlungen im Lichte systeminhärenter Rekursmöglichkeiten und fortlaufender Rechtsfortentwicklung noch offen ist. Überdies werden längst nicht alle Fälle von zivilem Ungehorsam überhaupt vor Gericht verhandelt, weil z.B. aus strategischen oder politischen Überlegungen auf eine Strafanzeige verzichtet wurde, um einen medienwirksamen Prozess zu vermeiden.[34] Die Verknüpfung der Begriffsebene mit der letztgültigen rechtlichen Beurteilung ist deshalb nicht praktikabel und abzulehnen. Bei aller Unschärfe des Begriffselements der Gesetzeswidrigkeit ist nicht aus den Augen zu verlieren, dass es im Rahmen der Begriffsklärung zunächst vorstehend um eine Abgrenzung zu legalen Protestaktionen geht. Ziel ist die Einordnung einer Protestaktion als zivilen Ungehorsam und nicht die Auseinandersetzung mit der rechtlichen Bewertung der als zivilen Ungehorsam erfassten Protestaktion.

Allgemein anerkannt ist schliesslich, dass der Rechtsbruch unmittelbar oder mittelbar erfolgen kann.[35] Beim unmittelbaren zivilen Ungehorsam sind Protestziel und Rechtsverletzung kongruent, d.h. der Protest richtet sich gegen jene Norm, gegen die auch verstossen wird. Als Beispiele unmittelbaren zivilen Ungehorsam sind der gegen die britischen Salzgesetze gerichtete Salzmarsch von Gandhi und seinen Anhängern, die Verletzung des Konkubinatverbots um des Lebens im Konkubinat willen oder der Sitzboykott von Rosa Louise Parks als Protest gegen die Rassentrennungsvorschriften in öffentlichen Bussen zu nennen. Weitaus häufiger ist heute der indirekte zivile Ungehorsam, bei dem nicht die Norm, gegen die protestiert wird, sondern eine beliebige Norm verletzt wird. Der Rechtsbruch ist hier blosses Mittel, um dem Protest einen besonderen Nachdruck zu verleihen. Die Aktivist:innen der Klimaprotestbewegung beispielsweise verletzen die Straftatbestände des Hausfriedensbruchs oder der Nötigung, ohne Absicht, damit auf eine Änderung dieser Strafrechtsnormen hinzuwirken.

2. Besondere politisch-moralische Motivation

Aus der Anerkennung der gesetzeswidrigen Begehungsweise folgt die Frage, inwiefern sich ziviler Ungehorsam von gewöhnlicher Kriminalität unterscheidet. Die Antwort weist auf das Erfordernis einer besonderen motivationalen Grundlage hin. Mit der Aufnahme besonderer Beweggründe in den Begriff des zivilen Ungehorsams sollen rein eigennützige Motivationen[36] (z.B. Gewinnstreben) sowie «abwegige Privat- und Gruppenmoralen»[37] (z.B. einer religiösen Sekte) ausgeschlossen werden.

Die motivationale Grundlage von zivilem Ungehorsam zeichnet sich durch ihre politisch-moralische Natur aus. Die Motivation ist insoweit als politisch zu bezeichnen, als die Akteure annehmen, dass ihr Anliegen Grundfragen des Zusammenlebens der Bürger:innen, der Gestaltung von Gemeinwesen und der allgemeinverbindlichen Regelungsmechanismen öffentlicher Konflikte berühren. Gegenstand politisch motivierten Ungehorsams sind demnach Gemeinschaftsangelegenheiten (res publica) in Abgrenzung zu reinen Individualinteressen.[38]

Während die Bezeichnung von Beweggründen als «politisch» auf den Gegenstand verweist, bringt die «moralische» Motivation zum Ausdruck, gestützt auf welche Überzeugungen die Angelegenheiten öffentlich zu regeln sind. Vor dem Hintergrund einer wertpluralistischen und heterogenen Gesellschaft stellt eine inhaltliche Konkretisierung der moralischen Beweggründe eine kaum zu bewältigende Hürde dar. Dessen ungeachtet werden in der Lehre substantielle Ansätze verfolgt und als moralisch vertretbare Gründe die Berufung auf bestehende Bürger- und Menschenrechte[39] und bereits konstitutionell abgesicherte Gerechtigkeitsgrundsätze[40] verstanden, die von der Mehrheit der Gesellschaft anerkannt sind.[41] Werden an die Motivation solche inhaltliche Anforderungen gestellt, befördert dies allerdings bereits auf der begrifflichen Ebene die Bewahrung des Status quo, mithin der bestehenden Verfassungsprinzipien und Gerechtigkeitsgrundsätze. Damit wird die Entfaltung des transformativen Potentials von zivilem Ungehorsam erschwert, der gerade das herrschende Gerechtigkeitsempfinden zu problematisieren wünscht. So waren etwa die Anliegen der Frauenstimmrechtsbewegungen zu ihrer Zeit weder konstitutionell implementiert, noch hätte eine Mehrheit der Gesellschaft eine Gleichstellung von Frau und Mann (u.a. die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für alle) befürwortet. Trotzdem handelte es sich dabei um bedeutsame moralische Anliegen, deren Diskussion mangels politischer Partizipationsmöglichkeiten erst durch zivilen Ungehorsam angestossen wurde und deren Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft sich über Jahre hinweg entwickeln musste.

Anstelle einer inhaltlichen Verengung auf bestimmte - namentlich «konstitutionell abgesicherte» und von der Mehrheit anerkannte - moralische Gründe ist deshalb zweierlei zu fordern: (1) In substantieller Hinsicht genügt eine Bezugnahme auf grundlegende Wert- und Moralvorstellungen,[42] (2) die in formeller Hinsicht intersubjektiv teilbar sind.[43] Grundlegende moralische Gründe bedingen insofern eine höhere Stufe der Abstraktion, als sie unter möglichen Normadressaten - unabhängig von Kräfteverhältnissen, Vorlieben oder Abneigungen - Anerkennung finden sollen.[44] Die Anerkennung solcher moralischen Gründe hängt dabei massgeblich von ihrer Vermittlung ab, weshalb zivil Ungehorsame ihre moralische Überzeugung substantiiert und konsistent darlegen und plausibilisieren sollten. Mit dem Zusatz «intersubjektiv teilbare» Moralvorstellungen wird auf dieses Erfordernis hingewiesen. Das formale Kriterium «intersubjektiv teilbar» bedeutet jedoch nicht, dass die moralischen Gründe in der politischen Kultur bereits «generell anerkannt sein oder eine vorherrschende Überzeugung widerspiegeln müssen».[45] Gemeint ist vielmehr, dass sich die moralische Überzeugung Dritten gegenüber nachvollziehbar vermitteln lässt, so dass die Motive wenn zwar noch nicht akzeptiert, doch zumindest verstanden werden können.[46] Anders als bei substantiellen Ansätzen bildet hier nicht der Inhalt, sondern die Darlegung der moralischen Motivation das massgebende Kriterium. Bestehende Menschenrechte und Verfassungsprinzipien werden damit ebenso erfasst, wie auch noch nicht verfassungsrechtlich implementierte Gerechtigkeitsvorstellungen, soweit sie abstrakt vermittelbar sind.

