I. Einführung
Wer im Vorfeld der Regierungsratswahl im Kanton Bern vom 27. März 2022 die Umfrage der Online-Wahlhilfe «smartvote»[1] ausfüllte und sich Wahlempfehlungen erhoffte, dürfte nicht schlecht gestaunt haben, als die Empfehlungsliste angezeigt wurde: Zwar erkannte man hierdurch die politische Übereinstimmungsrate mit zwölf Regierungsratskandidatinnen und -kandidaten, allerdings wurden keine bisherigen Regierungsmitglieder angezeigt. «Stellen sich denn keine amtierenden Regierungsmitglieder zur Wiederwahl?», dürften sich einige im ersten Augenblick gefragt haben. Doch! Das Gegenteil war der Fall: Die Mitglieder der Regierung traten mit Ausnahme von Finanzdirektorin Beatrice Simon (Die Mitte) erneut zur Wahl an. Der Grund, weshalb keine bisherigen Mitglieder angezeigt wurden, war vielmehr darin zu finden, dass die amtierenden Kandidierenden gemeinsam beschlossen hatten, den «smartvote»-Fragebogen nicht auszufüllen. Begründet wurde dies mit der Rücksicht auf das «Kollegialitätsprinzip».[2] Als amtierende Mitglieder des Regierungsrates hätten sie «gemeinsam gefällte und gemeinsam erarbeitete Positionen der Regierung zu vertreten», was dazu führen würde, «dass sie bei etlichen Fragen nicht ihre persönliche Meinung äussern könnten, ohne das Amtsgeheimnis zu verletzen.»[3]
Dass sämtliche bisherigen Kandidatinnen und Kandidaten geschlossen auf das Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens verzichteten, geschah nicht zum ersten Mal:[4] Betrachtet man einige kantonale Regierungswahlgänge seit 2020, so erkennt man, dass auch in den Kantonen Waadt, Basel-Stadt, Aargau und Schwyz sämtliche wiederantretenden Regierungsmitglieder auf das Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens verzichteten.[5] Zudem füllte bei den Regierungsratswahlen im Kanton Nidwalden vom 13. März 2022 von den bisherigen Kandidierenden nur Joe Christen (FDP) den Fragebogen aus.
Das Bild ist aber nicht einheitlich, wie ein Blick auf andere kantonale Wahlgänge, die seit 2020 stattgefunden haben, zeigt: In den Kantonen Freiburg, Neuenburg, Solothurn, Wallis, Jura, St. Gallen, Thurgau und Uri haben sämtliche wiederantretenden Regierungsmitglieder den «smartvote»-Fragebogen ausgefüllt.[6] Besonders erstaunlich ist dies im Kanton Thurgau, da bei den Wahlen 2016 noch sämtliche bisherigen Kandidierenden unter Berufung auf das «Kollegialitätsprinzip» auf eine Teilnahme bei «smartvote» verzichtet hatten.[7] Offenbar stellte dieses Prinzip für einige Personen rund vier Jahre später kein Hindernis mehr dar.[8]
Ebenfalls kein Problem mit dem Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens hatten die Regierungsmitglieder im Kanton Zürich: Gemäss Regierungssprecher Andreas Melchior habe sich der Regierungsrat anlässlich der Erneuerungswahlen 2019 mit dieser Frage befasst und sei zum Schluss gekommen, «dass sich die Teilnahme an smartvote mit der Einhaltung des Kollegialitätsprinzips vereinbaren lässt».[9]
Ob das Ausfüllen der Online-Wahlhilfe «smartvote» gegen das Kollegialprinzip[10] verstösst, ist somit umstritten und die Praxis der Regierungen uneinheitlich. Der Nutzen der «smartvote»-Wahlhilfe für amtierende Exekutivmitglieder, die in der Regel bereits über eine hohe Bekanntheit und Medienpräsenz verfügen, dürfte überschaubar sein. Nicht völlig auszuschliessen ist deshalb, dass das Kollegialprinzip lediglich als Vorwand benutzt wird, um sich in besonders umstrittenen Fragen auf «smartvote» nicht exponieren zu müssen und für breite Kreise wählbar zu bleiben. Einen grösseren Nutzen dürften sich dagegen neue Kandidierende versprechen - und natürlich die Wahlberechtigten.[11]
Dieser Aufsatz geht nun zunächst auf die Rechtsgrundlagen des Kollegialprinzips ein und beleuchtet anschliessend dessen Kerngedanken, Tragweite, Grenzen und Funktionen, um zum Schluss die Frage zu beantworten, ob das Prinzip dem Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens tatsächlich entgegensteht.
