Kollegialprinzip und Online-Wahlhilfen

Ein Blick auf Tragweite und Funktionen des Kollegialprinzips

Micha Herzog / Damian Wyss *

Dürfen amtierende Regierungsmitglieder im Vorfeld einer Erneuerungswahl den Fragebogen der Online-Wahlhilfe «smartvote» ausfüllen oder steht das Kollegialprinzip einer Teilnahme an der Umfrage entgegen? Diese Frage wurde von den kantonalen Regierungen in den letzten Jahren unterschiedlich beantwortet und in den Medien kontrovers diskutiert. Zu dieser Diskussion will der vorliegende Aufsatz beitragen. In einem ersten Teil weiten die Autoren den Blick und setzen sich mit dem Kollegialprinzip im Allgemeinen auseinander, um auf dieser Grundlage anschliessend eine eigene Antwort zu formulieren, wobei als konkretes Anschauungsbeispiel die Berner Regierungsratswahlen vom 27. März 2022 gewählt wurden.

Les membres en fonction d'un gouvernement peuvent-ils, avant une élection, remplir le questionnaire de la plateforme en ligne « smartvote » ou le principe de collégialité s'oppose-t-il à une telle participation ? Cette question a fait l'objet de débats controversés dans les médias et les différents gouvernements cantonaux n'y répondent pas de manière unanime. Le présent article entend contribuer à cette discussion. Dans une première partie, les auteurs élargissent le propos et se penchent sur le principe de collégialité en général. Puis, à partir de cette base, ils formulent leur propre réponse en se focalisant sur l'exemple concret des élections au Conseil-exécutif bernois du 27 mars 2022.

Zitiervorschlag: Micha Herzog / Damian Wyss, Kollegialprinzip und Online-Wahlhilfen, sui generis 215, S. 153

URL: sui-generis.ch/215

DOI: https://doi.org/10.21257/sg.215

* Micha Herzog, Rechtsanwalt, Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Prof. Dr. Stefan G. Schmid, Universität St. Gallen (micha.herzog@unisg.ch). Damian Wyss, Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Prof. Dr. Benjamin Schindler, Universität St. Gallen (damian.wyss@student.unisg.ch).



I. Einführung

Wer im Vorfeld der Regierungsratswahl im Kanton Bern vom 27. März 2022 die Umfrage der Online-Wahlhilfe «smartvote»[1] ausfüllte und sich Wahlempfehlungen erhoffte, dürfte nicht schlecht gestaunt haben, als die Empfehlungsliste angezeigt wurde: Zwar erkannte man hierdurch die politische Übereinstimmungsrate mit zwölf Regierungsratskandidatinnen und -kandidaten, allerdings wurden keine bisherigen Regierungsmitglieder angezeigt. «Stellen sich denn keine amtierenden Regierungsmitglieder zur Wiederwahl?», dürften sich einige im ersten Augenblick gefragt haben. Doch! Das Gegenteil war der Fall: Die Mitglieder der Regierung traten mit Ausnahme von Finanzdirektorin Beatrice Simon (Die Mitte) erneut zur Wahl an. Der Grund, weshalb keine bisherigen Mitglieder angezeigt wurden, war vielmehr darin zu finden, dass die amtierenden Kandidierenden gemeinsam beschlossen hatten, den «smartvote»-Fragebogen nicht auszufüllen. Begründet wurde dies mit der Rücksicht auf das «Kollegialitätsprinzip».[2] Als amtierende Mitglieder des Regierungsrates hätten sie «gemeinsam gefällte und gemeinsam erarbeitete Positionen der Regierung zu vertreten», was dazu führen würde, «dass sie bei etlichen Fragen nicht ihre persönliche Meinung äussern könnten, ohne das Amtsgeheimnis zu verletzen.»[3]

Dass sämtliche bisherigen Kandidatinnen und Kandidaten geschlossen auf das Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens verzichteten, geschah nicht zum ersten Mal:[4] Betrachtet man einige kantonale Regierungswahlgänge seit 2020, so erkennt man, dass auch in den Kantonen Waadt, Basel-Stadt, Aargau und Schwyz sämtliche wiederantretenden Regierungsmitglieder auf das Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens verzichteten.[5] Zudem füllte bei den Regierungsratswahlen im Kanton Nidwalden vom 13. März 2022 von den bisherigen Kandidierenden nur Joe Christen (FDP) den Fragebogen aus.

Das Bild ist aber nicht einheitlich, wie ein Blick auf andere kantonale Wahlgänge, die seit 2020 stattgefunden haben, zeigt: In den Kantonen Freiburg, Neuenburg, Solothurn, Wallis, Jura, St. Gallen, Thurgau und Uri haben sämtliche wiederantretenden Regierungsmitglieder den «smartvote»-Fragebogen ausgefüllt.[6] Besonders erstaunlich ist dies im Kanton Thurgau, da bei den Wahlen 2016 noch sämtliche bisherigen Kandidierenden unter Berufung auf das «Kollegialitätsprinzip» auf eine Teilnahme bei «smartvote» verzichtet hatten.[7] Offenbar stellte dieses Prinzip für einige Personen rund vier Jahre später kein Hindernis mehr dar.[8]

Ebenfalls kein Problem mit dem Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens hatten die Regierungsmitglieder im Kanton Zürich: Gemäss Regierungssprecher Andreas Melchior habe sich der Regierungsrat anlässlich der Erneuerungswahlen 2019 mit dieser Frage befasst und sei zum Schluss gekommen, «dass sich die Teilnahme an smartvote mit der Einhaltung des Kollegialitätsprinzips vereinbaren lässt».[9]

Ob das Ausfüllen der Online-Wahlhilfe «smartvote» gegen das Kollegialprinzip[10] verstösst, ist somit umstritten und die Praxis der Regierungen uneinheitlich. Der Nutzen der «smartvote»-Wahlhilfe für amtierende Exekutivmitglieder, die in der Regel bereits über eine hohe Bekanntheit und Medienpräsenz verfügen, dürfte überschaubar sein. Nicht völlig auszuschliessen ist deshalb, dass das Kollegialprinzip lediglich als Vorwand benutzt wird, um sich in besonders umstrittenen Fragen auf «smartvote» nicht exponieren zu müssen und für breite Kreise wählbar zu bleiben. Einen grösseren Nutzen dürften sich dagegen neue Kandidierende versprechen - und natürlich die Wahlberechtigten.[11]

Dieser Aufsatz geht nun zunächst auf die Rechtsgrundlagen des Kollegialprinzips ein und beleuchtet anschliessend dessen Kerngedanken, Tragweite, Grenzen und Funktionen, um zum Schluss die Frage zu beantworten, ob das Prinzip dem Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens tatsächlich entgegensteht.

