I. Präventiver Gewahrsam
Die Instrumente, mit welchen Personen präventiv in Gewahrsam genommen werden können, sind gegenwärtig einem raschen Wandel unterworfen. Erst 2022 ist der Mantelerlass des Bundes, «Polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus» (PMT), in Kraft getreten, der unter anderem eine «Eingrenzung auf eine Liegenschaft» vorsieht (Art. 23o f. BWIS[1]).[2] Und bereits hat das Parlament wieder über eine Verschärfung diskutiert - nämlich die «Gesicherte Unterbringung von staatsgefährdenden Personen».[3] Der Nationalrat hat der entsprechenden parlamentarischen Initiative zwar keine Folge gegeben. Allerdings werden die eidgenössischen Räte im Rahmen der Revision des Sanktionenvollzugs ebenfalls wieder darüber beraten, wie mit als gefährlich eingeschätzten Personen nach Ende einer ordentlichen Freiheitsstrafe umzugehen ist.[4]
Für den Erlass des PMT auf der Ebene des Bundes wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass diesem dafür die verfassungsmässige Kompetenz fehlt.[5] Grundsätzlich sind nämlich die Kantone für die präventive Gefahrenabwehr zuständig;[6] ihnen kommt die Polizeihoheit zu.[7] Dementsprechend sehen die Kantone in ihren Gesetzen regelmässig einen präventiv-polizeilichen Gewahrsam vor.[8] Dieser wird in der Regel in einer Zelle (allenfalls einer Spitalhaftzelle) vollzogen. Denkbar ist zudem die Einschliessung in einem Fahrzeug oder im Freien, verbunden mit einer Fesselung.[9] Es handelt sich dabei um eine für die betroffene Person sehr einschneidende polizeiliche Standardmassnahme.[10] Deshalb wird vorliegend aus grundrechtlicher Sicht exemplarisch der Polizeigewahrsam nach Zürcher Recht untersucht und beurteilt, welche Erkenntnisse aus dieser Analyse für die weiteren Entwicklungen auf Bundesebene relevant sein können.
II. Grundrechtliche Beurteilung
1. Potentiell anwendbare Grundrechte
Offensichtlich tangiert die Ingewahrsamnahme einer Person deren Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV[11]) und je nach Dauer, Art, Wirkung und Modalitäten der Freiheitsbeschränkung sind auch die besonderen Garantien des Freiheitsentzugs anwendbar (Art. 31 BV und Art. 5 EMRK[12]).[13] Als massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit stellt der Polizeigewahrsam in aller Regel einen solchen Freiheitsentzug dar.[14] Der Gewahrsam hat sodann regelmässig zur Folge, dass der Schutzbereich einer ganzen Reihe weiterer Grundrechte, etwa des Anspruchs auf Privatsphäre (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK), eröffnet ist.[15] In bestimmten Konstellationen kommen weitere grundrechtliche Ansprüche hinzu, wie zum Beispiel eine Demonstration mit unfriedlicher Nach-Demonstration, welche zu zahlreichen Ingewahrsamnahmen führt und damit die Ausübung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit (Art. 22 und16 BV sowie Art. 11 EMRK) vieler Personen beendet.[16] Schliesslich gilt selbstverständlich auch beim Polizeigewahrsam, dass der Staat sein Gewaltmonopol nur in rechtsgleicher (Art. 8 BV) und willkürfreier (Art. 9 BV) Art und Weise ausüben darf.[17]
Eine umfassende Analyse all dieser grundrechtlichen Ansprüche würde den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sprengen. Insbesondere deshalb, weil nicht nur klassische Freiheitsrechte zu beurteilen sind.[18] Entsprechend unterliegen nicht alle tangierten Garantien in gleicher Art und Weise der Schrankennorm von Art. 36 BV.[19] Allerdings lässt sich grundsätzlich für alle Grundrechte festhalten, dass eine staatliche Einschränkung nur unter Wahrung des Legalitäts- und Verhältnismässigkeitsprinzips zulässig ist.[20] Letzteres orientiert sich am Interesse, welches der Staat für die Grundrechtseinschränkung geltend macht.[21] Diese Interessen sind einzelfallabhängig.[22] In den hier interessierenden Konstellationen wird aber regelmässig der Schutz von Polizeigütern - die öffentliche Sicherheit und Ordnung - als Rechtfertigungsgrund zur Verfügung stehen.[23] Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich deswegen auf Überlegungen, welche sich unter das grundrechtliche Legalitäts- und Verhältnismässigkeitsprinzip fassen lassen.
2. Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen
a) Einschränkung
Vorweg gilt es, die Grundrechtseinschränkung, welche durch einen präventiven Gewahrsam erfolgt, zu charakterisieren. Aufgrund der erheblichen Einwirkung auf die Grundrechtsposition der Einzelnen ist der Polizeigewahrsam in aller Regel als schwerwiegende Einschränkung anzusehen.[24] Soweit dies Oppliger/Heimgartner im Kontext der Verhältnismässigkeit «angesichts der befristeten Dauer des Grundrechtseingriffs» relativieren,[25] ist ihnen zu widersprechen. Diese Haltung blendet den Haftschock aus. Damit ist gemeint, dass der abrupte Übergang aus dem Lebensalltag in staatlichen Gewahrsam regelmässig als psychisch enorm belastend - bis hin zur Suizidalität - erlebt wird.[26]
Aus grundrechtlicher Sicht nicht ausschlaggebend ist, ob die Ingewahrsamnahme als Verfügung oder (verfügungsvertretender) Realakt charakterisiert wird.[27] Grundrechtliche Ansprüche können auch durch faktisches staatliches Handeln verkürzt werden.[28]
b) Erfordernis der gesetzlichen Grundlage
Eine schwerwiegende Grundrechtseinschränkung erfordert eine gesetzliche Grundlage im formellen Sinn (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV).[29]
Neben der hinreichenden Normstufe ist auch eine genügende Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage erforderlich, was bei schwerwiegenden Einschränkungen strenger zu beurteilen ist.[30] Allerdings ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung das Bestimmtheitserfordernis im Polizeirecht herabgesetzt.[31] Diese Praxis ist auf Kritik in der Lehre gestossen.[32] Zwar ist eine herabgesetzte Normdichte mit verfahrensrechtlichen Absicherungen (etwa dem Vorbehalt gerichtlicher Prüfung) und einer strengeren Verhältnismässigkeitsprüfung ein Stück weit kompensierbar.[33] Zu Recht wird aber darauf hingewiesen, dass es sehr wohl möglich ist, die typischen Situationen der Polizeitätigkeit und die entsprechenden Zwangsmittel zu regeln. Ansonsten könnten keine Polizeigesetze und Dienstanweisungen erlassen werden.[34]
Zudem bindet dieses innerstaatliche Verständnis der Normbestimmtheit den EGMR nicht.[35] Er verlangt, dass eine Norm vorhersehbar ist, der Einzelne demnach die Bedingungen staatlichen Handelns und die Folgen seiner eigenen Tätigkeit abschätzen kann.[36] Diese - wegen des grundlegenden Urteils - sogenannte Sunday-Times-Rechtsprechung wurde zwar an den Art. 8-11 EMRK entwickelt,[37] sie lässt sich aber auf die übrigen Ansprüche übertragen und ist damit generell zu beachten.[38]
Insgesamt ist deshalb zu verlangen, dass ein Gesetz im formellen Sinn den präventiven Gewahrsam verankert und seine Voraussetzungen, das Verfahren der Anordnung und Verlängerung sowie der Entlassung hinreichend klar umschreibt.[39]
c) Wahrung der Verhältnismässigkeit
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit verlangt, dass eine staatliche Massnahme geeignet sowie erforderlich ist, um das Eingriffsinteresse zu erreichen, und der betroffenen Person die Einschränkung ihrer Grundrechte zugemutet werden kann.[40] Die Erforderlichkeit in zeitlicher Hinsicht ist beim Polizeigewahrsam von besonderer Bedeutung; sobald der Grund für diesen wegfällt, ist die in Gewahrsam genommene Person in Freiheit zu entlassen.[41] Ebenfalls wichtig ist die Erforderlichkeit in persönlicher Hinsicht: Einschränkungen, welche eine Vielzahl von Personen treffen, sind nur verhältnismässig, wenn das angestrebte Ziel nicht durch individuelle Anordnungen erreicht werden kann.[42]
III. Polizeigewahrsam nach Zürcher Recht
1. Anwendbare Rechtsgrundlagen
Im hier interessierenden Kanton Zürich steht die Wahrung der Sicherheit am Beginn des Katalogs der Staatsaufgaben, wie sie in der Kantonsverfassung verankert sind (Art. 100 KV/ZH[43]).[44] Der präventive Gewahrsam ist sodann in verschiedenen Erlassen vorgesehen: nämlich im PolG/ZH[45], dem GSG/ZH[46] und dem so genannten Hooligan-Konkordat.[47] Das PolG/ZH und das GSG/ZH sind vom kantonalen Parlament beschlossene Erlasse und auch der Beitritt zum Hooligan-Konkordat erfolgt auf formell-gesetzlicher Grundlage. Dem Erfordernis der hinreichenden Normstufe ist damit Genüge getan.[48]
In der weiteren Untersuchung liegt der Fokus auf dem PolG/ZH, da die anderen Erlasse spezifisch auf die Bereiche der häuslichen Gewalt respektive Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen anwendbar sind.[49] Das PolG/ZH hingegen hat einen weiteren sachlichen Anwendungsbereich und widmet dem polizeilichen Gewahrsam ein eigenes Kapitel im Abschnitt zu den polizeilichen Massnahmen. Die entsprechenden Paragraphen (§§ 25 ff. PolG/ZH) werden nun näher betrachtet.