II. Rechtsgrundlagen des Kollegialprinzips
1. Rechtsgrundlagen im Bund
Auf Bundesebene ist das Kollegialprinzip in Art. 177 BV[12] festgehalten. Art. 177 BV mit Sachüberschrift «Kollegial- und Departementalprinzip» normiert in Absatz 1, dass der Bundesrat als Kollegium entscheidet.[13] Auf Gesetzesstufe statuiert dies Art. 12 Abs. 1 RVOG[14] in ähnlicher Weise[15], wobei dessen Abs. 2 regelt, dass die Mitglieder des Bundesrates die Entscheide des Kollegiums vertreten. Damit wird festgehalten, dass die Mitglieder des Bundesrates die Entscheide sowohl nach innen (Departemente) als auch nach aussen (Bundesversammlung sowie politische Öffentlichkeit) zu vertreten haben, selbst wenn der Kollegiumsentscheid den eigenen Überzeugungen widersprechen sollte.[16] Art. 19 Abs. 2 RVOG sieht ferner vor, dass der Bundesrat mit Stimmenmehrheit entscheidet. Art. 21 RVOG enthält die Regel, dass die Verhandlungen des Bundesrates und das Mitberichtsverfahren nicht öffentlich sind,[17] was aber die Information der Öffentlichkeit über Bundesratsgeschäfte nicht generell ausschliesst. Im Gegenteil: Es besteht sogar eine ausdrückliche gesetzliche Informationspflicht.[18] Die Geheimhaltungspflicht in Art. 21 RVOG bezieht sich nur (aber immerhin) auf die persönliche Meinung der einzelnen Mitglieder sowie die geäusserten Stellungnahmen während Bundesratssitzungen bei umstrittenen Themen.[19]
Gemäss Art. 320 StGB[20] kann eine Person mit bis zu drei Jahren Freiheits- oder Geldstrafe bestraft werden, wenn sie ein Geheimnis offenbart, das ihr in ihrer Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamtin anvertraut worden ist, oder das sie in ihrer amtlichen oder dienstlichen Stellung wahrgenommen hat. Das dergestalt strafrechtlich bewährte Amtsgeheimnis dient neben dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger, die mit dem Staat in Kontakt treten, auch dem reibungslosen Funktionieren der Verwaltung.[21] Aufgrund der Immunität darf jedoch nur mit besonderer Ermächtigung der eidgenössischen Räte gegen ein Mitglied des Bundesrates ein Strafverfahren eingeleitet werden.[22]
Bei (drohenden) Verletzungen des Kollegialprinzips ist aber auch der Bundesrat selbst gehalten, die erforderlichen (politischen) Massnahmen zur Einhaltung desselben zu ergreifen (Art. 6 Abs. 3 RVOG). Zu denken ist insb. an Weisungen im Einzelfall (Art. 8 Abs. 3 undArt. 35 Abs. 1 RVOG)[23] oder - als ultima ratio - allenfalls an den Entzug eines Dossiers bzw. ganzen Geschäftsbereichs (Art. 35 Abs. 4 RVOG).[24] Es bestehen aber auch subtilere Sanktionsmechanismen innerhalb des Gremiums wie z.B. das Verzögern von Geschäften.[25] Verletzungen des Kollegialprinzips können sodann auch zum Gegenstand der parlamentarischen Oberaufsicht werden (Art. 169 BV).[26]
2. Rechtsgrundlagen in den Kantonen
Die Kantone kennen dasselbe Organisationsmuster für ihre Regierungen wie der Bund - jedoch mit dem Unterschied, dass die Regierungsmitglieder in einer Volkswahl und nicht durch das Parlament gewählt werden.[27] Das Kollegialprinzip hat in sämtlichen Kantonen grundsätzlich dieselbe rechtliche Bedeutung, ungeachtet inwieweit und auf welcher Normstufe es festgehalten wird.[28] Die Mehrheit der Kantone erwähnt das Kollegialprinzip explizit in der Kantonsverfassung.[29] In einigen Kantonen wird das Prinzip nur auf Gesetzesstufe festgehalten.[30] Im Kanton Appenzell Innerrhoden findet es nur im von der Regierung («Standeskommission») selbst erlassenen Geschäftsreglement Erwähnung[31], im Kanton Neuenburg nur indirekt, indem Art. 47 LCE[32] festhält, dass «[l]a responsabilité collective du Conseil d'Etat s'applique aux actes émanant du Conseil d'Etat et revêtus de la signature du président et du chancelier». Ähnliche Regelungen wie Art. 12 Abs. 2 RVOG, wonach Mitglieder der Regierung Entscheide des Kollegiums zu «vertreten» haben, bestehen auf kantonaler Ebene nur vereinzelt.[33]