Zusammenfassend erfordert das Begriffselement «politisch-moralische Motivation», dass der Handlungswille zivil Ungehorsamer von der Motivation getragen ist, gestützt auf kommunikativ-intersubjektiv teilbare moralische Überzeugungen (= moralischer Teilgehalt) öffentliche Angelegenheiten des Gemeinwesens (= politischer Teilgehalt) zur Diskussion zu stellen.

3. Öffentlichkeit

Im Gegensatz zur motivationalen Grundlage, bei der die politische Motivation auf die Diskussion öffentlicher Themen verweist, bezieht sich das Element Öffentlichkeit auf die Form und den Adressatenkreis des Protests.

Im traditionellen liberal-konstitutionellen Verständnis nach Rawls meint Öffentlichkeit primär publicity-as-visibility,[47] also unmittelbare Sichtbarkeit der Aktivist:innen. Dies setzt (1) vorgängige Ankündigung über die geplante Aktion,[48] (2) offener und nicht-anonymer Vollzug der Aktion[49] und (3) Bereitschaft, für die Konsequenzen der Aktion einzustehen[50] (sog. Folgenverantwortung) voraus. Diese Teilaspekte von publicity-as-visibility erweisen sich jedoch als problematisch. So würde die Forderung, geplante Aktionen vorgängig anzukündigen, selbst etablierte Formen zivilen Ungehorsams wie Sit-ins, Blockaden und Hausbesetzungen unmöglich machen, weil die Ordnungsbehörden deren Durchführung zu verhindern wüssten.[51] Denkt man an andere Formen zivilen Ungehorsams, beispielsweise digitaler Ungehorsam, ist auch das Erfordernis einer unmittelbar öffentlichen Begehungsweise zu problematisieren. Digitales Whistleblowing basiert etwa gerade darauf, dass der initiale Akt der Vorbereitung und Durchführung unter Geheimhaltung erfolgt, bevor Informationen an die Öffentlichkeit gebracht werden.[52] In solchen Fällen muss es genügen, wenn die Öffentlichkeit erst nachträglich hergestellt wird.[53] Im Vordergrund steht nicht unmittelbare Sichtbarkeit der Handelnden bzw. deren Identifizierbarkeit im Sinne von publicity-as-visibility, sondern die Sichtbarkeit der politischen Kommunikationsabsicht der Handelnden im Sinne von publicity-as-appeal. Die Ungehorsamen offenbaren durch die öffentliche Begehungsweise ihren kommunikativen Anspruch, in ihrer Rolle als Bürger:innen in Anerkennung der anderen als Mitbürger:innen öffentliche Themen zur Diskussion zu stellen. Der Adressatenkreis dieser kommunikativen Absicht ist in horizontaler Hinsicht die Mitbürgerschaft, auf deren Zustimmung für das Anliegen eine gute Kommunikation abzielt, und in vertikaler Hinsicht die politische Autorität, die die gewünschten Veränderungen umsetzen soll.[54]

Das Begriffselement «Öffentlichkeit» fordert im vorliegenden Verständnis somit, dass die kommunikative Absicht erkennbar auf die politische Öffentlichkeit, bestehend aus politischer Autorität und Mitbürgerschaft, gerichtet ist. Irrelevant ist, ob die Akteure zeitweise anonym, mithin nicht sichtbar im Sinne von publicity-as-visibility agieren, und wann sich die kommunikative Absicht - bei der Vorbereitung, der Durchführung oder im Nachgang zur Aktion - entfaltet, solange sich die Handlung nicht vollständig im Verborgenen oder im blossen Privatbereich abspielt.

4. Reformorientierung

Dass ziviler Ungehorsam darauf ausgerichtet ist, eine Veränderung herbeizuführen, findet sich in den meisten Definitionsvorschlägen. Im Gegensatz zu einer Revolution versucht der zivile Ungehorsam diese Veränderung auf eine reformatorische Art und Weise zu vollziehen. Essenziel ist dabei das Bekenntnis zu einer nichtmilitärischen Begehungsweise. Im Weiteren zeichnet sich ziviler Ungehorsam durch ein bewusst gezieltes oder gestaffeltes Vorgehen aus. Gewöhnlich strebt ziviler Ungehorsam nur eine Veränderung eines bestimmten Umstandes an.[55] Es handelt sich also um «the refusal of particular legal commands, not of every legal command».[56] Ziviler Ungehorsam mag zwar in Einzelfällen vom Geist der Revolution getragen sein und in seiner Wirkung in gewissen Fällen Anteil an einer revolutionären Änderung nehmen, und doch bleibt er stets ein gezielter, partieller Ungehorsam, in welchem die Aktivist:innen ihre (staats-)bürgerlichen Verpflichtungen innerhalb einer Assoziation lediglich in begrenztem Ausmass aufkündigen.[57] Der Salzmarsch von Gandhi ist beispielsweise als ziviler Ungehorsam zu qualifizieren, weil er sich gegen eine bestimmte als ungerecht empfundene Regelung (die ans britische Salzmonopol geknüpfte Verpflichtung, eine Salzsteuer zu zahlen) richtete. Selbst wenn Gandhi daneben die britische Herrschaft als solche ablehnte und diesbezüglich durchaus revolutionäre Gedanken hegte, befürwortete er in der Frage der Salzsteuer nicht ein revolutionäres, sondern ein zivil ungehorsames Vorgehen. Dass das Einlenken der Kolonialverwaltung in diesem Anliegen im Nachhinein wohl die Begehung weiterer Aktionen beförderte, welche in ihrer Gesamtheit den Umsturz des kolonialen Systems herbeiführten, ändert nichts daran, dass der Salzmarsch zunächst mal nur auf die Beseitigung der Salzsteuer und des Salzmonopols abzielte.