2. Regelung im Polizeigesetz
a) Voraussetzungen (§ 25 PolG/ZH)
«Die Polizei darf eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn
a. sie
sich selber, andere Personen, Tiere oder Gegenstände ernsthaft und
unmittelbar gefährdet,
b. sie voraussichtlich der
fürsorgerischen Hilfe bedarf,
c. sie sich einer Freiheitsstrafe
oder einer freiheitsentziehenden Massnahme durch Flucht entzogen hat
oder
d. dies zur Sicherstellung einer Vor-, Zu- oder
Rückführung notwendig ist.»
Die Gründe, welche zur Ingewahrsamnahme führen können, lassen sich mit den Schlagworten «schwere und unmittelbar bevorstehende Fremd- oder Selbstgefährdung» (lit. a und b)[50] sowie «Gewahrsam im Hinblick auf einen weiteren staatlichen Zweck» (lit. c und d)[51] zusammenfassen. Aufgrund des Erfordernisses der Normbestimmtheit ist die Aufzählung in § 25 PolG/ZH abschliessend zu verstehen.[52]
Nicht ohne weiteres klar ist das Verständnis von «Tiere oder Gegenstände» in § 25 lit. a PolG/ZH. Da der Polizeigewahrsam eine schwerwiegende Grundrechtseinschränkung darstellt,[53] sind die beiden Begriffe einschränkend zu verstehen: Diese Tiere oder Gegenstände müssen in fremdem Eigentum stehen[54] und einen erheblichen Wert darstellen und/oder ihre Beschädigung oder ihr Untergang muss weitere negative Folgen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung haben.[55]
Einen sehr offenen Wortlaut hat überdies § 25 lit. d PolG/ZH. Er würde einen Gewahrsam zum Zweck der Zuführung an die zuständigen Behörden im Hinblick auf sämtliche Massnahmen möglich machen.[56] Eine Zuführung mit vorgängigem Polizeigewahrsam sollte aber nur möglich sein, wenn die sich anschliessende Massnahme das zu rechtfertigen vermag. Im Migrationsrecht wird dies etwa dann der Fall sein, wenn die Migrationsbehörde selbst legitimen Grund hat, eine freiheitsentziehende Massnahme anzuordnen,[57] deren Dauer über derjenigen des polizeilichen Gewahrsams liegt.
Der polizeiliche Gewahrsam erfolgt aus sicherheitspolizeilichen Motiven.[58] Diese sind von kriminalpolizeilichen - d.h. strafrechtlichen und strafprozessualen - Motiven abzugrenzen.[59] Die beiden Bereiche können aber fliessend ineinander übergehen und sich auch überschneiden, was die Abgrenzung im Einzelfall anspruchsvoll macht.[60] So etwa, wenn eine gewalttätige Person bereits einen Menschen verletzt hat und weiter auf diesen einschlägt, wovon sie durch Ingewahrsamnahme abgehalten wird.[61] Gerber hat überzeugend argumentiert, dass die Anwendbarkeit von Polizeirecht oder Strafrecht durch eine umfassende Interessenabwägung im konkreten Fall festzustellen ist, wobei die Feststellung der Polizei obliegt, da ihr in beiden Rechtsgebieten eine entscheidende Funktion zukommt und sie für den gesamten Einsatz zuständig ist.[62]
b) Durchführung (§ 26 PolG/ZH)
«1 Hat die Polizei eine Person in Gewahrsam genommen, gibt sie ihr
unverzüglich den Grund dafür bekannt.