In einigen Kantonen besteht die Möglichkeit, dass ein Regierungsmitglied eine abweichende Meinung explizit zu Protokoll geben kann,[34] wobei wegen der grundsätzlichen Nichtöffentlichkeit des Protokolls die Wirkung bescheiden sein dürfte.[35] Im Kanton Obwalden kann ein Regierungsmitglied gegen einen Beschluss des Kollegiums die Verwahrung zu Protokoll geben.[36] In den Kantonen St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden ist die Erklärung der Verwahrung dann möglich, wenn ein Beschluss aus «schwerwiegenden Gründen» nicht mitgetragen werden kann.[37] Im Kanton Freiburg besteht die Regelung, wonach Mitglieder des Staatsrates die Beschlüsse grundsätzlich mitzutragen haben; wenn ein Mitglied mit einem Beschluss nicht einverstanden ist, so muss es «zumindest davon absehen, diesen in Frage zu stellen».[38] Im Kanton Glarus kann das Regierungskollegium «in besonderen Fällen» ein Mitglied davon entbinden, einen Beschluss in der Öffentlichkeit zu vertreten.[39]
In sämtlichen Kantonen sind die Sitzungen der Regierung wie im Bund nicht öffentlich, einzige Ausnahme ist der Kanton Solothurn.[40] Vereinzelt sehen die kantonalen Erlasse vor, dass das Regierungskollegium einzelne Mitglieder von der Schweigepflicht befreien kann.[41] Auch Mitglieder der kantonalen Regierungen unterliegen der Strafbarkeit von Art. 320 StGB, wobei auch sie Immunität geniessen, die es zunächst gemäss kantonalem Recht aufzuheben gilt.
Nicht eingegangen werden kann in diesem Beitrag auf unterschiedliche (politische) Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzungen des Kollegialprinzips auf kantonaler Ebene.[42]
III. Kerngedanke, Tragweite und Grenzen des Kollegialprinzips
In Art. 177 Abs. 1 BV (und den ähnlichen kantonalen Normen), wonach die Regierung als Kollegium entscheidet, kommt der Kerngedanke des Kollegialprinzips zum Ausdruck: Alle Entscheidungen, die in den Zuständigkeitsbereich der Regierung fallen, hat die Gesamtregierung zu treffen; niemand (auch nicht ein einzelnes Mitglied der Regierung) kann diese Kompetenz usurpieren.[43] Zuoberst steht demnach nicht eine einzelne Person, sondern stehen gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen; im Unterschied zu einem geführten Gremium soll sich die Kollegialbehörde «gleichsam von selbst»[44] bewegen(Selbsttätigkeit).[45] Daraus lassen sich weitere Prinzipien und Verhaltensregeln ableiten, deren Natur und Tragweite aber weniger klar fassbar sind als der «harte Kern» der rechtlichen Gleichberechtigung der einzelnen Mitglieder.[46] Inwieweit es sich im Einzelnen um Rechtsregeln oder um «bloss politische Klugheitsregel[n]»[47] handelt, ist umstritten und schwierig eruierbar.[48] Für den vorliegenden Beitrag ist diese Einordnung insofern von untergeordneter Bedeutung, als auch die Befolgung (lediglich) einer politisch-moralischen Klugheitsregel einen legitimen Grund für die Verweigerung der Teilnahme bei «smartvote» darstellt.