Diesen Unterschieden zwischen zivilem Ungehorsam und Revolution soll durch die Aufnahme des Begriffsmerkmals der Reformorientierung Rechnung getragen werden. Reform als Antonym zu Revolution steht für eine planvollere Entwicklung ohne disruptiven Wandel.

Fraglich bleibt, an wen sich die Forderung nach Reform und Veränderung richtet. Als politisch relevante Autorität galt lange allein der Staat. Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung vollzog sich jedoch eine Macht- und Kompetenzverschiebung von Nationalstaaten hin zu internationalen Organisationen und multinationalen privatwirtschaftlichen Konzernen. Dadurch ist nicht mehr allein die Staatsbürgerschaft die Bedingung, die einen Menschen zum Betroffenen einer bestimmten Politik werden lässt. Stattdessen formieren sich Betroffene heute themenzentriert durch einen gemeinsamen politischen Kontext partikularer Anliegen[58] - wie beispielsweise durch den Kontext des Klimawandels (z.B. Fridays for Future), der Globalisierung (z.B. Occupy Wall Street) oder der Internet Governance (z.B. Anonymous). Diese neuen, transnationalen, sozialen Bewegungen richten ihr Veränderungsanliegen an politische Autoritäten staatlicherund auch nicht-staatlicher Natur.[59]

Mit Reformorientierung soll nach dem Gesagten insbesondere die transformative und schöpferische Kraft[60] zivilen Ungehorsams betont werden,die sich gezielt gegen bestimmte politische Massnahmen der bestehenden Machtstrukturen - staatlicher und nicht-staatlicher Natur - richtet, ohne in abrupter Weise das Fundament des Zusammenlebens zu erodieren.

5. Gewaltlosigkeit?

Bei der Frage, ob ziviler Ungehorsam stets gewaltfrei sein muss, handelt es sich um das weitaus umstrittenste Begriffselement. Historisch als Kernmerkmal des zivilen Ungehorsams bezeichnet, zeigt sich in der Diskussion von Praxisbeispielen ein Bedarf an inhaltlicher Konkretisierung, was genau unter Gewalt zu verstehen ist. Umfasst Gewalt nur Verletzungen der körperlichen Integrität von Personen? Wie verhält es sich mit Gewalt gegen Eigentum? Ist eine Sitzblockade vor einer Bankfiliale oder auf einer Autobahn als Gewalt gegen Bankmitarbeitende bzw. Autofahrende zu werten? Und ist eine friedliche Aktion, in deren Verlauf vereinzelt Sachbeschädigungen begangen werden, noch gewaltloser ziviler Ungehorsam?

Um zu begründen, warum eine gewaltlose Begehungsweise konstitutiv sein soll, wird häufig auf die paradigmatischen Fällen zivilen Ungehorsams wie Gandhi und King Jr. verwiesen. Allerdings scheint in einer geschichtlichen Glorifizierung dieser Lichtfiguren des zivilen Ungehorsams vergessen zu gehen, dass deren Erfolg zumindest teilweise auch von Provokationen, Drohungen und Gewalttätigkeiten (z.B. durch radikalere Gruppierungen wie die Black Panthers oder Black Muslims) begleitet und abhängig gewesen ist.[61] Selbst historisch bedeutsame Protagonisten wie King Jr., die in der heutigen theoretischen Reflexion vermeintlich als Vertreter eines durchwegs gewaltfreien Protests bezeichnet werden, haben die Grenzen rein symbolischer Aktionen und die Notwendigkeit von konfrontativen Elementen erkannt:

«[Nonviolent] direct action seeks to create such a crisis and foster such a tension that a community which has constantly refused to negotiate is forced to confront the issue. It seeks so to dramatize the issue that it can no longer be ignored.»[62]

Die Vorstellung, ziviler Ungehorsam sei immer prinzipiell gewaltfrei gewesen, lässt sich jedenfalls nicht aus historischen Beispielen ableiten. Robin Celikates spricht von «historischer Manipulation und Schönfärberei»[63], in deren Folge die Wirkmächtigkeit von konfrontativen Momenten innerhalb einer Protestbewegung ignoriert und der Beitrag prinzipieller Gewaltlosigkeit zum Erfolg überhöht wird.

Überzeugender als eine historische ist eine funktionale Begründung. Ziviler Ungehorsam umfasst nach dem hier vertretenen Verständnis drei Funktionen: konfrontative, kommunikative und transformative Funktion. Die drei Funktionen bedingen sich gegenseitig. Der konfrontative Anspruch bereitet der kommunikativen Absicht insofern den Weg, als erst dadurch die notwendige Aufmerksamkeit für eine Deliberation über das transformative Anliegen geweckt wird. Würden auch gewalttätige Aktionsformen unter die Kategorie «ziviler Ungehorsam» subsumiert, wäre die kommunikative und transformative Funktion des zivilen Ungehorsams gefährdet.[64] Sowohl die kommunikative wie auch die transformative Funktion setzen für ihren Erfolg voraus, dass der zivile Ungehorsam in seiner Begehungsweise annehmbar und mithin zivil bleibt. Diese Zivilität fordert von den Aktivist:innen mehr als nur den Verzicht auf militärische Mittel.[65] Die Aktivist:innen sind gehalten, sich in ihrer konfrontativen Begehungsweise soweit einzuschränken, dass ein Gespräch über eine andere Zukunft möglich wird. Die Konfrontation dient lediglich dazu, neue Resonanzräume für einen Appell nach Veränderung zu eröffnen. Keinesfalls sollen im Lärm der Konfrontation die Stimmen, die sich im Diskurs zum Transformationsanliegen einbringen, verstummen. Das Gebot der Gewaltlosigkeit ist somit mit Blick auf die erfolgreiche Verwirklichung der Funktionen zivilen Ungehorsams zu begründen.[66]

Anhand eines Kriterienkatalogs lässt sich weiter bestimmen, welche Formen von Protestmitteln mit dem Gebot der Gewaltlosigkeit vereinbar sind. Als Kriterien sind vorliegend anknüpfend an die funktionale Begründung der (1) kommunikative und transformative Anspruch und die (2) Ausrichtung auf eine zukünftige Kooperation mit Mitmenschen entscheidend.

