I. Einleitung
Im vergangenen Jahrzehnt hat die Schweiz den Entzug des Bürgerrechts als verwaltungsrechtliche Massnahme zur Terrorismusbekämpfung wiederentdeckt. Nun haben sich erstmals das Bundesverwaltungsgericht (BVGer)[1] und das Bundesgericht (BGer)[2] mit der Frage befasst, ob einer Person gestützt auf Art. 42 des Bürgerrechtsgesetzes (BüG)[3] resp. Art. 48 des alten Bürgerrechtsgesetzes (aBüG)[4] das Schweizer Bürgerrecht entzogen werden kann. Die Gerichte gehen in ihren Urteilen auf die Voraussetzungen für eine Ausbürgerung[5] ein und kommen zum Schluss, dass diese im fraglichen Fall rechtmässig erfolgte. Die beiden auf Italienisch verfassten Urteile, die bisher in der öffentlichen Debatte kaum Aufmerksamkeit erhalten haben, bieten Anlass zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Schweizer Praxis beim Entzug des Bürgerrechts.[6]
Der Beitrag diskutiert zunächst die Entwicklung des Instruments des Entzugs des Bürgerrechts im Schweizer Recht (Rz. 3 ff.), bevor er auf den Sachverhalt (Rz. 10 f.) und die Urteile des Bundesverwaltungs- und des Bundesgerichts (Rz. 19 ff.) eingeht und diese kritisch beleuchtet (Rz. 21 ff.).
II. Die Ausbürgerung im Schweizer Bürgerrecht
Die Idee, dass man jemandem das Bürgerrecht entziehen konnte, galt lange als unzivilisiert.[7] In der Schweiz hatte der Grundsatz der Unverlierbarkeit das Bürgerrecht geprägt.[8] Der Verlust des Bürgerrechts war rechtlich nicht vorgesehen.[9] Die Möglichkeit des Entzugs wurde erst im Zweiten Weltkrieg vom Bundesrat per Vollmachtenbeschluss überhaupt eingeführt.[10] Nach dem Krieg wurde mit Art. 48 aBüG eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen.[11] Diese kam jedoch über Jahrzehnte nie zur Anwendung.[12]
Trotz der fehlenden praktischen Relevanz wollte der Gesetzgeber die Möglichkeit des Entzugs bei der Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 2014 als ultima ratio beibehalten.[13] So wurde Art. 48 aBüG unverändert übernommen.[14] Art. 42 des neuen BüG besagt nun, dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit Zustimmung der Behörde des Heimatkantons einer Doppelbürgerin oder einem Doppelbürger das Schweizer, Kantons- und Gemeindebürgerrecht entziehen kann, wenn ihr oder sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig ist.
Erst nach Annahme des totalrevidierten BüG im Juni 2014 kam eine Diskussion auf, ob der Entzug des Bürgerrechts im Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen möglich sein sollte.[15] Im Zentrum standen dabei mögliche terroristische Gefährder und sog. «foreign fighters», die sich im Ausland einer terroristischen Organisation anschliessen.[16] Nachdem ein Gutachten die Verfassungsmässigkeit von Art. 42 BüG als genügende Grundlage für den Entzug des Bürgerrechts anzweifelte, entschied sich der Bundesrat die Voraussetzungen für die Ausbürgerung auf Verordnungsstufe weiter zu konkretisieren.[17]
Art. 30 Abs. 1 Bürgerrechtsverordnung (BüV)[18] legt nun fest, dass eine Person die Interessen oder das Ansehen der Schweiz in erheblicher Weise beeinträchtigt, wenn sie:
- ein Verbrechen oder Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung gemäss dem Dreizehnten Titel des Strafgesetzbuches[19] begeht, d.h. einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft (Art. 266 StGB), gegen die Sicherheit der Schweiz gerichtete ausländische Unternehmungen und Bestrebungen (Art. 266 bis StGB), verbotenen Nachrichtendienst (Art. 272-274 StGB) oder eine Gefährdung der verfassungsmässigen Ordnung (Art. 275, Art. 275bis und Art. 275ter StGB);
- ein schweres Verbrechen im Rahmen von terroristischen Aktivitäten, gewalttätigem Extremismus oder der organisierten Kriminalität begeht;
- Völkermord, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine schwere Verletzung der Genfer Konventionen oder ein anderes Kriegsverbrechen begeht; oder
- die guten Beziehungen der Schweiz zu einem fremden Staat dauerhaft durch die Beleidigung dieses Staates gefährdet.