Noch ohne grosse Umwege lässt sich aus dem Kerngedanken eine Pflicht zum «kollegialen Einstehen-Müssen»[49] ableiten[50]: Weil die Entscheide vom Gesamtkollegium auszugehen haben, müssen die einzelnen Mitglieder die getroffenen Entscheide mittragen, selbst wenn sie im Gremium eine andere Meinung vertreten haben.[51] Den Beschluss des Kollegiums zu «vertreten», heisst auch, dass die einzelnen Mitglieder eine abweichende Stimmabgabe oder einen abweichenden Antrag nicht öffentlich kundtun dürfen. In der Regel wird diese Pflicht gesetzlich festgehalten, indem die Verhandlungen und Protokolle als vertraulich bezeichnet werden und nicht dem Öffentlichkeitsprinzip unterstehen.[52] Dies ist insofern gerechtfertigt, als das Kundtun einer abweichenden Meinung die gefundene Mehrheitsposition und die Kohärenz des Regierungsauftritts schwächt, Zentrifugalkräften Vorschub leistet (siehe hierzu hinten, Rz. 21) und damit den Regierungsprozess erschwert.[53] «Nur eine geschlossen auftretende Regierung ist eine starke Regierung.»[54] Auch konkrete öffentliche Positionsbezüge vor Beschlussfassung sind problematisch. Sie sind der bedeutsamen Kompromissbereitschaft (siehe hierzu hinten, Rz. 21) abträglich, weil es «im Scheinwerferlicht» schwieriger ist, die Meinung zu ändern und glaubwürdig zu bleiben.[55] Gleichzeitig schränken vorgängige Stellungnahmen die Entscheidungsfreiheit des Kollegiums ein[56] bzw. greifen der Meinungsbildung, die im Kollegium stattzufinden hat, vor.[57] Ein einzelnes Mitglied soll sich durch Offenlegung einer abweichenden Position auch nicht der gemeinsam zu tragenden politischen Verantwortung des Kollegiums entziehen können.[58]
Aus dem Gesagten ergeben sich drei Verhaltensregeln, deren Beachtung für eine funktionierende Kollegialregierung zentral ist: (I) Regierungsmitglieder dürfen sich vor Beschlussfassung im Kollegium nicht zu einem konkreten (insb. hängigen oder unmittelbar bevorstehenden)[59] Geschäft öffentlich äussern, (II) müssen über die Willensbildung und Beratung im Kollegium Verschwiegenheit wahren und (III) müssen den Kollegiumsentscheid nach Beschlussfassung mittragen und dürfen sich nicht davon distanzieren.[60] Die Differenzierung zwischen den Regeln (II) und (III) ist insofern gerechtfertigt, als nur das tatsächliche Offenbaren von dem Sitzungsgeheimnis unterliegendenTatsachen strafrechtlich sanktioniert werden kann[61], nicht aber das Kundtun einer vom Kollegiumsentscheid abweichenden Meinung, ohne Bezugnahme auf eine konkrete Sitzung.[62] Denn diese Meinung muss nicht zwingend mit dem Abstimmungsverhalten der Amtsperson innerhalb des Kollegiums übereinstimmen, ja kann sich die Amtsperson vielleicht auch erst nach der Sitzung gebildet haben.
Die Pflicht zum «kollegialen Einstehen» gilt nicht grenzenlos. Bei den genannten Verhaltensregeln handelt es sich um Einschränkungen der Grundrechte der Regierungsmitglieder - namentlich ist die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) und in krassen Fällen auch die Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) betroffen. In der Regel dürfte die Grundrechtseinschränkung indes zulässig sein, da das öffentliche Interesse (Funktionieren der Kollegialregierung; siehe hierzu hinten, Rz. 19 ff.) gewichtig ist[63] und sich Regierungsmitglieder aufgrund ihrer besonderen Stellung allgemein weitergehende Einschränkungen als die übrigen Grundrechtsträger gefallen lassen müssen.[64] Dieses Sonderstatusverhältnis ist auch der Grund, weshalb in den Kantonen (wo eine Art. 12 Abs. 2 RVOG entsprechende gesetzliche Regel grossenteils fehlt) die Normierung des Kollegialprinzips selbst als gesetzliche Grundlage für die Grundrechtseinschränkung genügt. Dem Verhältnismässigkeitsgebot entsprechend gelten die soeben genannten Verhaltensregeln jedoch nicht in absoluter Weise: In gewissen Situationen bzw. Konfliktlagen muss es nach einer Abwägung der verschiedenen Interessen einem Regierungsmitglied möglich sein, eine Befreiung vom kollegialen Einstehen zu erwirken.[65] Einhellig bejaht die Lehre eine solche Dispensationsmöglichkeit bei schwer(st)er bzw. echter Gewissensnot.[66] Gleichsam als Vorstufe zur schwersten Gewissensnot bejaht Tschannen die Dispensationsmöglichkeit - zu Recht - auch bei der Niederlage eines Regierungsmitglieds bei einergrundsätzlichen und politisch identitätsstiftenden Frage[67].[68]