II. Rechtsgrundlagen des Kollegialprinzips

1. Rechtsgrundlagen im Bund

Auf Bundesebene ist das Kollegialprinzip in Art. 177 BV[12] festgehalten. Art. 177 BV mit Sachüberschrift «Kollegial- und Departementalprinzip» normiert in Absatz 1, dass der Bundesrat als Kollegium entscheidet.[13] Auf Gesetzesstufe statuiert dies Art. 12 Abs. 1 RVOG[14] in ähnlicher Weise[15], wobei dessen Abs. 2 regelt, dass die Mitglieder des Bundesrates die Entscheide des Kollegiums vertreten. Damit wird festgehalten, dass die Mitglieder des Bundesrates die Entscheide sowohl nach innen (Departemente) als auch nach aussen (Bundesversammlung sowie politische Öffentlichkeit) zu vertreten haben, selbst wenn der Kollegiumsentscheid den eigenen Überzeugungen widersprechen sollte.[16] Art. 19 Abs. 2 RVOG sieht ferner vor, dass der Bundesrat mit Stimmenmehrheit entscheidet. Art. 21 RVOG enthält die Regel, dass die Verhandlungen des Bundesrates und das Mitberichtsverfahren nicht öffentlich sind,[17] was aber die Information der Öffentlichkeit über Bundesratsgeschäfte nicht generell ausschliesst. Im Gegenteil: Es besteht sogar eine ausdrückliche gesetzliche Informationspflicht.[18] Die Geheimhaltungspflicht in Art. 21 RVOG bezieht sich nur (aber immerhin) auf die persönliche Meinung der einzelnen Mitglieder sowie die geäusserten Stellungnahmen während Bundesratssitzungen bei umstrittenen Themen.[19]

Gemäss Art. 320 StGB[20] kann eine Person mit bis zu drei Jahren Freiheits- oder Geldstrafe bestraft werden, wenn sie ein Geheimnis offenbart, das ihr in ihrer Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamtin anvertraut worden ist, oder das sie in ihrer amtlichen oder dienstlichen Stellung wahrgenommen hat. Das dergestalt strafrechtlich bewährte Amtsgeheimnis dient neben dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger, die mit dem Staat in Kontakt treten, auch dem reibungslosen Funktionieren der Verwaltung.[21] Aufgrund der Immunität darf jedoch nur mit besonderer Ermächtigung der eidgenössischen Räte gegen ein Mitglied des Bundesrates ein Strafverfahren eingeleitet werden.[22]

Bei (drohenden) Verletzungen des Kollegialprinzips ist aber auch der Bundesrat selbst gehalten, die erforderlichen (politischen) Massnahmen zur Einhaltung desselben zu ergreifen (Art. 6 Abs. 3 RVOG). Zu denken ist insb. an Weisungen im Einzelfall (Art. 8 Abs. 3 undArt. 35 Abs. 1 RVOG)[23] oder - als ultima ratio - allenfalls an den Entzug eines Dossiers bzw. ganzen Geschäftsbereichs (Art. 35 Abs. 4 RVOG).[24] Es bestehen aber auch subtilere Sanktionsmechanismen innerhalb des Gremiums wie z.B. das Verzögern von Geschäften.[25] Verletzungen des Kollegialprinzips können sodann auch zum Gegenstand der parlamentarischen Oberaufsicht werden (Art. 169 BV).[26]

2. Rechtsgrundlagen in den Kantonen

Die Kantone kennen dasselbe Organisationsmuster für ihre Regierungen wie der Bund - jedoch mit dem Unterschied, dass die Regierungsmitglieder in einer Volkswahl und nicht durch das Parlament gewählt werden.[27] Das Kollegialprinzip hat in sämtlichen Kantonen grundsätzlich dieselbe rechtliche Bedeutung, ungeachtet inwieweit und auf welcher Normstufe es festgehalten wird.[28] Die Mehrheit der Kantone erwähnt das Kollegialprinzip explizit in der Kantonsverfassung.[29] In einigen Kantonen wird das Prinzip nur auf Gesetzesstufe festgehalten.[30] Im Kanton Appenzell Innerrhoden findet es nur im von der Regierung («Standeskommission») selbst erlassenen Geschäftsreglement Erwähnung[31], im Kanton Neuenburg nur indirekt, indem Art. 47 LCE[32] festhält, dass «[l]a responsabilité collective du Conseil d'Etat s'applique aux actes émanant du Conseil d'Etat et revêtus de la signature du président et du chancelier». Ähnliche Regelungen wie Art. 12 Abs. 2 RVOG, wonach Mitglieder der Regierung Entscheide des Kollegiums zu «vertreten» haben, bestehen auf kantonaler Ebene nur vereinzelt.[33]

In einigen Kantonen besteht die Möglichkeit, dass ein Regierungsmitglied eine abweichende Meinung explizit zu Protokoll geben kann,[34] wobei wegen der grundsätzlichen Nichtöffentlichkeit des Protokolls die Wirkung bescheiden sein dürfte.[35] Im Kanton Obwalden kann ein Regierungsmitglied gegen einen Beschluss des Kollegiums die Verwahrung zu Protokoll geben.[36] In den Kantonen St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden ist die Erklärung der Verwahrung dann möglich, wenn ein Beschluss aus «schwerwiegenden Gründen» nicht mitgetragen werden kann.[37] Im Kanton Freiburg besteht die Regelung, wonach Mitglieder des Staatsrates die Beschlüsse grundsätzlich mitzutragen haben; wenn ein Mitglied mit einem Beschluss nicht einverstanden ist, so muss es «zumindest davon absehen, diesen in Frage zu stellen».[38] Im Kanton Glarus kann das Regierungskollegium «in besonderen Fällen» ein Mitglied davon entbinden, einen Beschluss in der Öffentlichkeit zu vertreten.[39]

In sämtlichen Kantonen sind die Sitzungen der Regierung wie im Bund nicht öffentlich, einzige Ausnahme ist der Kanton Solothurn.[40] Vereinzelt sehen die kantonalen Erlasse vor, dass das Regierungskollegium einzelne Mitglieder von der Schweigepflicht befreien kann.[41] Auch Mitglieder der kantonalen Regierungen unterliegen der Strafbarkeit von Art. 320 StGB, wobei auch sie Immunität geniessen, die es zunächst gemäss kantonalem Recht aufzuheben gilt.