Die Auflistung ist abschliessend. Andere Taten dürfen nicht zum Entzug des Bürgerrechts führen.[20] Vorausgesetzt wird ausserdem eine rechtskräftige Verurteilung (Art. 30 Abs. 2 BüV). Davon kann nur abgewichen werden, wenn eine strafrechtliche Verfolgung in einem konkreten Fall aussichtslos wäre, weil der Staat, in dem die fraglichen Taten begangen wurden, zur Strafverfolgung nicht willens oder nicht in der Lage ist, namentlich weil das unabhängige Justizsystem in seiner Gesamtheit oder zu einem erheblichen Teil nicht funktionsfähig ist (Art. 30 Abs. 2 Satz 2 BüV).[21]
Die Hürden für einen Entzug des Bürgerrechts sind sehr hoch anzusetzen.[22] Zuständig ist das SEM. Dieses begann sich ab dem Jahr 2015 verstärkt für die Möglichkeit des Entzugs des Bürgerrechts zu interessieren. In einigen Dutzend Fällen hat das SEM den Entzug zumindest geprüft, in einer Hand voll Fällen auch tatsächlich verfügt[23] und in bisher zwei Fällen ist die Ausbürgerung rechtskräftig geworden[24] - darunter auch im Fall, der nachfolgend genauer beleuchtet werden soll.
Mit dieser neuen Ausbürgerungspraxis reiht sich die Schweiz ein in eine grösser werdende Gruppe von Staaten, die aus Gründen nationaler Sicherheit (wieder) auf das Instrument des Entzugs des Bürgerrechts zurückgreifen.[25]
III. Ein Anhänger des radikalen Islams: Der Fall U.Y.
Im vorliegend zur Diskussion stehenden Fall ging es um U.Y., der als Kind mit seinen Eltern als Flüchtling aus der Türkei in die Schweiz gekommen war und 2008 eingebürgert wurde.[26] 2017 wurde U.Y. vom Bundesstrafgericht wegen eines Verstosses gegen das Al-Qaïda/IS-Gesetz[27] zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, wovon sechs Monate unbedingt.[28] Er wurde beschuldigt verschiedene Aktionen zur Unterstützung von Jabhat Al-Nusra[29] organisiert zu haben. Er soll Propagandaaktionen durchgeführt und zwei Personen geholfen haben, über die Türkei in das syrisch-irakische Grenzgebiet zu reisen, um dort für den sog. «Islamischen Staat» zu kämpfen.[30]
Nach Beendigung der Freiheitsstrafe verfügte das SEM 2019 den Entzug des Bürgerrechts.[31] Es begründete den Entzug damit, dass der Mann an terroristischen Aktivitäten teilgenommen und eine wichtige Rolle als Indoktrinator und Vermittler bei der Al-Nusra-Front übernommen habe, weshalb er die Beziehungen der Schweiz zu anderen Staaten ernsthaft gefährde.
IV. Schwere terroristische Taten, die Interessen der Schweiz und eine gesetzlich vorgesehene Massnahme: Die Urteile von Bundesverwaltungsgericht und Bundesgericht
1. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
In seinem Urteil vom Mai 2021 befasste sich das Bundesverwaltungsgericht hauptsächlich mit der Frage, ob der Beschwerdeführer dem Ansehen und den Interessen der Schweiz ernsthaften Schaden zugefügt hatte. Zunächst wies es die Rüge einer indirekten Diskriminierung als unbegründet zurück.[32] Es sei nicht diskriminierend, dass nur Personen mit Doppelbürgerrecht vom Entzug betroffen sein können, da die Behörden verpflichtet seien, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Es ergebe sich insofern schon aus der ratio legis von Art. 48 aBüG, dass ein Entzug nur bei Personen mit einer zweiten Staatsangehörigkeit in Frage komme (E. 7). Daher könne keine Diskriminierung vorliegen.