Zu beachten ist also erstens, mit welcher Absicht welches Mass an Gewalt zur Anwendung kommt. Zweitens, inwiefern die gewählten Mittel mit dem zivilen Charakter des Ungehorsams - also eine Konfliktaustragung ohne nachhaltige Gefährdung des zukünftigen Zusammenlebens in Mitbürgerschaft - und zugleich mit dem kommunikativen und transformativen Anspruch vereinbar sind. Es handelt sich um einen Abwägungsprozess zwischen dramatisierenden, konfrontativen Elementen, welche die notwendige Aufmerksamkeit für das transformative Anliegen wecken, und einer gewalttätigen Begehungsweise, welche die kommunikative Absicht derart überschattet, dass anstelle des Protestthemas der Schaden an der Gemeinschaft zum Diskussionsgegenstand wird.[67]

Wendet man diese Kriterien auf konkrete Gewaltformen an, ist zunächst - wohl relativ unbestritten - festzustellen, dass Gewalt, welche in die körperliche Integrität eines Menschen eingreift, kaum je gesellschaftliche Zustimmung finden und die zukünftige Kooperationsbereitschaft einer Gemeinschaft unberührt lassen wird.[68] Differenzierter gilt es bei der Beurteilung von Formen psychischer Beeinträchtigungen vorzugehen. In der aktuellen Debatte wird oft argumentiert, dass Klimaaktivist:innen, die auf Strassen sitzend für ihr Anliegen demonstrieren, den blockierten Autofahrer:innen Gewalt antun.[69] Mit einem solch weitgefassten Verständnis von Gewalt wird jedoch letztlich «der grösste Bereich tatsächlich vorkommenden zivilen Ungehorsam[s] aus dessen Begriff herausdefiniert».[70] Zum Kern von zivilem Ungehorsam gehört es zu provozieren, zu irritieren, zu ärgern und zu stören. Freilich kann sich die transformative Kraft des zivilen Ungehorsams nur entfalten, wenn Momente der Nötigung, der realen Konfrontation möglich und zugleich strategisch darauf ausgerichtet bleiben, die kommunikative und transformative Absicht zu fördern, statt zu behindern.[71] Im Lichte dieser Überlegungen ist auch Gewalt gegen Sachen differenziert zu bewerten. Wie bei psychischen Beeinträchtigungen, ist auch bei Sachbeschädigungen darauf abzustellen, ob diese als bloss strategische Mittel bzw. als negative Nebenfolgen einer ansonsten nicht auf Sachbeschädigung gerichteten Aktion eng mit dem kommunikativen und transformativen Anliegen verbunden bleiben, oder auf mutwillige Zerstörung und Vandalismus abzielen und damit die zukünftige gemeinschaftliche Kooperationsbereitschaft gefährden.[72]

Nachdem beschrieben wurde, warum Gewaltlosigkeit als Begriffselement konstitutiv sein soll und wie Gewalt zu definieren ist, bleibt die Frage, mit welchem Terminus dieses Begriffselement (bis dahin als «Gewaltlosigkeit» umschrieben) sinnvollverweise zu erfassen ist. In Anbetracht dessen, dass ein absolutes Verständnis von Gewaltlosigkeit weder mit den paradigmatischen Fällen von zivilem Ungehorsam noch mit dem kommunikativen und transformativen Anspruch von zivilem Ungehorsam zu begründen ist, scheint der Begriff «Gewaltlosigkeit» oder «Gewaltfreiheit» irreführend. Als Alternative bietet sich der Begriff «friedlich» bzw. «Friedlichkeit» an.[73] Der Vorteil des Terminus «friedlich» liegt unter anderem in seiner grundrechtlichen Positivierung zur Versammlungsfreiheit, aufgrund derer er auch für die juristische Beurteilung anschlussfähig wird.[74] Friedlich ist dabei nicht gleichzusetzen mit rechtskonform bzw. strafrechtlich zulässig.[75] So gilt eine Versammlung nicht schon als unfriedlich, wenn einzelne Teilnehmer:innen rechtswidrige Handlungen oder Gewalt ausüben.[76] Auch spektakuläre Aktionen - wie bei zivilem Ungehorsam -, die auf Provokation, Störungen des Alltags und Erzielung grösstmöglicher Aufmerksamkeit angelegt sind, bleiben als friedliche Versammlungen grundrechtlich geschützt.[77] Eine Versammlung verliert erst dann den grundrechtlichen Schutz infolge Unfriedlichkeit, wenn sie von vorneherein eine gewalttätige Zielsetzung verfolgt oder in ihrem Verlauf eine solche annimmt und ihr kommunikativer Zweck damit völlig in den Hintergrund tritt.[78]

Ziviler Ungehorsam setzt also nach dem hier vertretenen Verständnis zwingend ein friedliches Handeln voraus. Der Terminus «friedlich» nährt keine falsche Vorstellung prinzipieller Gewaltlosigkeit, sondern verweist auf eine Angemessenheit in der Mittelwahl im dauerhaften Verhältnis zur Mitbürgerschaft (bzw. zum Rechtsfrieden). Damit wird der gezielte Einsatz von konfrontativen Mitteln nicht grundsätzlich ausgeschlossen, solange dadurch die kommunikative Absicht hinsichtlich eines transformativen Anliegens unterstützt und das zukünftige Zusammenleben nicht nachhaltig gefährdet wird. Der mit Blick auf die politische Realität unrealistische Anspruch absoluter Gewaltfreiheit wird durch eine differenzierte Beurteilung der Angemessenheit der Protestmittel ersetzt.

Mit diesem Begriffselement lässt sich schliesslich auch die Titelfrage beantworten: In den einleitend genannten Fällen des Klimaprotests handelt es sich schlechterdings nicht um Terrorismus, sondern nach den im vorliegenden Beitrag präsentierten Kriterien um Aktionen zivilen Ungehorsams. Terroristische Organisationen versuchen ihre politischen Ziele durch das Ausüben von Terror - Drohung und massive Gewalt gegen Menschen und Sachen - zu erreichen. Demgegenüber protestieren zivil ungehorsame Klimaaktivist:innen für ihr Anliegen auf eine Weise, die zwar durchaus als konfrontativ, störend und nötigend empfunden werden kann, jedoch in direktem Bezug zur Beförderung des kommunikativen und transformativen Anliegens des Protests steht. Aktionsformen, die insbesondere mit Blick auf ihre Zielsetzung und ihren Gewaltanteil phänomenologisch stark differieren, sind begrifflich nicht gleichzustellen.