Nicht eingegangen werden kann in diesem Beitrag auf unterschiedliche (politische) Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzungen des Kollegialprinzips auf kantonaler Ebene.[42]

III. Kerngedanke, Tragweite und Grenzen des Kollegialprinzips

In Art. 177 Abs. 1 BV (und den ähnlichen kantonalen Normen), wonach die Regierung als Kollegium entscheidet, kommt der Kerngedanke des Kollegialprinzips zum Ausdruck: Alle Entscheidungen, die in den Zuständigkeitsbereich der Regierung fallen, hat die Gesamtregierung zu treffen; niemand (auch nicht ein einzelnes Mitglied der Regierung) kann diese Kompetenz usurpieren.[43] Zuoberst steht demnach nicht eine einzelne Person, sondern stehen gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen; im Unterschied zu einem geführten Gremium soll sich die Kollegialbehörde «gleichsam von selbst»[44] bewegen(Selbsttätigkeit).[45] Daraus lassen sich weitere Prinzipien und Verhaltensregeln ableiten, deren Natur und Tragweite aber weniger klar fassbar sind als der «harte Kern» der rechtlichen Gleichberechtigung der einzelnen Mitglieder.[46] Inwieweit es sich im Einzelnen um Rechtsregeln oder um «bloss politische Klugheitsregel[n]»[47] handelt, ist umstritten und schwierig eruierbar.[48] Für den vorliegenden Beitrag ist diese Einordnung insofern von untergeordneter Bedeutung, als auch die Befolgung (lediglich) einer politisch-moralischen Klugheitsregel einen legitimen Grund für die Verweigerung der Teilnahme bei «smartvote» darstellt.

Noch ohne grosse Umwege lässt sich aus dem Kerngedanken eine Pflicht zum «kollegialen Einstehen-Müssen»[49] ableiten[50]: Weil die Entscheide vom Gesamtkollegium auszugehen haben, müssen die einzelnen Mitglieder die getroffenen Entscheide mittragen, selbst wenn sie im Gremium eine andere Meinung vertreten haben.[51] Den Beschluss des Kollegiums zu «vertreten», heisst auch, dass die einzelnen Mitglieder eine abweichende Stimmabgabe oder einen abweichenden Antrag nicht öffentlich kundtun dürfen. In der Regel wird diese Pflicht gesetzlich festgehalten, indem die Verhandlungen und Protokolle als vertraulich bezeichnet werden und nicht dem Öffentlichkeitsprinzip unterstehen.[52] Dies ist insofern gerechtfertigt, als das Kundtun einer abweichenden Meinung die gefundene Mehrheitsposition und die Kohärenz des Regierungsauftritts schwächt, Zentrifugalkräften Vorschub leistet (siehe hierzu hinten, Rz. 21) und damit den Regierungsprozess erschwert.[53] «Nur eine geschlossen auftretende Regierung ist eine starke Regierung.»[54] Auch konkrete öffentliche Positionsbezüge vor Beschlussfassung sind problematisch. Sie sind der bedeutsamen Kompromissbereitschaft (siehe hierzu hinten, Rz. 21) abträglich, weil es «im Scheinwerferlicht» schwieriger ist, die Meinung zu ändern und glaubwürdig zu bleiben.[55] Gleichzeitig schränken vorgängige Stellungnahmen die Entscheidungsfreiheit des Kollegiums ein[56] bzw. greifen der Meinungsbildung, die im Kollegium stattzufinden hat, vor.[57] Ein einzelnes Mitglied soll sich durch Offenlegung einer abweichenden Position auch nicht der gemeinsam zu tragenden politischen Verantwortung des Kollegiums entziehen können.[58]

Aus dem Gesagten ergeben sich drei Verhaltensregeln, deren Beachtung für eine funktionierende Kollegialregierung zentral ist: (I) Regierungsmitglieder dürfen sich vor Beschlussfassung im Kollegium nicht zu einem konkreten (insb. hängigen oder unmittelbar bevorstehenden)[59] Geschäft öffentlich äussern, (II) müssen über die Willensbildung und Beratung im Kollegium Verschwiegenheit wahren und (III) müssen den Kollegiumsentscheid nach Beschlussfassung mittragen und dürfen sich nicht davon distanzieren.[60] Die Differenzierung zwischen den Regeln (II) und (III) ist insofern gerechtfertigt, als nur das tatsächliche Offenbaren von dem Sitzungsgeheimnis unterliegendenTatsachen strafrechtlich sanktioniert werden kann[61], nicht aber das Kundtun einer vom Kollegiumsentscheid abweichenden Meinung, ohne Bezugnahme auf eine konkrete Sitzung.[62] Denn diese Meinung muss nicht zwingend mit dem Abstimmungsverhalten der Amtsperson innerhalb des Kollegiums übereinstimmen, ja kann sich die Amtsperson vielleicht auch erst nach der Sitzung gebildet haben.