Als nächstes prüfte das Gericht, ob das Verhalten des Beschwerdeführers den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig war (E. 9 ff.). Diese Interessen bestünden in der Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz, der Verteidigung ihrer Souveränität, ihrem Ansehen und ihrem guten Ruf in der internationalen Gesellschaft sowie ihrer Neutralität (E. 9.4.1 f.). Die Aktivitäten von U.Y. liefen auf eine Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation hinaus (E. 15.1). Dabei sei nicht relevant, ob das Bundesstrafgericht die Taten des Mannes als schweres Verbrechen qualifiziert habe: Einerseits sei der Deliktskatalog von Art. 30 Abs. 1 lit. b BüV formell gar nicht auf den Fall anwendbar, da dieser noch nach altem Recht zu beurteilen sei (E. 15.2). Andererseits beziehe sich das Kriterium des «schweren Verbrechens» i.S.v. Art. 30 Abs. 1 lit. b BüV nicht auf das Verhalten der Person, sondern auf die Schwere des Schadens, den die betroffene Person den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz zufüge (E. 15.2).
Die Tatbestandsvoraussetzungen für den Entzug des Bürgerrechts müssten rein aus Perspektive des Verwaltungs- und des Bürgerrechts beurteilt werden (E. 15.2). Dabei bestünde kein Zweifel, dass U.Y. mit seinen Handlungen die Souveränität und Neutralität der Schweiz untergraben und das staatliche Gewaltmonopol in der Schweiz, Italien und der Türkei in Frage gestellt habe (E. 15.3.2). Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bereit wäre in der Schweiz oder in einem anderen europäischen Land terroristische Handlungen zu begehen (E. 15.3.2). Dadurch allein werde dem diplomatischen Ansehen der Schweiz dauerhaften und schweren Schaden zugefügt (E. 15.3.2). Daher habe das SEM ihm das Bürgerrecht zu Recht entzogen (E. 15.5).
Weiter prüfte das Gericht eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips und des Rechts auf Privatleben gemäss Art. 8 EMRK[33] (E. 17 ff.). Dazu stellte es das öffentliche Interesse der Schweiz am Schutz ihrer Interessen, konkret am Schutz der Gesellschaft und des Staates vor Terrorismus, den Interessen des Beschwerdeführers am Beibehalt des Bürgerrechts gegenüber (E. 16). Das BVGer sah den Entzug des Bürgerrechts als geeignet an, die Interessen und das Ansehen der Schweiz zu schützen, da die Massnahme vom Gesetzgeber ausdrücklich dafür vorgesehen sei. Die Ausbürgerung habe in diesem Sinne eine indirekte Wiedergutmachungsfunktion für die schwerwiegende Beeinträchtigung der Interessen der Schweiz und bestenfalls eine abschreckende Wirkung (E. 17.2). U.Y. werde «wieder» zum Ausländer (E. 17.2). Der Entzug sei auch erforderlich, da es keine milderen Massnahmen gäbe und die Staatsangehörigkeit nur ganz oder gar nicht entzogen werden könne (E. 17.2).
Das öffentliche Interesse würde auch die Interessen des Beschwerdeführers überwiegen. U.Y. habe das Vertrauen verraten, das die Schweizer Behörden in ihn gesetzt hätten. Deshalb sei er nicht mehr würdig, das Schweizer Bürgerrecht zu geniessen, geschweige denn politische Rechte auszuüben (E. 17.2). Folglich sei die Verhältnismässigkeit gegeben (E. 17.3).
Schliesslich ging das Bundesverwaltungsgericht auf die Rüge ein, dass der Entzug das Recht auf Privatleben gemäss Art. 8 EMRK verletze, und verneinte dies mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR[34]. Das Entzugsverfahren sei nicht willkürlich gewesen sei (E. 19.2), habe den Beschwerdeführer nicht staatenlos werden lassen und auch nicht automatisch dazu geführt, dass er aus der Schweiz weggewiesen und mit einem Einreiseverbot belegt werde (E. 20.2). Der harte Kern der mit dem Bürgerrecht verbundenen Rechte - die politischen Rechte - werde durch Art. 8 EMRK nicht geschützt. Selbst wenn die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Schweiz durch den Entzug des Bürgerrechts gefährdet und er eines Elements seiner Identität beraubt werde, sei die Massnahme zur Wahrung der nationalen Sicherheit der Schweiz notwendig und daher gemessen an seinen Taten verhältnismässig (E. 20.2). Dies müsse umso mehr gelten, als dass der Beschwerdeführer selbst durch die Unterstützung des Terrorismus das Vertrauensverhältnis, die Loyalität und die Solidarität gegenüber der Schweiz in Frage gestellt und von sich aus die besondere Verbindung, die eine Staatsangehörigkeit darstelle, unwiederbringlich zerrissen habe (E. 20.2).