2 Sie gibt ihr Gelegenheit, eine Anwältin oder einen Anwalt zu
bestellen, und, soweit dadurch der Zweck des polizeilichen Gewahrsams
nicht gefährdet wird, eine Person ihres Vertrauens zu
benachrichtigen. Ist die in Gewahrsam genommene Person dazu nicht in
der Lage, hat die Polizei so schnell wie möglich Angehörige
oder Familiengenossen zu benachrichtigen, soweit dies nicht dem
mutmasslichen Willen der Person widerspricht.
3 Ist die Person minderjährig oder steht sie unter umfassender
Beistandschaft, ist ohne Verzug eine für die elterliche Sorge,
Obhut oder Vormundschaft oder für die Beistandschaft
verantwortliche Person oder Stelle zu benachrichtigen.
4 Die Person muss mit den sie bewachenden Personen Kontakt aufnehmen
können, wenn sie Hilfe benötigt.»
Die Informationspflicht im ersten Absatz ist von grosser Bedeutung. Sie bezweckt, dass die betroffene Person die Rechtmässigkeit der Ingewahrsamnahme einschätzen und gegebenenfalls gerichtlich überprüfen lassen kann.[63] Deshalb muss sie in für sie verständlicher Weise auch darüber aufgeklärt werden, dass sie sich nicht selber belasten muss, einen Anwalt beiziehen und ein Gericht mit der Überprüfung des Gewahrsams befassen darf.[64] Bei ausländischen Staatsangehörigen ist auf deren Wunsch die diplomatische oder konsularische Vertretung zu informieren.[65] Nur wenn eine Person alle ihre Rechte überhaupt kennt, kann sie diese auch ausüben.[66]
Dies gilt ebenso für das Recht auf Beizug einer Anwältin, wie es im zweiten Absatz erwähnt wird. Hier ist die sich in Gewahrsam befindliche Person über Art. 29 Abs. 3 BV aufzuklären.[67] Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und unentgeltlichen Rechtsbeistand ist auch im verwaltungsrechtlichen Verfahren nacsh § 25 PolG/ZH anwendbar, unabhängig davon, ob es zu einem anschliessenden Straf- oder einem anderem Verfahren kommt.[68] Die ratio von Art. 29 Abs. 3 BV ist die Herstellung einer gewissen Waffengleichheit.[69] Dies ist bei einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff wie dem polizeilichen Gewahrsam sicher geboten.[70]
Schliesslich schweigt sich § 26 PolG/ZH trotz der Marginalie «Durchführung» zu wichtigen Aspekten des Vollzugs aus. Insbesondere muss der Ort der Unterbringung für die fragliche Person geeignet sein, was der vierte Absatz nur anklingen lässt.[71] Zudem ist die medizinische und seelsorgerische Betreuung sicherzustellen und überhaupt sind die Grundsätze eines menschenrechtskonformen Freiheitsentzugs einzuhalten.[72] Dazu existieren detaillierte Richtlinien der UNO und des Europarats.[73] Hervorzuheben ist insbesondere, dass hinreichend Raum für die einzelne Person vorhanden sein muss, was bei zahlreichen Ingewahrsamnahmen - etwa nach einer unfriedlichen Demonstration - faktisch schwierig werden kann.[74] Deshalb ist ein Vorgehen, das die Erforderlichkeit in persönlicher Hinsicht wahrt, umso wichtiger.[75]
Nach dem Gesagten weist § 26 PolG/ZH erhebliche Lücken auf,[76] die zwar mittels verfassungskonformer Auslegung geschlossen werden können.[77] Das ändert aber nichts daran, dass die Normdichte hier als zu tief zu bewerten ist. Eine ausdrückliche Regelung der angesprochenen Punkte im PolG/ZH selbst würde sowohl für die Personen, welche das Gesetz anwenden, als auch für die (potentiell) betroffenen Personen die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit erhöhen. In einem derart grundrechtssensiblen Bereich ist dies angebracht.
c) Dauer, gerichtliche Überprüfung (§ 27 PolG/ZH)
«1 Der Gewahrsam dauert bis zum Wegfall seines Grundes,
längstens jedoch 24 Stunden. Die Rechtsmässigkeit des
Gewahrsams wird auf Gesuch der betroffenen Person durch die
Haftrichterin oder den Haftrichter überprüft. Dem Begehren
kommt keine aufschiebende Wirkung zu.