Die Pflicht zum «kollegialen Einstehen» gilt nicht grenzenlos. Bei den genannten Verhaltensregeln handelt es sich um Einschränkungen der Grundrechte der Regierungsmitglieder - namentlich ist die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) und in krassen Fällen auch die Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) betroffen. In der Regel dürfte die Grundrechtseinschränkung indes zulässig sein, da das öffentliche Interesse (Funktionieren der Kollegialregierung; siehe hierzu hinten, Rz. 19 ff.) gewichtig ist[63] und sich Regierungsmitglieder aufgrund ihrer besonderen Stellung allgemein weitergehende Einschränkungen als die übrigen Grundrechtsträger gefallen lassen müssen.[64] Dieses Sonderstatusverhältnis ist auch der Grund, weshalb in den Kantonen (wo eine Art. 12 Abs. 2 RVOG entsprechende gesetzliche Regel grossenteils fehlt) die Normierung des Kollegialprinzips selbst als gesetzliche Grundlage für die Grundrechtseinschränkung genügt. Dem Verhältnismässigkeitsgebot entsprechend gelten die soeben genannten Verhaltensregeln jedoch nicht in absoluter Weise: In gewissen Situationen bzw. Konfliktlagen muss es nach einer Abwägung der verschiedenen Interessen einem Regierungsmitglied möglich sein, eine Befreiung vom kollegialen Einstehen zu erwirken.[65] Einhellig bejaht die Lehre eine solche Dispensationsmöglichkeit bei schwer(st)er bzw. echter Gewissensnot.[66] Gleichsam als Vorstufe zur schwersten Gewissensnot bejaht Tschannen die Dispensationsmöglichkeit - zu Recht - auch bei der Niederlage eines Regierungsmitglieds bei einergrundsätzlichen und politisch identitätsstiftenden Frage[67].[68]

Je weiter man sich vom Kerngedanken des Kollegialprinzips entfernt, desto undeutlicher wird dessen Gehalt[69] Aus dem Gedanken der Kollegialität und seinen im nächsten Kapitel zu behandelnden Funktionen (Rz. 19 ff.) lassen sich neben den Verhaltensregeln I-III noch weitere «Regeln» ableiten, die aber mehr der politischen als der rechtlichen Sphäre zuzuordnen sind: So dient es gewiss der Entscheidqualität, wenn die Regierungsmitglieder bei begründeten Einwänden Mitberichte zu Anträgen ausarbeiten; eine rechtliche Pflicht besteht dazu freilich nicht. Die Mehrheitskräfte innerhalb der Regierung können auch nicht dazu verpflichtet werden, Maximalpositionen aufzugeben, auch wenn dies die Kompromissbereitschaft und Einigkeit fördern würde. Sodann kann eine Regierung an der fehlenden «Kollegialität» - also dem fehlenden freundschaftlichen Verhältnis unter den Regierungsmitgliedern[70] - zwar scheitern, rechtlich eingefordert werden kann auch sie aber nicht. Es ist aber nicht zu verkennen, dass die Nichtwiederwahl als die griffigste Sanktion bei Verletzungen des Kollegialprinzips auch bei Verletzungen dieser politisch-moralischen Verhaltensregeln zum Zuge kommen kann.

IV. Funktionen des Kollegialprinzips

Das Kollegialprinzip erfüllt verschiedene wichtige Funktionen, weshalb an der Beachtung der zuvor genannten Verhaltensregeln ein öffentliches Interesse besteht.

Dem Konzept, wonach zuoberst nicht eine einzelne Person, sondern ein Kollegium gleichberechtigter Mitglieder steht, kommt erstens einemachthemmende Funktion innerhalb der Exekutive zu.[71] Wie Eichenberger treffend ausführte, lässt sich der Kollegialgedanke in dieser Ausprägung als «Intra-Organ-Kontrolle»[72] als Teil des Systems der Gewaltenteilung bzw. -gliederung begreifen.

Zweitens ermöglicht das Kollegialprinzip, dass auch das oberste Exekutivorgan eines Gemeinwesens eine pluralistische Zusammensetzung aufweisen kann und sich damit unterschiedliche Werthaltungen und Hintergründe in den Entscheiden niederschlagen.[73] Ausdruck hiervon sind z.B. auch kantonale Regelungen, wonach die Zusammensetzung der Regierungsgremien gewisse Kriterien erfüllen muss. Angesprochen sind insb. die (nicht unproblematischen[74]) regionalen Verteilungsschlüssel in den Kantonen Bern, Uri und Wallis.[75] Im Kanton Tessin wird der Consiglio di Stato gar nach einem Proporzsystem gewählt.[76] Ferner wird der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft zwar nach dem Majorzverfahren gewählt[77], der Kanton überlässt es aber den Gemeinden, ob sie für ihre Exekutivorgane stattdessen das Verhältnisverfahren zur Anwendung bringen wollen[78] - wofür sich z.B. die Stadt Laufen entschieden hat.[79] Analoges gilt im Kanton bzw. in der Stadt Bern.[80] Diese Funktion verdeutlicht, dass Regierungsmitglieder nach der Wahl zwar eine kritische Distanz zu ihrer Partei zu wahren haben, dieser aber nicht den Rücken kehren müssen. Auch die Mitgliedschaft in Vereinen, Organisationen oder Verbänden ist grundsätzlich auch nach der Wahl zulässig.[81] Die Mitglieder der Regierungen sollen keine «politischen Eunuchen»[82] sein, sondern sind gerade gewählt, um die (pluralistische) Gesellschaft in der Exekutive zu widerspiegeln.[83],[84] Eine pluralistische Zusammensetzung birgt aber auch Zentrifugalkräfte, die ohne Führung schwieriger zu bändigen sein mögen. Dem ist bei der (Aus­)Wahl der Persönlichkeiten Rechnung zu tragen; diese sollten zumindest betreffend die wesentlichen Staatsziele übereinstimmen und zur kollegialen Zusammenarbeit fähig und bereit sein.[85] In einer pluralistisch zusammengesetzten Kollegialregierung dürften Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kollegiums an der Tagesordnung sein.[86] Idealerweise resultiert am Ende der Diskussion dennoch ein Kompromiss, den das Kollegium einstimmig beschliesst.[87] Gelingt der Konsens nicht, genügt die Stimmenmehrheit.[88]

In eine ähnliche Richtung wie der soeben genannte «Proporzgedanke» zielt die von Eichenberger genannte dritte Funktion des Kollegialprinzips, wonach ein Kollegium ein grösseres Mass an «Einsicht, Wissen und Können» mobilisieren kann als eine einzelne Person.[89] Im Kollegium kann und soll «Irrtumsausgleich» auf oberster Ebene stattfinden.[90]

V. Anwendung auf «smartvote» und die Berner Regierungsratswahlen

Anhand des soeben Ausgeführten soll nun die eingangs aufgeworfene Frage beantwortet werden, inwieweit das Ausfüllen des «smartvote»-Fragebogens im Vorfeld der Berner Regierungsratswahlen vom 27. März 2022 mit dem Kollegialprinzip vereinbar gewesen wäre.