6. Nicht zwingend begriffsnotwendige Elemente

a) Systemimmanenz

Vorliegend wird aus zwei Gründen gegen die Aufnahme dieses Merkmal als Begriffselement argumentiert. Erstens geht die Annahme einer prinzipiellen Anerkennung des Systems und der Rechtsordnung am Selbstverständnis vieler Aktivist:innen vorbei, die ihr gesetzwidriges Handeln keineswegs als Loyalitätsbeweis für das politische System als solches begreifen.[79] David Graeber als Aktivist und zugleich wissenschaftlicher Beobachter innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung Occupy Wall Street bezeichnete sich etwa als Anarchist.[80] In der aktuellen Klimabewegung ist häufig von «System change, not climate change» die Rede. Dies zeugt ebenso wenig von einem grundlegenden Einverständnis mit dem bestehenden System, wie King Jr. Ausspruch «the thing to do is get rid of the system».[81] Wie bei King Jr. war auch Gandhis Aktivismus vom Motiv getragen, das vorherrschende System der Kolonialherrschaft zu beenden.[82] Dass Aktivist:innen trotz allem keine revolutionäre, sondern eine bewusste zivile, wenn auch gesetzeswidrige Begehungsweise für ihr Anliegen wählen, dürfte weniger Ausdruck der Loyalität gegenüber der bestehenden Ordnung sein. Vielmehr wählen sie eine friedliche und reformorientierte Begehungsweise, um die Erfolgschancen und die kommunikative Anschlussfähigkeit ihrer Aktion zu erhöhen.

Zweitens gewinnt man mit einem konstitutiven Begriffselement «Systemimmanenz» keine zusätzlichen Informationen über die spezifische Eigenart des zivilen Ungehorsams.[83] Der zivile Charakter von zivilem Ungehorsam kommt bereits durch die öffentliche und friedliche Begehungsweise sowie die Reformorientierung zum Ausdruck. Damit zeugt das Handeln der Aktivist:innen hinreichend von einem selbstlimitierenden Vorgehen, womit eine Abgrenzung zu revolutionären, anarchistischen Formen des Protests oder ordinären Verbrechen gemacht werden kann, ohne dass ein besonderes Begriffsmerkmal «Systemimmanenz» notwendig ist.

b) Folgenverantwortung

Folgenverantwortung (non-evasion oder acceptance of punishment) kann als ein charakteristisches, wenn auch nicht definitorisch notwendiges Attribut zivilen Ungehorsams bezeichnet werden. Im Sinne einer Minimaldefinition meint Folgenverantwortung, dass die Aktivist:innen des zivilen Ungehorsams die Folgen ihres Handelns übernehmen. Die Interpretationen von Folgenverantwortung reichen von einem äusserst weitgefassten Verständnis in der Tradition Gandhis im Sinne einer eigentlichen Opferbereitschaft, d.h. Verzicht auf jegliche Verteidigung sowie Geständnis mit anschliessender Akzeptanz der Strafe,[84] über die Forderung, sich dem Strafverfahren zu stellen (also keine Flucht) ohne jedoch auf eine Verteidigung zu verzichten,[85] bis hin zur Übernahme von Verantwortung im nicht-juristischen Sinne (z.B. Tragen des Risikos sozialer Exklusion, Verlust der Arbeitsstelle, Exil, finanziellen Ruins).[86]

Die Folgenverantwortung kann aus strategischen Gründen (zwecks Dramatisierung des Unrechts und/oder zwecks Publizitätswirkung hinsichtlich einer öffentlichen Debatte) oder auch als Indiz für die Aufrichtigkeit der besonderen Motivation bedeutsam sein. Aus diesen strategischen Überlegungen lässt sich jedoch kein Bedürfnis begründen, die Folgenverantwortung als eigenständiges, konstitutives Element in den Begriff des zivilen Ungehorsams aufzunehmen.[87] Den Bedenken, wonach durch die Umgehung einer Bestrafung keine Unterscheidung zu ordinären Verbrechen zu machen sei, kann entgegengehalten werden, dass eine solche Abgrenzung bereits durch die Begriffselemente der Öffentlichkeit und der besonderen motivationalen Grundlage gewährleistet ist.

V. Fazit: Definitionsvorschlag

Im hier diskutierten Verständnis ist ziviler Ungehorsam eine (1) bewusst gesetzeswidrige, (2) moralisch-politisch motivierte Handlung in (3) öffentlicher, (4) reformorientierter und (5) friedlicher Begehungsweise.

  1. Die Gesetzeswidrigkeit liegt in einem subjektiv vorsätzlichen Verstoss gegen positives Recht in mittelbarer oder unmittelbarer Begehungsweise.
  2. Mit einer moralisch-politischen Motivation handelt, wer gestützt auf kommunikativ-intersubjektiv teilbare moralische Überzeugungen öffentliche Angelegenheiten des Gemeinwesens zur Diskussion stellt.
  3. Die öffentliche Begehungsweise bringt die kommunikative Absicht (publicity-as-appeal) zum Ausdruck, welche erkennbar auf die politische Öffentlichkeit, bestehend aus politischer Autorität und Mitbürgerschaft, gerichtet ist und in Anerkennung der pluralistischen Verhältnisse sowie im Respekt vor freien und gleichen Menschen intersubjektiv wirken möchte. Nicht zu verstehen ist die öffentliche Begehungsweise im Sinne von publicity-as-visibility, welche vorgängige Ankündigungen, durchgehende Nicht-Anonymität und Folgenverantwortung voraussetzt.
  4. Eine reformorientierte Begehungsweise verweist auf die transformative Kraft zivilen Ungehorsams, die gezielt politische Massnahmen staatlicher und nicht-staatlicher Autoritäten zur Diskussion stellen, beeinflussen oder verändern will, ohne das Fundament unseres Zusammenlebens nachhaltig zu beschädigen.
  5. Die friedliche Begehungsweise fordert eine Angemessenheit in der Mittelwahl, um das bürgerschaftliche Zusammenleben nicht nachhaltig zu gefährden. Nicht gleichzusetzen ist die friedliche Begehungsweise mit prinzipieller Gewaltlosigkeit. Vielmehr ist im Einzelfall eine Abwägung zwischen zielgerichtetem Einsatz von konfrontativen Mitteln hinsichtlich der Verwirklichung des kommunikativen und transformativen Anliegens und Selbstbegrenzung hinsichtlich der Sicherstellung der zukünftigen Kooperationsbereitschaft vorzunehmen.