2 Ist im Hinblick auf die Zuführung an eine für weitere
Massnahmen zuständige Stelle ein Gewahrsam von mehr als 24 Stunden
notwendig, so stellt die Polizei innert 24 Stunden ab Beginn des
Gewahrsams der Haftrichterin oder dem Haftrichter einen
begründeten Antrag auf Verlängerung. Für das Verfahren
sind die Bestimmungen der Strafprozessordnung sinngemäss
anwendbar.»
Mit dieser Bestimmung werden Art. 31 Abs. 4 BV und Art. 5 Abs. 4 EMRK im kantonalen Recht konkretisiert.[78] Allerdings ergibt sich aus dem Wortlaut von § 27 PolG/ZH keine zeitliche Obergrenze für die Verlängerung des Polizeigewahrsams.[79] Diese Lücke ist mittels systematischer Auslegung zu schliessen und die Grenze von längstens vier Tagen aus § 14 Abs. 2 GSG/ZH auf das PolG/ZH zu übertragen.[80] Eine analoge Anwendung der zweimonatigen Frist von Art. 66 Abs. 2 StGB[81] scheidet aus. Der Polizeigewahrsam und das Polizeirecht sind auf das kurzfristige Beseitigen von Gefahren und Störungen ausgerichtet.[82] Soll die Ingewahrsamnahme nach vier Tagen fortgesetzt werden, muss dafür eine andere hinreichende Grundlage - etwa im Strafprozessrecht oder im Erwachsenenschutzrecht - bestehen.
Nicht bei den Bestimmungen über den Polizeigewahrsam eingeordnet ist die Grundlage für eine allfällige Haftentschädigung. Vielmehr verweist § 55 PolG/ZH auf das kantonale Haftungsgesetz.[83] Diesbezüglich ist Art. 5 Abs. 5 EMRK zu beachten, der ausdrücklich festschreibt, dass eine Person, der unter Verletzung dieses Konventionsartikels die Freiheit entzogen wurde, Anspruch auf Schadenersatz hat.[84] Stellt das Zwangsmassnahmengericht fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ingewahrsamnahme verletzt wurden, besteht ein Anspruch auf Genugtuung und ein Entschädigungsanspruch für eventuell kausal erlittenen Schaden, wie insbesondere die Anwaltskosten.[85]
Weiter ist zu erwähnen, dass § 27 Abs. 2 PolG/ZH so formuliert ist, als wäre eine Verlängerung des Polizeigewahrsams über 24 Stunden hinaus nur dann möglich, wenn eine Zuführungsabsicht besteht. Eine solche Verengung ist grundrechtlich nicht verlangt. Sie ist sogar sinnwidrig, wenn weiterhin eine erhebliche Gefahr für eine Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, der weiterhin mit einem polizeilichen Gewahrsam begegnet werden kann, ohne dass eine Zuführung an eine andere staatliche Stelle geboten ist.[86] Wo eine Zuführung - etwa in die fürsorgerische Unterbringung - erforderlich ist, soll diese möglichst rasch vollzogen werden.
Positiv ist schliesslich der integrale Verweis auf die StPO[87] im letzten Satz von § 27 Abs. 2 PolG/ZH. Dieser greift, sobald ein Antrag auf Verlängerung des Gewahrsams über 24 Stunden hinaus vorliegt. Damit sind auch die Art. 132 ff. StPO über die amtliche Verteidigung und ihre Entschädigung umfasst.[88]
d) Verhältnismässige Anwendung dieser Bestimmungen
Wie erwähnt, ist die Wahrung der Erforderlichkeit in zeitlicher Hinsicht beim Polizeigewahrsam von grosser Bedeutung. Art. 5 Abs. 4 EMRK hält denn auch ausdrücklich fest, dass die Entlassung anzuordnen ist, «wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist».[89] Kurz gesagt: Sobald der Grund für den Gewahrsam wegfällt, ist dieser ohne Verzögerung aufzuheben.[90]
Anders als Oppliger/Heimgartner meinen,[91] können administrative Gegebenheiten eine solche Verzögerung nicht rechtfertigen. Zur Veranschaulichung: Gelingt es einer Person, welche ihrer Freiheit im Sinne der Art. 183 ff. StGB beraubt ist, die Polizei zu alarmieren, wird diese - ohne Beachtung administrativer Gegebenheiten - sofort handeln (müssen).[92] Die staatliche Verantwortung ist nun aber umso grösser, wenn sich eine Person nicht in der Gewalt einer anderen Privatperson befindet, sondern in staatlicher Obhut ist.