Die angefochtene Verfügung des SEM, kommt das Gericht zum Schluss, verletze daher weder Bundesrecht noch die EMRK (E. 21).
2. Das Urteil des Bundesgerichts
Das Bundesgericht erinnerte in seinem Urteil über die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts zunächst daran, dass ein Entzug des Schweizer Bürgerrechts nur unter sehr restriktiven Bedingungen zulässig sei. Nur bestimmte Straftaten, die die Interessen der Schweiz konkret und schwer beeinträchtigen, könnten eine solch weitreichende Massnahme rechtfertigen (E. 6.2). Auch das BGer war der Ansicht, dass dabei nicht entscheidend sei, ob sich der Beschwerdeführer selbst an Gewalttaten beteiligt habe. Es genüge, dass er den bewaffneten Dschihad unterstützt und aktiv Propagandaaktionen durchgeführt habe. So habe er eine Gruppe gefördert, die eine Bedrohung für die Sicherheit der Schweiz und der internationalen Gemeinschaft darstelle, und das Risiko möglicher terroristischer Anschläge erhöht. Dies sei eine ernsthafte Gefahr für die Interessen der Schweiz, und insbesondere für ihre Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten, die bereits von schweren Terroranschlägen getroffen wurden und sich ebenfalls für die Bekämpfung des Terrorismus einsetzten (E. 6.4). Die Voraussetzungen für einen Entzug gemäss Art. 48 aBüG seien daher erfüllt (E. 6.2).
Der Entzug des Bürgerrechts sei weiter verhältnismässig. Das BGer lehnte sich an die Argumentation des BVGers an und machte geltend, dass die Ausbürgerung unabhängig von der Frage der Verhältnismässigkeit anzuwenden sei, da sie als Massnahme im Bundesrecht ausdrücklich vorgesehen und deshalb nach Art. 190 BV[35] für das Bundesgericht und die Bundesbehörden massgeblich ist (E. 7.2). Dem Argument, dass der Entzug weder geeignet noch erforderlich sei um terroristische Handlungen zu verhindern, folgte das Gericht nicht, da sich die Massnahme gegen Personen richte, die noch über eine zweite Staatsangehörigkeit besitzen und mit ihrem Verhalten den Interessen und dem guten Ruf der Schweiz schweren Schaden zugefügt haben. Die Massnahme des Entzugs des Bürgerrechts diene insofern nicht in erster Linie der Prävention künftiger Straftaten, sondern dem Schutz der Neutralität und Souveränität der Schweiz (E. 7.2). Ausserdem stehe die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers einer Verwaltungsmassnahme in Form des Entzugs des Bürgerrechts nicht entgegen. Weiter werde der Beschwerdeführer durch den Entzug weder staatenlos, noch sei sein weiterer Aufenthalt in der Schweiz Gegenstand dieses Verfahrens (E. 7.2). Damit wies auch das Bundesgericht die Beschwerde von U.Y. ab.
V. Diskriminierungsfrei und verhältnismässig? Eine Einordnung ausgewählter Aspekte
Die beiden Urteile bieten Gelegenheit für eine kritische Auseinandersetzung mit der neuen Ausbürgerungspraxis der Schweiz, wobei vorliegend auf zwei Punkte fokussiert werden soll: die mögliche Verletzung des Diskriminierungsverbots (Rz. 22 ff.) und des Verhältnismässigkeitsprinzips (Rz. 25 ff.).
1. Diskriminierende Ungleichbehandlung von Personen mit Doppelbürgerrecht?
Die Rüge einer Verletzung des Diskriminierungsverbots wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem Argument ab, dass die Ungleichbehandlung von Personen mit und ohne Doppelbürgerrecht[36] gesetzlich vorgesehen und notwendig sei, um Staatenlosigkeit zu vermeiden, ohne eine Verletzung von Art. 8 Abs. 2 BV systematisch zu prüfen.