Die Inhalte der Kriterien wurden in Berücksichtigung der heutigen politischen Praxis, der historischen paradigmatischen Fallbeispiele und der kommunikativen sowie transformativen Rolle von zivilem Ungehorsam definiert. Sie erlauben damit sowohl die Abgrenzung zu anderen Handlungsformen wie auch den Einbezug von vielfältigen Formen des Protests. Zugleich befördern sie im Gegensatz zu den traditionellen Definitionen stärker die Entfaltung des transformativen Potentials von zivilem Ungehorsam in der politischen Praxis. Im Einzelfall bleibt eine Begriffsbestimmung eine anspruchsvolle und bedeutsame Aufgabe, die im Wissen um die Wirkmächtigkeit einer Etikettierung und möglicherweise gegen machtpolitische Kräfte im Kampf um die Deutungshoheit wahrzunehmen ist.



[1] Eine gute Übersicht zu aktuellen Fällen bieten Jevgeniy Bluwstein / Clémence Demay / Lucie Benoit, Ziviler Ungehorsam und Klimaprozesse in der Schweiz, in: Jusletter vom 26. Juni 2023.

[2] Klimaterrorismus: Unwort des Jahres 2022.

[3] Katrin Höffler, «Klima-RAF» herbeireden - Radikalisierung durch Labeling und Druck, in: Bönnemann (Hrsg.), Kleben und Haften. Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise, Berlin 2023, S. 79 ff.; Robin Celikates, Ziviler Ungehorsam - zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt, in: Martinsen/Flügel-Martinsen (Hrsg.) Gewaltbefragungen. Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, Bielefeld 2014, S. 222; Steve Cooke, Animal Rights and Environmental Terrorism, Journal of Terrorism Research 4(2)/2013, S. 26 ff.; Eva Maria Maier, «Organisierte» Kriminalität oder Ziviler Ungehorsam?, juridikum 2010, S. 46 ff.; vgl. auch Judith Butler, The Force of Nonviolence. An Ethico-Political Bind, London 2020, S. 2.

[4] Beverly Gage, What an uncensored Letter to M.L.K. reveals, The New York Times Magazine vom 16. November 2014, S. 15; Lerone A. Martin / Jeanne Theoharis, The FBI claims to have learned from its Surveillance of Martin Luther King Jr. - But it keeps doing the same Things, TIME vom 10. Oktober 2023.

[5] Vgl. aus der empirischen Forschung James Ozden / Cathy Rogers / Ruud Wouters, Social Change and Protests, Apollo Academic Surveys vom 7. Juli 2023; Erica Chenoweth / Maria J. Stephan, Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict, Columbia University Press 2011; siehe auch Alexander Livingston, Nonviolence and the Coercive Turn, in: Scheuerman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Civil Disobedience, Cambridge University Press 2021, S. 265 f., wonach friedlicher Protest einen Mobilisierungsvorteil («participatory advantage») und einen «appeasing effect on state retaliation» hat.

[6] So reichen die normativen Perspektiven zur Frage, welche Rolle ziviler Ungehorsam in einer Demokratie einnehmen darf oder soll, von grundsätzlich wohlwollend zu klar ablehnend. Eine umfassende Übersicht zu den verschiedenen Positionen in der Lehre würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

[7] Ulrich Klaus Preuss, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität: von der Grenze der Verfassung und des Gehorsams in der Demokratie, Frankfurt a. M. 1984, S. 27.

[8] Marc Spescha, Rechtsbruch und sozialer Wandel, Diss. Berlin 1988, S. 205.

[9] Vgl. Robin Celikates, Learning from the Streets: Civil Disobedience in Theory and Practice, in: Weibel (Hrsg.), Global Activism, Karlsruhe 2015, S. 65, der die «systematic ignorance of the complex reality of disobedience» kritisiert.

[10] Das Wort «Bürger:in» wird hier und im Folgenden nicht im staatsrechtlichen Sinn als «Staatsbürger:in mit Bürgerrechten» (insb. Wahl- und Stimmrecht), sondern als von politischen Massnahmen Betroffene bzw. als Mitglied der Zivilgesellschaft verwendet.

[11] Heinz Kleger, Der neue Ungehorsam: Widerstände und politische Verpflichtung in einer lernfähigen Demokratie, Frankfurt 1993, S. 186; Robin Celikates, Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie. Konstituierende vs. Konstituierte Macht?, in: Bedorf/Röttgers (Hrsg.), Das Politische und die Politik, Berlin 2010, S. 294.

[12] Kleger (Fn. 11), S. 186.

[13] Mit weiteren Hinweisen auf antike Vorläufer vgl. Gerald Neubauer, Das Recht des Staates auf zivilen Ungehorsam: Mit Menschenrechten begründete Rechtsbrüche in der internationalen Politik, Diss. Bremen 2015, S. 54 ff.

[14] Henry David Thoreau, Walden & Civil Disobedience, The Variorum Editions, New York 1967.

[15] Henry David Thoreau, Civil Disobedience, in: Bedau (Hrsg.), Civil Disobedience: Theory and Practice, New York 1969, S. 35: «(…) if it [the injustice] is of such a nature that it requires you to be the agent of injustice to another, then, I say, break the law».

[16] Mohandas Karamchand Gandhi, The Collected Works of Mahatma Gandhi. Volumes 1 to 98, Delhi 1958, Vol. 20, S. 41.

[17] Für eine ausführliche Darstellung des Beitrages von Gandhi zur Geschichte des zivilen Ungehorsams siehe Alexander Livingston, Fidelity to Truth: Gandhi and the Genealogy of Civil Disobedience, Political Theory, 46(4)/2018, S. 511 ff.

[18] Gandhi (Fn. 16), Vol. 20, S. 41; Gandhi (Fn. 16), Vol. 24 (Young India 4.8.1921), S. 46.

[19] Für eine ausführliche Darstellung des Beitrages von King zur Geschichte des zivilen Ungehorsams siehe Erin R. Pineda, Martin Luther King, Jr. and the Politics of Disobedient Civility, in: Scheuerman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Civil Disobedience, Cambridge University Press 2021, S. 56 ff.

[20] Martin Luther King Jr., A Testament of Hope: The Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr., 6. Aufl. San Francisco 1994, S. 483 ff.

[21] Martin Luther King Jr., Letter from Birmingham City Jail, in: Bedau (Hrsg.), Civil Disobedience: Theory and Practice, New York 1969, S. 75.