Aus der Erforderlichkeit in zeitlicher Hinsicht fliesst überdies der Grundsatz, wonach ein Antrag auf Verlängerung eines Polizeigewahrsams nur zurückhaltend zu stellen und zu bewilligen ist.[93]
An dieser Stelle ist schliesslich anzumerken, dass die Fristen der StPO ab der polizeilichen Anhaltung i.S.v. Art. 215 StPO zu laufen beginnen.[94] Der Polizeigewahrsam als der schwerwiegendere Grundrechtseingriff muss - in maiore minus - dann ebenfalls fristauslösend sein. Dabei ist unerheblich, ob der Polizeigewahrsam einem anderen Zweck dient als der Freiheitsentzug nach der StPO.[95] Das trifft auf die polizeiliche Anhaltung ebenso zu, wie auch die Haft wegen Ausführungsgefahr i.S.v. Art. 221 Abs. 2 StPO keine rein kriminalpolizeilichen Ziele verfolgt.[96] Aus der Sicht der Grundrechtsträger ist ausschlaggebend, dass die Freiheit entzogen wurde; an dieser Tatsache ändern unterschiedliche anwendbare Rechtsgrundlagen nichts.[97]
Bei der Erforderlichkeit in persönlicher Hinsicht ist an das Austin-Urteil des EGMR zu erinnern.[98] Die Einkesselung von Demonstrierenden am 1. Mai 2001 im Zentrum von London hat der Gerichtshof in dem Fall auch deshalb als verhältnismässig eingestuft, weil die Polizei wiederholt versucht hat, den Kordon aufzulösen und Personen gehen zu lassen, welche nichts mit der Demonstration zu tun hatten und / oder die keine Gefahr darstellten. Im Laufe des Tages konnten 392 Personen den Platz verlassen.[99] Entsprechend ist zu verlangen, dass bei der Ingewahrsamnahme einer grossen Anzahl von Personen - etwa im Nachgang zu einer gewalttätigen Demonstration - laufend individuell beurteilt wird, ob dafür (noch) ein hinreichender Grund besteht.[100] Ein unterschiedsloses Vorgehen hingegen ist aufgrund der Schwere des Grundrechtseingriffs unzulässig.[101]
Allerdings laden das komplexe Zusammenspiel von unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und zuständigen Behörden im Sicherheitsbereich dazu ein, die Verantwortung für einen Entlassungsentscheid abzugeben.[102] So etwa bei der strafprozessualen vorläufigen Festnahme durch die Polizei: Art. 219 Abs. 3 StPO verlangt richtigerweise, dass «die festgenommene Person sofort frei» gelassen wird, wenn Haftgründe nicht oder nicht mehr bestehen. Nur wenn die Abklärungen «den Tatverdacht und einen Haftgrund» bestätigen, erfolgt eine Zuführung an die Staatsanwaltschaft.[103] Aus der Anwaltschaft wurde dem Autor allerdings die Praxis berichtet, dass eine Person nicht aus der Festnahme entlassen wird, obwohl sich der Tatverdacht nicht erhärten lässt. Der Entscheid wird regelmässig der Staatsanwaltschaft überlassen, welche am Folgetag nochmals mit den gleichen Fragen eine Haft-Einvernahme durchführt. Grundrechtlich ist es aber unzulässig, einer Person die Freiheit zu entziehen, wenn dafür gar kein Grund (mehr) vorliegt.