1. Rechtsgrundlagen im Kanton Bern

Das Kollegialprinzip ist im Kanton Bern nicht auf Verfassungsstufe, sondern auf Gesetzesstufe festgehalten. Gemäss Art. 3 Abs. 1 OrG/BE[91] trifft der Regierungsrat grundlegende und wichtige Entscheidungen im Kollegium.[92] Die Verhandlungen[93] bzw. die Sitzungen[94] des Regierungsrates sind nicht öffentlich. Nicht erfasst von diesem Sitzungsgeheimnis sind dagegen die getroffenen Beschlüsse, die grundsätzlich veröffentlicht werden[95] - indes ohne Stimmenverhältnis und allfällige Mitberichte[96]. Bei Verletzungen des Kollegialprinzips kommen wie auf Bundesebene zunächst vom Kollegium ausgehende Sanktionen in Frage.[97] Anders als auf Bundesebene bestimmt im Kanton Bern aber das Parlament (und nicht die Regierung) über die Zuteilung der Aufgabenbereiche an die einzelnen Direktionen (vgl. Art. 21 Abs. 1 OrG/BE). Entsprechend obläge es dem Grossen Rat, einem Regierungsmitglied einen Geschäftsbereich zu entziehen (nur vorübergehende Änderungen will sich gemäss Art. 20 Abs. 5 OrV RR/BE hingegen auch der Regierungsrat vorbehalten).[98] Der Grosse Rat übt denn auch die (Ober-)Aufsicht über den Regierungsrat und die Verwaltung aus.[99] Anders als auf Bundesebene steht dem Parlament das schärfste Sanktionsmittel (die Nichtwiederwahl) aber nicht zu, weil die Mitglieder des Berner Regierungsrats - wie alle kantonalen Regierungen[100] - vom Volk gewählt werden.[101]

2. «Smartvote»-Fragebogen

Bei den Regierungsratswahlen im Kanton Bern vom 27. März 2022 bestand der «smartvote»-Fragebogen «Deluxe» aus 58 Fragen und der Fragebogen «Rapide» aus 31 Fragen. Der Fragebogen «Rapide» bestand aus einer Auswahl der Fragen aus dem grösseren Fragebogen «Deluxe». Der Fragebogen «Deluxe» enthielt Fragen zu zwölf verschiedenen Themen.[102] Ein 13. «Kapitel» stellte zum Schluss noch allgemeinere Fragen zu Werthaltungen. Bei den Fragen in den ersten 12. «Kapiteln» konnte jeweils mit «ja», «eher ja», «eher nein» oder «nein» geantwortet werden. Überdies bestand die Möglichkeit, eine Frage zu gewichten (mit einem «-» oder «+»). Fragen, die persönlich von besonderer Bedeutung sind, konnte man mit einem «+» kennzeichnen et vice versa. Schliesslich bestand die Möglichkeit, eine Frage nicht zu beantworten («keine Antwort»). Bei den Werthaltungen im 13. Kapitel musste man auf einer Skala von «gar nicht einverstanden» bis «vollständig einverstanden» die eigene Meinung zum Ausdruck bringen, wobei auch hier jeweils die Option «keine Antwort» offenstand.

Der Abstraktionsgrad der Fragen war sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gab es Grundsatzfragen, die sich nicht auf ein spezifisches Geschäft bezogen (z.B. «Soll der Kanton Bern die Ansiedlung neuer Firmen im Kanton steuerlich unterstützen?» oder «Soll der Kanton das Service-Public-Angebot [...] in den ländlichen Regionen stärker fördern?»). Besonders abstrakt formuliert waren die wertebezogenen Fragen im 13. «Kapitel».[103] Am anderen Ende des Spektrums standen verschiedene Fragen, die sich auf konkrete (kurz bevorstehende oder zurückliegende) Vorlagen bezogen (z.B. «Befürworten Sie das geplante Stauseeprojekt unterhalb des Triftgletschers im Gadmertal?» oder «Eine kantonale Initiative verlangt eine Elternzeit von 24 Wochen […]. Unterstützen Sie diese Forderung?»).[104] In eine dritte Kategorie gehörten Fragen, die nicht in den Kompetenzbereich des Kantons Bern fallen (z.B. «Befürworten Sie eine Erhöhung des Rentenalters [...] für Frauen und Männer?», «Sollen alle in der Schweiz geborenen Personen das Schweizer Bürgerrecht erhalten», «Soll das bestehende Bauverbot für neue Atomkraftwerke aufgehoben werden?» sowie zwei Fragen zum Verhältnis der Schweiz zur EU).

3. Vereinbarkeit mit dem Kollegialprinzip

Der Regierungsrat des Kantons Bern begründete die Nichtteilnahme an der «smartvote»-Umfrage damit, dass dies einen Verstoss gegen das Kollegialprinzip bedeuten würde (vgl. vorne, Rz. 1). U.E. gebietet das Kollegialprinzip hingegen eine Differenzierung: Fragen zu kurz bevorstehenden oder gerade abgeschlossenen konkreten Geschäften stehen tatsächlich in einem Spannungsverhältnis zum Kollegialprinzip. Mit der Beantwortung solcher Fragen läuft ein Regierungsmitglied Gefahr, gegen die oben genannten Verhaltenspflichten (insb. I und III) zu verstossen.[105]

Wie der Regierungsrat in seiner Medienmitteilung (vgl. vorne Fn. 2) selbst andeutete[106], trifft dies aber nicht auf alle Fragen zu. Wie oben gezeigt wurde, ist es gerade eine zentrale Funktion des Kollegialprinzips, Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Werthaltungen in der Regierung vereinen zu können. Mit diesen Werthaltungen ist die Person in die Regierung gewählt worden und mit diesen will es bei erneuter Kandidatur auch wiedergewählt werden. Entsprechend ist es keine Verletzung, sondern gleichsam eine Forderung des Kollegialprinzips, dass bisherige Regierungsmitglieder (und neu zu wählende Kandidierende) ihre Haltungen zu abstrakteren wertbezogenen Fragen vor der (Wieder-)Wahl offenlegen. In der Regel dürften auch Fragen zu Gegenständen, die in der Kompetenz des Bundes liegen, ein unproblematisches (und aus Sicht der Wahlberechtigten wohl auch geeignetes[107]) Mittel darstellen, um die politischen Ansichten der Kandidierenden zu erfragen.