[22] Siehe umfassende Übersicht bei Thomas Laker, Ziviler Ungehorsam: Geschichte - Begriff - Rechtfertigung, Diss. Göttingen 1986, S. 138 ff.

[23] Hugo A. Bedau, On Civil Disobedience, The Journal of Philosophy 58(21)/1961, S. 653 ff.

[24] John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 401.

[25] Rawls (Fn. 24), S. 403.

[26] John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge 1971, S. 366.

[27] Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1983, S. 35 und 39. Mit anderen Worten: Ziviler Ungehorsam diene dazu, «not to replace the system but to improve it» (Carl Cohen, Civil Disobedience: Conscience, Tactics, and the Law, Columbia University Press 1971, S. 48).

[28] Den gewaltsamen und revolutionären Widerstand in einer Diktatur vor Augen wurde die Aufnahme eines Begriffselements «Systemimmanenz» insbesondere in der deutschen Debatte in den 80er- und 90er-Jahren befürwortet, um zivilen Ungehorsam vom Widerstandsrecht in einer Diktatur abzugrenzen (vgl. Laker [Fn. 22], S. 116 f.).

[29] Eingehend dazu William E. Scheuerman, Civil Disobedience, Cambridge 2018, S. 101 ff.; vgl. auch Nancy Fraser, Transnationalizing the Public Sphere. On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Post-Westphalian World, Theory, Culture & Society 24(4)/2007, S. 7 ff.

[30] Vgl. Howard Zinn, Disobedience and Democracy. Nine Fallacies on Law and Order, Chicago 1968; Hannah Arendt, Civil Disobedience, in: Arendt (Hrsg.), Crisis of the Republic, New York 1972, S. 50 ff.; Celikates (Fn. 11); Alex Demirović, Eine Frage der Reife. Überlegungen zum Verhältnis von Ungehorsam und Demokratie, in: Burschel/Kahrs/Steinert (Hrsg.), Ungehorsam! Disobedience! Theorie & Praxis kollektiver Rechtsverstösse, Berlin 2014, S. 13 ff.; Thomas Seibert, Dissens statt Konsens. Demokratie als konstituierender Prozess, in: Burschel/Kahrs/Steinert (Hrsg.), Ungehorsam! Disobedience! Theorie & Praxis kollektiver Rechtsverstösse, Berlin 2014, S. 31 ff.

[31] Vgl. David Graeber, The New Anarchists, New Left Review 13/2002, S. 61 ff. (zit. Graeber, Anarchist); Graeber, Direct Action: An Ethnography, Oakland 2009; Graeber, Inside Occupy, Frankfurt a. M. 2012. Einen ausführlichen Vergleich von zivilem Ungehorsam und Anarchismus bietet James D. Ingram, Anarchism: Provincializing Civil Disobedience, in: Scheuerman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Civil Disobedience, Cambridge University Press 2021, S. 178 ff.

[32] Vorliegend wird also mit einem relativ weit gefassten Begriff von Gesetzeswidrigkeit gearbeitet, demzufolge analog zur «Parallelwertung in der Laiensphäre» ein natürliches Verständnis von der normativen Wertung der Protesthandlung genügt. Mit anderen Worten: Damit es sich um zivilen Ungehorsam handeln kann, müssen die Protestierenden nicht nur eine Gesetzeswidrigkeit begründen wollen, sondern ihr Protesthandeln muss für die Öffentlichkeit prima vista als gesetzeswidrig erscheinen, ohne dass es dafür einer umfassenden juristischen Subsumtion bedarf.

[33] Theresa Züger, Reload Disobedience: Ziviler Ungehorsam im Zeitalter digitaler Medien, Diss. Berlin 2017, S. 250; ebenso Neubauer (Fn. 13), S. 67, wonach eine «mutmassliche Illegalität» ausreicht; vgl. auch Ralf Dreier, Rechtsgehorsam und Widerstandsrecht, in: Broda et al. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum 60. Geburtstag, 1985 Darmstadt, S. 307 und 309, der von einer «prima facie-Illegalität» spricht.

[34] Vgl. Züger (Fn. 33), S. 249 f. mit Beispielen zu Fällen von digitalem Ungehorsam.

[35] Laker (Fn. 22), S. 164 f.; Rawls (Fn. 24), S. 401.

[36] Vgl. Rawls (Fn. 26), S. 365; Arendt (Fn. 30), S. 61; Habermas (Fn. 27), S. 35.

[37] Ralf Dreier, Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, in: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1983, S. 63.

[38] Laker (Fn. 22), S. 170.

[39] Habermas (Fn. 27), S. 39.

[40] Vgl. Rawls (Fn. 26), S. 365; Dreier (Fn. 37), S. 63.

[41] Rawls (Fn. 26), S. 364.

[42] Vgl. Kleger (Fn. 11), S. 214: «verallgemeinerbare Interessen»; Neubauer (Fn. 13), S. 68: «Werte von Demokratie und Menschenrechte».

[43] Vgl. Bernd Ladwig, Ziviler Ungehorsam und Widerstand: Begriffe und Begründungen politischer Regelverletzungen im demokratischen Rechtsstaat, in: Schweikrad/Mooren/Siep (Hrsg.), Ein Recht auf Widerstand gegen den Staat, Tübingen 2018, S. 10.

[44] Vgl. Laker (Fn. 22), S. 170; Ladwig (Fn. 43), S. 10; Dreier (Fn. 37), S. 63, spricht von «Mindeststandards rationaler Rechtfertigungsfähigkeit»; Andreas Kalyvas, Democracy and the Politics of the Extraordinary: Max Weber, Carl Schmitt, and Hannah Arendt, Cambridge University Press 2008, S. 289 f.: «generalizability of the demands».

[45] Züger (Fn. 33), S. 255; vgl. auch Neubauer (Fn. 13), S. 68; Kimberley Brownlee, Conscience and Conviction: The Case for Civil Disobedience, Oxford University Press 2012, S. 43 f.

[46] Siehe dazu Anne Kühler, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Diss. Bern 2010, S. 190 ff., die sich in ihren Ausführungen zur Definition des Gewissensbegriffs ebenfalls gegen einen substantialen Ansatz ausspricht und vielmehr die Vermittlungsfähigkeit der Gewissensforderung ins Zentrum rückt.

[47] Kimberley Brownlee / Candice Delmas, Civil Disobedience, Stanford Encyclopedia of Philosophy 2007.