Je weiter man sich vom Kerngedanken des Kollegialprinzips entfernt, desto undeutlicher wird dessen Gehalt[69] Aus dem Gedanken der Kollegialität und seinen im nächsten Kapitel zu behandelnden Funktionen (Rz. 19 ff.) lassen sich neben den Verhaltensregeln I-III noch weitere «Regeln» ableiten, die aber mehr der politischen als der rechtlichen Sphäre zuzuordnen sind: So dient es gewiss der Entscheidqualität, wenn die Regierungsmitglieder bei begründeten Einwänden Mitberichte zu Anträgen ausarbeiten; eine rechtliche Pflicht besteht dazu freilich nicht. Die Mehrheitskräfte innerhalb der Regierung können auch nicht dazu verpflichtet werden, Maximalpositionen aufzugeben, auch wenn dies die Kompromissbereitschaft und Einigkeit fördern würde. Sodann kann eine Regierung an der fehlenden «Kollegialität» - also dem fehlenden freundschaftlichen Verhältnis unter den Regierungsmitgliedern[70] - zwar scheitern, rechtlich eingefordert werden kann auch sie aber nicht. Es ist aber nicht zu verkennen, dass die Nichtwiederwahl als die griffigste Sanktion bei Verletzungen des Kollegialprinzips auch bei Verletzungen dieser politisch-moralischen Verhaltensregeln zum Zuge kommen kann.
IV. Funktionen des Kollegialprinzips
Das Kollegialprinzip erfüllt verschiedene wichtige Funktionen, weshalb an der Beachtung der zuvor genannten Verhaltensregeln ein öffentliches Interesse besteht.
Dem Konzept, wonach zuoberst nicht eine einzelne Person, sondern ein Kollegium gleichberechtigter Mitglieder steht, kommt erstens einemachthemmende Funktion innerhalb der Exekutive zu.[71] Wie Eichenberger treffend ausführte, lässt sich der Kollegialgedanke in dieser Ausprägung als «Intra-Organ-Kontrolle»[72] als Teil des Systems der Gewaltenteilung bzw. -gliederung begreifen.
Zweitens ermöglicht das Kollegialprinzip, dass auch das oberste Exekutivorgan eines Gemeinwesens eine pluralistische Zusammensetzung aufweisen kann und sich damit unterschiedliche Werthaltungen und Hintergründe in den Entscheiden niederschlagen.[73] Ausdruck hiervon sind z.B. auch kantonale Regelungen, wonach die Zusammensetzung der Regierungsgremien gewisse Kriterien erfüllen muss. Angesprochen sind insb. die (nicht unproblematischen[74]) regionalen Verteilungsschlüssel in den Kantonen Bern, Uri und Wallis.[75] Im Kanton Tessin wird der Consiglio di Stato gar nach einem Proporzsystem gewählt.[76] Ferner wird der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft zwar nach dem Majorzverfahren gewählt[77], der Kanton überlässt es aber den Gemeinden, ob sie für ihre Exekutivorgane stattdessen das Verhältnisverfahren zur Anwendung bringen wollen[78] - wofür sich z.B. die Stadt Laufen entschieden hat.[79] Analoges gilt im Kanton bzw. in der Stadt Bern.[80] Diese Funktion verdeutlicht, dass Regierungsmitglieder nach der Wahl zwar eine kritische Distanz zu ihrer Partei zu wahren haben, dieser aber nicht den Rücken kehren müssen. Auch die Mitgliedschaft in Vereinen, Organisationen oder Verbänden ist grundsätzlich auch nach der Wahl zulässig.[81] Die Mitglieder der Regierungen sollen keine «politischen Eunuchen»[82] sein, sondern sind gerade gewählt, um die (pluralistische) Gesellschaft in der Exekutive zu widerspiegeln.[83],[84] Eine pluralistische Zusammensetzung birgt aber auch Zentrifugalkräfte, die ohne Führung schwieriger zu bändigen sein mögen. Dem ist bei der (Aus)Wahl der Persönlichkeiten Rechnung zu tragen; diese sollten zumindest betreffend die wesentlichen Staatsziele übereinstimmen und zur kollegialen Zusammenarbeit fähig und bereit sein.[85] In einer pluralistisch zusammengesetzten Kollegialregierung dürften Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kollegiums an der Tagesordnung sein.[86] Idealerweise resultiert am Ende der Diskussion dennoch ein Kompromiss, den das Kollegium einstimmig beschliesst.[87] Gelingt der Konsens nicht, genügt die Stimmenmehrheit.[88]
In eine ähnliche Richtung wie der soeben genannte «Proporzgedanke» zielt die von Eichenberger genannte dritte Funktion des Kollegialprinzips, wonach ein Kollegium ein grösseres Mass an «Einsicht, Wissen und Können» mobilisieren kann als eine einzelne Person.[89] Im Kollegium kann und soll «Irrtumsausgleich» auf oberster Ebene stattfinden.[90]
V. Anwendung auf «smartvote» und die Berner Regierungsratswahlen
Anhand des soeben Ausgeführten soll nun die eingangs aufgeworfene Frage beantwortet werden, inwieweit das Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens im Vorfeld der Berner Regierungsratswahlen vom 27. März 2022 mit dem Kollegialprinzip vereinbar gewesen wäre.