Nach dem Gesagten greift es zu kurz, die Teilnahme an der gesamten «smartvote»-Umfrage mit Blick auf das Kollegialprinzip zu verweigern, zumal bei (zu) konkreten Fragen die Möglichkeit der Enthaltung besteht («keine Antwort»).[108] Dennoch empfehlen wir «smartvote», bei Exekutivwahlen zukünftig auf konkrete Fragen zu aktuellen kantonalen Vorlagen wie z.B. «Stimmen Sie der kantonalen Volksinitiative XY zu?» zu verzichten. Auch die verbleibenden (abstrakteren oder auf Bundesebene geregelten) Fragen können es erlauben, die verschiedenen Werthaltungen der Kandidierenden zu erfragen. Die hier formulierte Forderung nach Transparenz betreffend die Werthaltungen der Kandidierenden lässt sich auch mit Art. 34 Abs. 2 BV untermauern, der die freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe der Wahlberechtigten schützt.[109] Gemäss bundesgerichtlicher Standardformel soll damit «garantiert werden, dass jeder Stimmberechtigte seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und entsprechend mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen kann.»[110] Elektronische Wahlhilfen wie «smartvote» können - mit der hier vorgeschlagenen Ausgestaltung der Fragen und bei hinreichender Absicherung gegen Missbrauch - ein Mittel sein, um bei Exekutivwahlen dazu beizutragen.[111]



[1] Zur Funktionsweise der Wahlhilfe schreibt «smartvote»: «Vor den Wahlen beantworten die Kandidierenden den smartvote-Fragebogen. Damit wird ihr politisches Profil erfasst. Anschliessend können die Wähler/-innen auf der smartvote-Website dieselben Fragen beantworten. Ihre Antworten werden mit denjenigen der Kandidierenden verglichen. Danach wird aufgelistet, welche Kandidierenden bzw. Listen die grösste politische Übereinstimmung mit Ihnen aufweisen.»

[2] Pressemitteilung der Staatskanzlei Kanton Bern vom 20. Januar 2022 (Verzicht auf Smartvote-Teilnahme aus Rücksicht auf das Kollegialitätsprinzip).

[3] Pressemitteilung der Staatskanzlei Kanton Bern vom 20. Januar 2022 (Fn. 2).

[4] Die nachfolgenden Daten stammen aus der Datenbank von «smartvote» («archivierte Wahlen»).

[5] VD (Wahl vom 10. April 2022, alle 4 von den 4 bisherigen Regierungsmitgliedern verzichteten auf eine «smartvote»-Teilnahme); BS (29. November 2020, 5 von 5); AG (18. Oktober 2020, 3 von 3); SZ (17. Mai 2020, 5 von 5).

[6] FR (Wahl vom 28. November 2021, alle 4 von den 4 bisherigen Regierungsmitgliedern füllten den «smartvote»-Fragebogen aus), NE (9. Mai 2021, 3 von 3), SO (25. April 2021, 3 von 3), VS (28. März 2021, 3 von 3), JU (8. November 2020, 5 von 5), SG (19. April 2020, 4 von 4), TG (15. März 2020, 4 von 4), UR (8. März 2020, 5 von 5).

[7] Vgl. 20 Minuten online vom 27. Februar 2016 («Bin links, sollte aber SVP wählen»).

[8] Carmen Haag (damalige CVP), Monika Knill (SVP) und Cornelia Komposch (SP) haben entgegen ihrer Begründung aus dem Jahr 2016 vier Jahre später den Fragebogen ausgefüllt. Ähnlich verhält es sich im Kanton St. Gallen bei Sicherheits- und Justizdirektor Fredy Fässler (SP), der 2016 ebenfalls unter Berufung auf das Kollegialitätsprinzip auf die Teilnahme bei «smartvote» verzichtet hatte, 2020 dann aber teilnahm.

[10] Die Begriffe Kollegialitätsprinzip und Kollegialprinzip werden gemeinhin zwar synonym verwendet (vgl. Denise Brühl-Moser, Die schweizerische Staatsleitung, Bern 2007, S. 616); u.E. ist letzterer aber der passendere Ausdruck (vgl. Fn. 70 u. 92), weshalb nachfolgend grundsätzlich vom Kollegialprinzip gesprochen wird.

[11] Auf die Tatsache, dass die Aussagekraft der «smartvote»-Umfragen in der Politikwissenschaft nicht unumstritten zu sein scheint (vgl. etwa die Voten in Felix Schindler, Tages-Anzeiger online vom 16. Oktober 2015 [Kritik an Wahlhilfe-Plattform]), kann in diesem Aufsatz nicht detailliert eingegangen werden.

[12] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101).

[13] Bereits in früheren Bundesverfassungen war das Kollegialprinzip ausdrücklich festgehalten: So hielt z.B. Art. 103 Abs. 1 Satz 2 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 fest: «Der Entscheid über die Geschäfte geht vom Bundesrat als Behörde aus.» Mit ähnlichen Worten hatte bereits die Bundesverfassung des Jahres 1848 in Art. 91 die kollegiale Erledigung der Geschäfte als die allein zulässige Art der Geschäftsbehandlung vorgeschrieben (siehe hierzu Fritz Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, § 22 S. 190).

[14] Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010).

[15] «Der Bundesrat trifft seine Entscheide als Kollegium.»

[16] Vertreten bedeutet mehr als nur «nicht bekämpfen» (vgl. Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 177 BV N 8).

[17] Vgl. auch Art. 8 Abs. 1 BGÖ (Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung vom 17. Dezember 2004 [BGÖ; SR 152.3]). Vgl. zum Mitberichtsverfahren Art. 15 RVOG sowie Thomas Sägesser, Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz RVOG, Kommentar, Bern 2007, Art. 15 RVOG N 6 ff.; und Bernhard Ehrenzeller, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl., Zürich 2014, Art. 177 N 9 (zit. SGK BV-Bearbeiter:in).

[19] Vgl. Sägesser (Fn. 17), Art. 21 RVOG N 9.

[20] Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (StGB; SR 311.0).