[48] Bedau (Fn. 23), S. 655; Rawls (Fn. 26), S. 366.

[49] Rawls (Fn. 26), S. 366.

[50] Kleger (Fn. 11), S. 174.

[51] Laker (Fn. 22), S. 172; vgl. auch Scheuerman (Fn. 29), S. 118.

[52] Züger (Fn. 33), S. 322.

[53] Brownlee (Fn. 45), S. 262; Kleger (Fn. 11), S. 198; Laker (Fn. 22), S. 172.

[54] William Smith, Civil Disobedience and Deliberative Democracy, London 2013, S. 32.

[55] Wie das nachfolgende Beispiel von Gandhi zeigt, bedeutet dieser Fokus von zivil Ungehorsamen auf einen verändernden Umstand nicht, dass dieser Umstand nicht zugleich als ein Veränderungselement einer weitergehenden systemischen Veränderungsarchitektur verstanden wird.

[56] Michael Walzer, Obligations. Essays on Disobedience, War, and Citizenship, Harvard 1970, S. 11 f.

[57] Walzer (Fn. 56), S. 11.

[58] Leslie Green, Globalization, Disobedience, and the Rule of Law, The New Republic 2001, S. 3 f.

[59] Hourya Bentouhami, Civil Disobedience from Thoreau to Transnational Mobilizations: The Global Challenge, Essays in Philosophy 8(2)/2007, S. 262.

[60] Vgl. Smith (Fn. 54), S. 54: «Civil disobedience (...) is (…) an agent for change and innovation.»

[61] Vgl. Alexander Livingston, Power for the Powerless: Martin Luther King, Jr.'s Late Theory of Civil Disobedience, The Journal of Politics 82(2)/2020, S. 700 ff.

[62] King (Fn. 21), S. 75.

[63] Celikates (Fn. 3), S. 219.

[64] Vgl. Brownlee (Fn. 45), S. 20.

[65] Für Brownlee (Fn. 45), S. 22, liegt der wahre Gehalt der Zivilität nicht im Erfordernis absoluter Gewaltfreiheit, sondern in einem respektvollen Umgang mit der Gegenseite: «civility contrasts with depravity, barbarity, disrespect, and rudeness, not with violence».

[66] Gewaltfreiheit ist oftmals «[a] tactical, not a principled, matter» (Hugo Adam Bedau, Civil Disobedience in Focus, London 1991, S. 8).

[67] Vgl. Christian Volk, Ziviler Ungehorsam in modernen Demokratien, sub\urban 2(2)/2014, S. 140; Barbara Deming, Revolution and Equilibrium, in: Meyerding (Hrsg.), We Are All Part of One Another: The Barbara Deming Reader, Baltimore 1984, S. 178, spricht von «one hand that moves and one hand that calms the opposition».

[68] Anstatt vieler vgl. Rawls (Fn. 26), S. 366.

[69] In diesem Sinne auch die deutsche Rechtsprechung im Urteil des Bundesgerichtshofs 23, 46 ff. vom 8. August 1969, später konkretisiert im Urteil des Bundesverfassungsgerichts 92, 1 ff. vom 10. Januar 1995.

[70] Dreier (Fn. 37), S. 62.

[71] Vgl. Robin Celikates, Rethinking Civil Disobedience as a Practice of Contestation - Beyond the Liberal Paradigm, Constellations 23(1)/2016, S. 43; Guy Aitchison, Domination and Disobedience: Protest, Coercion and the Limits of an Appeal to Justice, Perspectives on Politics 16(3)/2018, S. 668.

[72] Siehe auch die Unterscheidung von friedlichen Aktionen und auf Gewalt und Vandalismus gerichtete Kundgebung in BGE 147 I 372 E. 4.4.1.

[73] Laker (Fn. 22), S. 181 f.; ebenso Kleger (Fn. 11), S. 203 ff.

[74] Art. 11 Abs. 1 EMRK (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 [EMRK; SR 0.101]), Art. 21 UNO-Pakt II (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 [UNO-Pakt II; SR 0.103.2]) und gestützt auf die Rechtsprechung implizit auch Art. 22 BV (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV; SR 101]) garantieren das Recht, sich friedlich mit anderen Menschen zu versammeln (vgl. BGE 100 Ia 392 E. 4c; BGE 127 I 164 E. 3a.).

[75] Maya Hertig, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015, Art. 22 N 8 (zit. BSK BV-Hertig).

[77] Christoph Errass, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Bundesverfassung, 3. Aufl., Zürich 2014, Art. 22 N 20 (zit. SGK BV-Errass). Selbst Blockadeaktionen sind als friedlich einzustufen, wenn sie passiv und gewaltlos sind (BSK BV-Hertig, Art. 22 N 9; vgl. auch BGE 134 IV 216 E. 5.2.2).

[78] Jörg Paul Müller / Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl., Bern 2008, S. 548 f.; m.w.H. auf die Rechtsprechung des EGMR vgl. BSK BV-Hertig, Art. 22 N 8.

[79] Ladwig (Fn. 43), S. 12 f.; vgl. auch Celikates (Fn. 71), S. 39.

[80] Graeber, Anarchists (Fn. 31), S. 62.

[81] King (Fn. 20), S. 47; weiter dazu vgl. David Lyons, Moral Judgment, Historical Reality, and Civil Disobedience, Philosophy and Public Affairs 27(1)/1998, S. 42 ff.

[82] Gemäss Lyons (Fn. 81), S. 33 und 40, erzeugt die Annahme einer grundsätzlichen Systemtreue «a false picture of historically significant resistance (...) Thoreau, Gandhi, and King believed with good reason that their systems required fundamental change».

[83] Laker (Fn. 22), S. 184.

[84] Gandhi (Fn. 16), Vol. 24 (Young India 4.8.1921), S. 46: «Our triumph consists in thousands being led to the prisons like lambs to the slaughter-house. (...) Our triumph consists again in being imprisoned for no wrong whatsoever.»

[85] Dreier (Fn. 37), S. 61 f.; Brownlee/Delmas (Fn. 47): «admit responsibility but deny criminal liability».

[86] Für Brownlee (Fn. 45), S. 37 ff., bedeutet Folgenverantwortung lediglich «willingness to explain oneself».

[87] Vgl. Zinn (Fn. 30), S. 121; Laker (Fn. 22), S. 185 f.; Celikates (Fn. 3), S. 215 f.

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