In der Schweiz hat jede:r vierte Bürger:in eine zweite Staatsangehörigkeit. 65% haben ihr Doppelbürgerrecht durch Einbürgerung erhalten.[37] Alternativ entsteht Doppelbürgerrecht durch Geburt bei binationalen Eltern. In der Schweiz haben also in erster Linie Personen mit Migrationsgeschichte mehr als eine Staatsangehörigkeit.[38] In dieser Gruppe sind ethnische und religiöse Minderheiten klar übervertreten. So sind etwa eingebürgerte Doppelbürger:innen sehr viel häufiger muslimischen Glaubens.[39] Der Fall von U.Y., der als Kind von Flüchtlingen aus der Türkei in der Schweiz eingebürgert wurde, ist hier exemplarisch.[40] Folglich trifft die Voraussetzung der zweiten Staatsangehörigkeit beim Entzug des Bürgerrechts überwiegend Personen ausländischer Herkunft und nicht-christlicher Religion.[41]
Eine solche indirekte Ungleichbehandlung anhand der diskriminierungsrelevanten Kriterien der Herkunft oder der Religion bedarf gemäss Art. 8 Abs. 2 BV qualifizierter Rechtfertigungsgründe.[42] Sie ist nur zulässig, wenn sie ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse verfolgt und gesamthaft geeignet, erforderlich und verhältnismässig ist, um dieses zu erreichen.[43] Das vom BVGer vorgebrachte Argument der Vermeidung von Staatenlosigkeit reicht als Rechtfertigung nicht: Einerseits, weil dies gar nicht das Ziel der Ausbürgerung ist, und andererseits, weil die Wahrung einer völkerrechtlichen Pflicht keine qualifizierte Rechtfertigung für eine völkerrechtlich ebenfalls verpönte Ungleichbehandlung schaffen kann.[44] Ausserdem dürfen diskriminierungsträchtige Ungleichbehandlungen laut Bundesgericht nicht einfach an das Unterscheidungsmerkmal anknüpfen, das die diskriminierte Gruppe gerade definiert.[45] Genau dies tut das Bundesverwaltungsgericht jedoch, wenn es auf die drohende Staatenlosigkeit verweist. Dieses Dilemma kann nur aufgelöst werden und der Entzug des Bürgerrechts nur zulässig sein, wenn sowohl die Pflicht zur Vermeidung der Staatenlosigkeit als auch das Diskriminierungsverbot respektiert werden.[46] Das heisst, dass im Zweifelsfall auf den Entzug zu verzichten ist.
2. Verhältnismässigkeit des Entzugs des Bürgerrechts
Auch die Prüfung der Verhältnismässigkeit des Entzugs des Bürgerrechts im Falle von U.Y. weist nach der hier vertretenen Ansicht nicht die notwendige Tiefe auf. Zunächst fällt auf, dass sich keines der Urteile mit der Frage befasst, ob der alte, hier anwendbare Art. 48 aBüG alleine aber auch Art. 42 BüG i.V.m. Art. 30 BüV eine hinreichend klare und bestimmte gesetzliche Grundlage i.S.v. Art. 36 Abs. 1 BV für einen so schweren Eingriff in geschützte Rechtspositionen darstellt.[47] Die Gerichte scheinen dies implizit zu bejahen und schreiten direkt zur Prüfung der Verhältnismässigkeit. Dabei fokussieren sie über weite Strecken auf die berührten öffentlichen Interessen und die Verwerflichkeit der Handlungen des Beschwerdeführers, ohne die Massnahme vertieft auf ihre Eignung und Erforderlichkeit zu prüfen und den Konsequenzen für U.Y. gegenüberzustellen.
a) Eignung
Die Verhältnismässigkeit einer Massnahme setzt voraus, dass diese geeignet ist, das angestrebte öffentliche Interesse zu realisieren. Das Bundesverwaltungsgericht argumentiert, dass die Eignung des Entzugs gegeben sei, weil das Gesetz den Eingriff vorsehe.[48] Dem kann nicht gefolgt werden. Dass eine behördliche Massnahme durch ein Gesetz vorgesehen ist, schafft eine gesetzliche Grundlage; das bedeutet jedoch nicht, dass sie auch geeignet ist. Bei einer solchen Schlussfolgerung wird die Frage der Eignung mit jener nach der gesetzlichen Grundlage verwechselt.