[21] Niklaus Oberholzer, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht, 4. Aufl., Basel 2019, Art. 320 StGB N 5. Auf den ersten Blick ebenfalls einschlägig könnte Art. 293 StGB sein, wonach mit Busse bestraft wird, wer aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch einen gesetzmässigen Beschluss der Behörde als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit bringt. Der Schutzzweck dieser Bestimmung liegt im «Interesse einer möglichst freien, durch keinerlei unzeitige Beeinflussung von aussen behinderten Meinungsbildung in der Kollegialbehörde» (Stefan Trechsel / Hans Vest, in: Pieth/Trechsel [Hrsg.], Praxiskommentar Strafrecht, 4. Aufl., Zürich et al. 2021, Art. 293 StGB N 1 m.w.H. [zit. PK StGB-Bearbeiter:in]). Wenn beide Tatbestände erfüllt sind, wird Art. 293 StGB aber von Art. 320 StGB konsumiert.

[22] Art. 14 VG (Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten vom 14. März 1958 [VG; SR 170.32]).

[23] Vgl. auch Giovanni Biaggini, in: Biaggini/Gächter/Kiener (Hrsg.), Staatsrecht, 3. Aufl., Zürich 2021, §19 N 66 (zit. Bearbeiter, Staatsrecht).

[24] Sägesser (Fn. 17), Art. 12 RVOG N 34; SGK BV-Ehrenzeller, Art. 177 N 22; a.A. Matthieu Carrel, in: Martenet/Dubey (Hrsg.), Commentaire romand, Constitution fédérale, 1. Aufl., Basel 2021, Art. 177 N 30 (zit. CR Cst.-Bearbeiter:in).

[25] Kaspar Villiger, Eine geniale Schweizer Erfindung, NZZ vom 4. Januar 2022, S. 32.

[26] SGK BV-Ehrenzeller, Art. 177 N 21.

[27] Walter Haller / Alfred Kölz / Thomas Gächter, Allgemeines Staatsrecht, 6. Aufl., Zürich et al. 2020, N 907.

[28] Vgl. Andreas Auer, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Bern 2016, N 213.

[29] Siehe die Auflistung bei Auer (Fn. 28), N 213 Fn. 347 sowie bei Denise Buser, Kantonales Staatsrecht, 2. Aufl., Basel 2011, N 407 Fn. 757.

[30] Siehe die Beispiele bei Auer (Fn. 28), N 213 Fn. 348.

[31] Art. 5 und 21 GR StK/AI (Geschäftsreglement der Standeskommission des Kantons Appenzell Innerrhoden [GR StK/AI; GS 172.113]).

[32] Loi sur l'organisation du Conseil d'Etat et de l'administration cantonale du 22 mars 1983 (LCE/NE; RSN 152.100).

[33] So z.B. im Kanton Zürich gem. Art. 11 Abs. 1 OG RR/ZH (Organisationsgesetz des Kantons Zürich vom 6. Juni 2005 [OG RR/ZH; OS 172.1]) oder im Kanton Obwalden gem. Art. 18 OV/OW (Verordnung über die Organisation des Regierungsrates und der kantonalen Verwaltung des Kantons Obwalden vom 7. September 1989 [OV/OW; GDB 133.11]).

[34] Z.B. § 20 Abs. 2 OG/BS (Gesetz betreffend die Organisation des Regierungsrates und der Verwaltung des Kantons Basel-Stadt vom 22. April 1976 [OG/BS; SG 153.100]), Art. 41 SVOG/FR (Gesetz über die Organisation des Staatsrates und der Verwaltung des Kantons Freiburg vom 16. Oktober 2001 [SVOG/FR; SGF 122.0.1]), Art. 15 Organisationsgesetz/SH (Gesetzes über die Organisation der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit vom 18. Februar 1985 [Organisationsgesetz/SH; SHR 172.100]), § 18 GRR/TG (Geschäftsreglement des Regierungsrates des Kantons Thurgau vom 19. Dezember 1989 [GRR/TG; RB 172.1]).

[35] Vgl. zu möglichen Funktionen eines derartigen Protokollvermerks Heinrich Ueberwasser, Das Kollegialprinzip, Basel et al. 1989, S. 56, Fn. 4.

[37] Art. 17 ff. GschO/SG (Geschäftsordnung der Regierung des Kantons St. Gallen vom 5. Mai 1997 [GeschO/SG; sGS 141.2]), Art. 4 OrG/AR (Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 29. November 2004 [OrG/AR, bGS 142.12]).

[39] Art. 6 RVOG/GL (Gesetz über die Organisation des Regierungsrates und der Verwaltung des Kantons Glarus vom 2. Mai 2004 [RVOG/GL, GS II A/3/2]).

[40] Art. 63 Abs. 1 KV/SO (Verfassung des Kantons Solothurn [KV SO; BGS 111.1]).

[41] Z.B. Art. 33 Abs. 4 SVOG/FR.

[42] Vgl. zur umstrittenen Lage auf Bundesebene vorn, Rz. 9.

[43] Biaggini, Staatsrecht (Fn. 23), § 19 N 60; Markus Müller, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Bundesverfassung (BV), Basel 2015, Art. 177 N 8 (zit. BSK BV-Bearbeiter:in).

[44] Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Schlussbericht, 1973, S. 519 (zit. Bericht Wahlen).

[45] Bericht Wahlen (Fn. 44), S. 519 f.; Bernhard Ehrenzeller, Kollegialität und politische Verantwortlichkeit im schweizerischen Konkordanzsystem, ZBl 1999, S. 149; Sägesser (Fn. 17), Art. 12 N 7; Stellungnahme des Bundesrates zum Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (Organisations- und Führungsprobleme bei der Pensionskasse des Bundes [PKB] und Rolle des Eidgenössischen Finanzdepartementes in Bezug auf die PKB), S. 103. Vgl. umfassend zur Selbsttätigkeit Ueberwasser (Fn. 35), S. 45 ff.

[46] Vgl. dazu insb. Biaggini (Fn. 16), Art. 177 BV N 7 ff. Insoweit mag man das Kollegialprinzip mit dem Konzept der Neutralität vergleichen, das sich aus dem relativ klar geregelten Neutralitätsrecht und der in seiner Tragweite undeutlicheren Neutralitätspolitik zusammensetzt.

[47] Diese Begrifflichkeit verwendend Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl., Bern 2021, N 1346.