1. Rechtsgrundlagen im Kanton Bern
Das Kollegialprinzip ist im Kanton Bern nicht auf Verfassungsstufe, sondern auf Gesetzesstufe festgehalten. Gemäss Art. 3 Abs. 1 OrG/BE[91] trifft der Regierungsrat grundlegende und wichtige Entscheidungen im Kollegium.[92] Die Verhandlungen[93] bzw. die Sitzungen[94] des Regierungsrates sind nicht öffentlich. Nicht erfasst von diesem Sitzungsgeheimnis sind dagegen die getroffenen Beschlüsse, die grundsätzlich veröffentlicht werden[95] - indes ohne Stimmenverhältnis und allfällige Mitberichte[96]. Bei Verletzungen des Kollegialprinzips kommen wie auf Bundesebene zunächst vom Kollegium ausgehende Sanktionen in Frage.[97] Anders als auf Bundesebene bestimmt im Kanton Bern aber das Parlament (und nicht die Regierung) über die Zuteilung der Aufgabenbereiche an die einzelnen Direktionen (vgl. Art. 21 Abs. 1 OrG/BE). Entsprechend obläge es dem Grossen Rat, einem Regierungsmitglied einen Geschäftsbereich zu entziehen (nur vorübergehende Änderungen will sich gemäss Art. 20 Abs. 5 OrV RR/BE hingegen auch der Regierungsrat vorbehalten).[98] Der Grosse Rat übt denn auch die (Ober-)Aufsicht über den Regierungsrat und die Verwaltung aus.[99] Anders als auf Bundesebene steht dem Parlament das schärfste Sanktionsmittel (die Nichtwiederwahl) aber nicht zu, weil die Mitglieder des Berner Regierungsrats - wie alle kantonalen Regierungen[100] - vom Volk gewählt werden.[101]
2. «Smartvote»-Fragebogen
Bei den Regierungsratswahlen im Kanton Bern vom 27. März 2022 bestand der «smartvote»-Fragebogen «Deluxe» aus 58 Fragen und der Fragebogen «Rapide» aus 31 Fragen. Der Fragebogen «Rapide» bestand aus einer Auswahl der Fragen aus dem grösseren Fragebogen «Deluxe». Der Fragebogen «Deluxe» enthielt Fragen zu zwölf verschiedenen Themen.[102] Ein 13. «Kapitel» stellte zum Schluss noch allgemeinere Fragen zu Werthaltungen. Bei den Fragen in den ersten 12. «Kapiteln» konnte jeweils mit «ja», «eher ja», «eher nein» oder «nein» geantwortet werden. Überdies bestand die Möglichkeit, eine Frage zu gewichten (mit einem «-» oder «+»). Fragen, die persönlich von besonderer Bedeutung sind, konnte man mit einem «+» kennzeichnen et vice versa. Schliesslich bestand die Möglichkeit, eine Frage nicht zu beantworten («keine Antwort»). Bei den Werthaltungen im 13. Kapitel musste man auf einer Skala von «gar nicht einverstanden» bis «vollständig einverstanden» die eigene Meinung zum Ausdruck bringen, wobei auch hier jeweils die Option «keine Antwort» offenstand.