Unbestritten ist, dass die Ausbürgerung das Ziel verfolgt, die innere Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten und ihren guten Ruf zu wahren.[49] Entgegen der Argumentation der Gerichte muss jedoch bezweifelt werden, ob die Ausbürgerung wirklich geeignet ist, diese Ziele zu erreichen.[50] Studien zeigen, dass der Entzug des Bürgerrechts nicht zu mehr Sicherheit führt.[51] Einerseits hindert die Ausbürgerung eine potentiell gefährliche Person in keiner Weise daran, terroristische Taten zu begehen. Es kann im Gegenteil dazu führen, dass sie sich noch weiter radikalisiert.[52] Ausserdem wird durch den Entzug des Bürgerrechts die Strafverfolgung in der Schweiz erschwert.[53] Dies verletzt den Grundsatz der internationalen Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung.[54]
Auch ist fraglich, wie der Entzug des Bürgerrechts zur Wahrung der inneren Sicherheit beitragen soll, wenn die Person nicht gleichzeitig aus der Schweiz weggewiesen wird.[55] In der Praxis dürfte dem Entzug des Bürgerrechts jedenfalls in der Regel die Wegweisung bzw. ein Einreiseverbot folgen.[56] Eine Ausbürgerung mit dem Ziel der Wegweisung ist jedoch völkerrechtlich verboten.[57] Dieses Dilemma kann nach der hier vertretenen Meinung nicht allein mit dem Hinweis aufgelöst werden, dass die Wegweisung bzw. das Einreiseverbot (noch) nicht ausgesprochen wurde, sondern bedürfte einer vertiefteren Abwägung.[58]
Und selbst wenn mit der Ausbürgerung auch andere Ziele verfolgt werden, stehen einer Wegweisung möglicherweise weitere völkerrechtliche Schranken entgegen, insbesondere das Refoulement-Verbot.[59] Darüber hinaus könnte der Vollzug der Wegweisung mit dem Recht auf Einreise in das eigene Land gemäss Art. 12 Abs. 4 UN-Pakt II[60] kollidieren.[61] Schliesslich ist der Vollzug der Wegweisung immer von der Kooperation des Aufnahmestaats abhängig, sei dies nun der andere Heimatstaat oder ein Drittstaat.[62] Diesen Schwierigkeiten scheinen sich auch die Gerichte bewusst zu sein, wenn sie darauf hinweisen, dass der Entzug des Bürgerrechts in casu nicht automatisch zur Wegweisung führt - ohne daraus jedoch weitere Schlüsse zu ziehen.[63]
Bezüglich des Ziels der Wahrung des guten Rufes und der Neutralität der Schweiz ist zu beachten, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, bei Entscheidungen über das Bürgerrecht die Interessen ihrer Nachbarstaaten zu berücksichtigen.[64] Insofern kann zumindest die Frage aufgeworfen werden, ob das Ansehen der Schweiz nicht eher dadurch geschwächt wird, dass sie im Sinne eines Wettlaufs ihre Staatsangehörigen schnell(er) ausbürgert und das Problem so dem anderen Heimatstaat oder der internationalen Gemeinschaft überlässt.[65] Auch dieser Punkt wird von den Gerichten nicht berücksichtigt.
b) Erforderlichkeit
Bei der Frage der Erforderlichkeit begnügt sich das BVGer mit der plakativen Feststellung, dass sich die Staatsangehörigkeit nur ganz oder gar nicht entziehen lasse, weshalb kein milderes Mittel gegeben sei - ohne darauf einzugehen, ob nicht andere Massnahmen ein milderes Mittel darstellen könnten.[66] Dies ist insbesondere problematisch, weil der Entzug des Bürgerrechts ja nur bei Personen mit Doppelbürgerrecht möglich ist, bei den anderen hingegen auf andere Massnahmen zurückgegriffen werden muss.[67] Ob diese Massnahmen nicht auch für Personen mit Doppelbürgerrecht ein milderes Mittel darstellen würden, wird von den Gerichten jedoch nicht beurteilt.
c) Verhältnismässigkeit i.e.S.
Schliesslich wäre auch eine vertieftere Auseinandersetzung mit der Frage der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne wünschenswert gewesen. Der Beschwerdeführer lebt seit dem Kindesalter in der Schweiz und hat hier seinen Lebensmittelpunkt. Das Bürgerrecht macht - gemäss Rechtsprechung des EGMR - einen wesentlichen Teil seiner sozialen Identität aus.[68] Der Entzug dieses Bürgerrechts hat weitreichende Folgen für die Ausübung der weiteren Grund- und Menschenrechte, die über den Verlust der politischen Rechte hinaus gehen.[69] U.Y. wird, wie das Bundesverwaltungsgericht selbst einräumt, zum «Ausländer» in dem Land, zu dem er die engsten Verbindungen hat.[70] Vor diesem Hintergrund ist aus einer Perspektive, die den menschenrechtlichen Gehalt der Staatsangehörigkeit anerkennt, fraglich ob der Entzug bei Personen der zweiten Ausländergeneration je verhältnismässig sein kann.[71]
Gleichzeitig ist die Schweiz auch das Land, in dem sich U.Y. radikalisiert hat. Dies wirft die Frage auf, ob die Schweiz (im Unterschied zur Türkei) eine gewisse Mitverantwortung für dessen Radikalisierung hat und daher ein geringeres Interesse an dessen Ausbürgerung geltend machen kann.