3. Erkenntnisse für die Fortentwicklung des Rechts
Die präventive Ingewahrsamnahme einer Person ist eine schwerwiegende Grundrechtseinschränkung.[104] Als solche muss sie hinreichend demokratisch legitimiert, also auf formell-gesetzlicher Stufe normiert sein.[105]
Die Voraussetzungen der Ingewahrsamnahme, das Verfahren der Anordnung und Verlängerung sowie der Entlassung sind zudem mit genügender Bestimmtheit zu umschreiben.[106] Dies gilt umso mehr, als die Normenarchitektur des Bundes im Sicherheitsbereich bereits derart unübersichtlich ist, dass allein schon aus diesem Grund die Vorhersehbarkeit der gesetzlichen Grundlagen eingeschränkt ist.[107]
Die Gründe, welche zu einem Gewahrsam führen können, müssen gewichtig sein sowie abschliessend und möglichst klar im Gesetz umschrieben werden. Erfolgt ein Gewahrsam im Hinblick auf eine sich anschliessende staatliche Massnahme, so ist auch hinsichtlich dieser zu verlangen, dass ihr Vollzug von erheblichem Interesse ist.[108]
Die Gewahrsamsgründe müssen bei der fraglichen Person individualisiert vorliegen. Ein in persönlicher Hinsicht unterschiedsloses Vorgehen ist zu vermeiden.[109]
Die Informationspflichten gegenüber der in Gewahrsam genommenen Person sind vollständig im Gesetz abzubilden: Bekanntgabe der Gründe der Ingewahrsamnahme, Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, eine Rechtsvertretung beizuziehen und eine gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams zu veranlassen. Ausländische Staatsangehörige können ihre diplomatische oder konsularische Vertretung informieren.[110] Werden diese Rechte gesetzlich verankert, so kann diesen Informationspflichten beim Vollzug einfacher - ähnlich einer Check-Liste - nachgekommen werden.
Der Anspruch auf Beizug einer Anwältin ist im Freiheitsentzug zentral. Deshalb drängt es sich auch auf, die damit verbundene Kostenfrage gesetzgeberisch zu adressieren.[111]
Zudem wird der Bundesgesetzgeber zu bedenken haben, ob allfällige neue Massnahmen grundrechtskonform vollzogen werden können, was entsprechend ausgestattete Örtlichkeiten bedingt. Insbesondere ist sicherzustellen, dass jederzeit hinreichend Raum für die einzelne Person im Freiheitsentzug vorhanden ist.[112]
Weiter sind die Voraussetzungen und Grenzen der Verlängerung respektive Entlassung aus dem Gewahrsam durch den Gesetzgeber festzulegen. Entsprechende Normen dürfen nicht den Anschein erwecken, als wäre eine unbegrenzte präventive Festhaltung einer Person zulässig.[113] Denkbar wären etwa gesetzliche Fristen für eine regelmässige gerichtliche Prüfung der Massnahme. Zudem gilt, dass der Gewahrsam unmittelbar aufzuheben ist, wenn der Grund dafür wegfällt.[114]
Eine Person, welcher in rechtswidriger Art und Weise die Freiheit entzogen wurde, hat Anspruch auf Genugtuung und Schadenersatz, was ebenfalls ausdrücklich gesetzlich zu verankern ist.[115]
An dieser Stelle ist schliesslich noch daran zu erinnern, dass die Beurteilung einer staatlichen Massnahme als grundrechtlich zulässig nicht mit einer Charakterisierung als grundrechtsfreundlich gleichzusetzen ist. Zugespitzt formuliert: Nur weil eine bestimmte Regelung verfassungsrechtlich noch haltbar ist, müssen die Kantone und der Bund diesen Rahmen nicht ausschöpfen. Im Gegenteil verlangt Art. 35 BV eine möglichst grundrechtsfreundliche Rechtsordnung, die auf den Einzelfall grundrechtsfreundlich angewandt wird.[116]
IV. Fazit
Schon die Verfassungsgrundlage für Regelungen des Bundes im Bereich der präventiven Ingewahrsamnahme ist zumindest fraglich. Wird der Bundesgesetzgeber trotzdem tätig, so ist die Beachtung der erarbeiteten grundrechtlichen Anforderungen umso bedeutender. Im Rechtsstaat gilt es, einen zwar allgemeinen, aber deshalb nicht weniger wichtigen Gedanken zu beherzigen: Der präventive Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist eine vordringliche Aufgabe des Staates. Dieser Zweck kann aber nicht alle Mittel heiligen.