Der Abstraktionsgrad der Fragen war sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gab es Grundsatzfragen, die sich nicht auf ein spezifisches Geschäft bezogen (z.B. «Soll der Kanton Bern die Ansiedlung neuer Firmen im Kanton steuerlich unterstützen?» oder «Soll der Kanton das Service-Public-Angebot [...] in den ländlichen Regionen stärker fördern?»). Besonders abstrakt formuliert waren die wertebezogenen Fragen im 13. «Kapitel».[103] Am anderen Ende des Spektrums standen verschiedene Fragen, die sich auf konkrete (kurz bevorstehende oder zurückliegende) Vorlagen bezogen (z.B. «Befürworten Sie das geplante Stauseeprojekt unterhalb des Triftgletschers im Gadmertal?» oder «Eine kantonale Initiative verlangt eine Elternzeit von 24 Wochen […]. Unterstützen Sie diese Forderung?»).[104] In eine dritte Kategorie gehörten Fragen, die nicht in den Kompetenzbereich des Kantons Bern fallen (z.B. «Befürworten Sie eine Erhöhung des Rentenalters [...] für Frauen und Männer?», «Sollen alle in der Schweiz geborenen Personen das Schweizer Bürgerrecht erhalten», «Soll das bestehende Bauverbot für neue Atomkraftwerke aufgehoben werden?» sowie zwei Fragen zum Verhältnis der Schweiz zur EU).
3. Vereinbarkeit mit dem Kollegialprinzip
Der Regierungsrat des Kantons Bern begründete die Nichtteilnahme an der «smartvote»-Umfrage damit, dass dies einen Verstoss gegen das Kollegialprinzip bedeuten würde (vgl. vorne, Rz. 1). U.E. gebietet das Kollegialprinzip hingegen eine Differenzierung: Fragen zu kurz bevorstehenden oder gerade abgeschlossenen konkreten Geschäften stehen tatsächlich in einem Spannungsverhältnis zum Kollegialprinzip. Mit der Beantwortung solcher Fragen läuft ein Regierungsmitglied Gefahr, gegen die oben genannten Verhaltenspflichten (insb. I und III) zu verstossen.[105]
Wie der Regierungsrat in seiner Medienmitteilung (vgl. vorne Fn. 2) selbst andeutete[106], trifft dies aber nicht auf alle Fragen zu. Wie oben gezeigt wurde, ist es gerade eine zentrale Funktion des Kollegialprinzips, Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Werthaltungen in der Regierung vereinen zu können. Mit diesen Werthaltungen ist die Person in die Regierung gewählt worden und mit diesen will es bei erneuter Kandidatur auch wiedergewählt werden. Entsprechend ist es keine Verletzung, sondern gleichsam eine Forderung des Kollegialprinzips, dass bisherige Regierungsmitglieder (und neu zu wählende Kandidierende) ihre Haltungen zu abstrakteren wertbezogenen Fragen vor der (Wieder-)Wahl offenlegen. In der Regel dürften auch Fragen zu Gegenständen, die in der Kompetenz des Bundes liegen, ein unproblematisches (und aus Sicht der Wahlberechtigten wohl auch geeignetes[107]) Mittel darstellen, um die politischen Ansichten der Kandidierenden zu erfragen.
Nach dem Gesagten greift es zu kurz, die Teilnahme an der gesamten «smartvote»-Umfrage mit Blick auf das Kollegialprinzip zu verweigern, zumal bei (zu) konkreten Fragen die Möglichkeit der Enthaltung besteht («keine Antwort»).[108] Dennoch empfehlen wir «smartvote», bei Exekutivwahlen zukünftig auf konkrete Fragen zu aktuellen kantonalen Vorlagen wie z.B. «Stimmen Sie der kantonalen Volksinitiative XY zu?» zu verzichten. Auch die verbleibenden (abstrakteren oder auf Bundesebene geregelten) Fragen können es erlauben, die verschiedenen Werthaltungen der Kandidierenden zu erfragen. Die hier formulierte Forderung nach Transparenz betreffend die Werthaltungen der Kandidierenden lässt sich auch mit Art. 34 Abs. 2 BV untermauern, der die freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe der Wahlberechtigten schützt.[109] Gemäss bundesgerichtlicher Standardformel soll damit «garantiert werden, dass jeder Stimmberechtigte seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und entsprechend mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen kann.»[110] Elektronische Wahlhilfen wie «smartvote» können - mit der hier vorgeschlagenen Ausgestaltung der Fragen und bei hinreichender Absicherung gegen Missbrauch - ein Mittel sein, um bei Exekutivwahlen dazu beizutragen.[111]