Auch dieser Aspekt wird in den Urteilen nicht beleuchtet. Stattdessen betonen die Gerichte lediglich die Schwere der Taten des Beschwerdeführers und die Wichtigkeit der Interessen der Schweiz.[72] Eine tatsächliche Interessensabwägung im Sinne der Verhältnismässigkeitsprüfung findet nicht statt. Damit verpassen es das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesgericht einen menschenrechtsbasierten Ansatz für den Entzugs des Bürgerrechts zu etablieren.[73]
VI. Fazit
Die beiden Urteile des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts sind die ersten, die sich mit den Voraussetzungen und der Rechtmässigkeit des Entzugs des Schweizer Bürgerrechts auseinandersetzen. Die Gerichte gewähren den Behörden - konkret dem SEM - dabei einen sehr grossen Ermessensspielraum und räumen rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Erwägungen nur wenig Gewicht ein. Insbesondere das Urteil des Bundesgerichts fällt angesichts der Komplexität der sich stellenden Rechtsfragen sehr kurz aus. Dies obwohl sich, wie vorliegend aufgezeigt, auf Grundlage des Diskriminierungsverbots wie auch des Verhältnismässigkeitsprinzips grundlegende Zweifel an der Rechtmässigkeit des Entzugs des Bürgerrechts ergeben. Aus menschenrechtlicher Sicht erscheint fraglich, ob der Entzug des Bürgerrechts bei einer in der Schweiz geborenen Person je verhältnismässig sein kann.[74] In jedem Fall müssten die Voraussetzungen für den Entzug des Bürgerrechts, was die Schwere der Anlasstat und die Gewichtung der einander gegenüberstehenden Interessen angeht, deutlich schwieriger sein, als dies vorliegend angenommen wurde.[75]
Darüber hinaus lässt sich anhand des Falles von U.Y. einmal mehr aufzeigen, wie sich im Bereich der terroristischen Gefährder verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Sanktionen zunehmend verschränken[76] und sich die Sanktionierung ins Verwaltungsrecht und insbesondere ins Migrationsrecht verschiebt - unter Aushebelung der strafrechtlichen Verfahrensrechte.[77] Diese Entwicklung ist aus rechtsstaatlicher Sicht äusserst bedenklich, droht sie doch, etablierte menschenrechtliche Garantien zu untergraben. Sie verstärkt längerfristig bestehende Ungleichheiten, die Marginalisierung bestimmter Minderheiten, namentlich von Migrant:innen und Menschen muslimischen Glaubens, und birgt die Gefahr, dass sich mehr Personen radikalisieren statt weniger.
Für Personen mit Doppelbürgerrecht droht mit der (Wieder)anwendung des Entzugs des Bürgerrechts nicht nur die Schaffung eines «Feindstrafrechts».[78] Es führt letztlich auch dazu, dass das Bürgerrecht seinen Charakter als bedingungsloser und rechtsgleicher Status verliert.[79] Personen mit Doppelbürgerrecht müssen damit rechnen, dass ihnen das Bürgerrecht jederzeit entzogen werden kann, wenn ihr Handeln als Verletzung der Interessen oder des Ansehens der Schweiz gesehen wird. Wenn das Bürgerrecht jedoch nicht mehr für alle die gleichen Rechte und den gleichen Schutz beinhaltet, dann gefährdet dies den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Funktionieren der Schweizer Demokratie.
Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen müsste die Schwelle für einen Entzug des Bürgerrechts wesentlich höher angesetzt werden, als dies das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesgericht in ihren Urteilen angenommen haben - wenn es denn überhaupt eine Konstellation geben kann, in dem ein Entzug des Bürgerrechts aus menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Sicht unproblematisch ist.