[48] Giovanni Biaggini weist darauf hin, dass das in Art. 5 Abs. 1 BV verankerte Bestimmtheitsgebot einer direkt auf Art. 177 Abs. 1 BV rekurrierenden Begründung von (rechtlichen) Pflichten Grenzen setzt - was auch für entsprechende kantonale Bestimmungen gilt (Entwicklungen und Spannungen im Verfassungsrecht, ZBl 2010, S. 32).

[49] So Peter Saladin, Probleme des Kollegialitätsprinzips, ZSR 1985 I, S. 280.

[50] Z.B. zählt es auch Brühl-Moser (Fn. 10), S. 627, zum Kern des Kollegialprinzips, dass Meinungsverschiedenheiten, die innerhalb des Kollegiums bestehen mögen, nicht öffentlich diskutiert werden. Vgl. ferner Kurt Eichenberger, in: Aubert/Eichenberger/Müller/Rhinow/Schindler (Hrsg.), Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Art. 103 Abs. 1 aBV N 21 (zit. Bearbeiter:in, Komm. aBV).

[51] Tschannen (Fn. 47), N 1346; explizit für den Bundesrat Art. 12 Abs. 2 RVOG; siehe vorne, Rz. 7.

[52] Vorne, Rz. 7 und 12. Aufgrund der Öffentlichkeit der Regierungssitzungen gilt diese Regel für den Kanton Solothurn nicht. Andere Kantone sehen zwar vor, dass zumindest die Regierungsbeschlüsse veröffentlicht werden. Als Ausfluss des Kollegialprinzips sind das Stimmenverhältnis oder abweichende Anträge davon aber ausgenommen (so z.B. im Kanton Zürich: § 48 Abs. 2 Satz 2 VOG RR/ZH [Verordnung über die Organisation des Regierungsrates und der kantonalen Verwaltung vom 18. Juli 2007 (VOG RR/ZH; OS 172.11)] betreffend Minderheitsantrag; für den Kanton Zug vgl. das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug V 2016/1 vom 30. März 2016; für den Kanton Basel-Stadt vgl. das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt VD.2019.130 vom 25. April 2020 E. 5). Vgl. für den Bund auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-6313/2015 vom 27. April 2016 E. 5.7.4, wonach Unterlagen, die Rückschlüsse auf die Standpunkte einzelner Bundesratsmitglieder zulassen, nicht dem Öffentlichkeitsprinzip unterstehen.

[53] Brühl-Moser (Fn. 10), S. 627 und 633 f.

[54] Votum Hans Hofmann, AB 2005 S 995.

[55] Botschaft vom 12. Februar 2003 zum Bundesgesetz über die Öffentlichkeit der Verwaltung (BBl 2003 1963), S. 2007; Brühl-Moser (Fn. 10), S. 641; für weniger Zurückhaltung hingegen SGK BV-Ehrenzeller, Art. 177 N 11. Umgekehrt setzt die Pflicht zur Identifikation mit dem später getroffenen Kollegiumsentscheid Anreize zur Kompromisssuche innerhalb des Kollegiums.

[56] Insb. wenn die bekannt gewordene Haltung in den Medien auf grosse öffentliche Zustimmung stösst.

[57] Sägesser (Fn. 17), Art. 12 RVOG N 7. Die grosse Bedeutung der gemeinsamen Beratung und Willensbildung ergibt sich aus dem Proporzgedanken, dem das Kollegialprinzip entgegenkommt (vgl. hinten, Rz. 21).

[58] Vgl. für den Bund explizit Art. 4 RVOG. Freilich ist auf Bundesebene das griffigste politische Sanktionsmittel die Nichtwiederwahl durch die Bundesversammlung, die beim geltenden Einzelwahlmodus aber auch nur einzelne Mitglieder des Bundesrates treffen kann (vgl. hierzu Ehrenzeller [Fn. 45], S. 156). Dagegen sehen mehrere Kantone ein Abberufungsrecht des Stimmvolks vor, das die Kantonsregierung in corpore betrifft (zum Abberufungsrecht im Kanton Bern siehe hinten, Fn. 101).

[59] Vgl. SGK BV-Ehrenzeller, Art. 177 N 18.

[60] Auer (Fn. 28), N 212. Für die Ausnahmen in einigen Kantonen siehe vorne, Rz. 11 f..

[61] Diesen Tatbestand erfasst die Regel (II). Die einschlägigen strafrechtlichen Normen sind Art. 320 und 293 StGB, s. vorne, Rz. 7.

[62] Vgl. PK StGB-Trechsel/Vest, Art. 320 N 3.

[63] Hierzu ausführlich Christoph Auer, Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) versus Pressefreiheit (Art. 10 EMRK), ZBJV 2009, S. 68 ff.; Brühl-Moser (Fn. 10), S. 627.

[64] Vgl. Damian Wyss / Micha Herzog, Urteilsbesprechung: BGer 1C_662/2019: «Magistrale» Unterstützung im Zürcher Ständeratswahlkampf? AJP 2020, S. 1332 f. Fn. 45 mit Verweis auf René Rhinow / Markus Schefer / Peter Uebersax, Schweizerisches Verfassungsrecht, 3. Aufl., Basel 2016, N 1212. Vgl. ferner Biaggini (Fn. 16), Art. 16 N 5 sowie Markus Müller, Das besondere Rechtsverhältnis, Bern 2003, S. 45 ff.

[65] Das betreffende Mitglied muss sich diesfalls in der Öffentlichkeit aber zurückhalten (Eichenberger, Komm. aBV, Art. 103 Abs. 1 N 20). Handelt es sich um ein Geschäft des betreffenden Mitglieds selbst, hat das Kollegium zu bestimmen, wer die Vorlage an seiner Stelle vertritt (Sägesser [Fn. 17], Art. 12 RVOG N 31). Gemäss Bundesrat ist es mit dem Einverständnis des Kollegiums auch zulässig, dass das betreffende Mitglied bekannt gibt, es habe vor dem Beschluss eine andere Meinung gehabt, vertrete nun aber den Mehrheitsentschied (Antwort des Bundesrates auf eine einfache Anfrage von Hanspeter Seiler, 98.1102). Es scheint aber fraglich, ob in solchen Fällen noch von einer glaubwürdigen Vertretung gesprochen werden kann, die den Mehrheitsentscheid nicht zu stark schwächt.

[66] CR Cst.-Carrel, Art. 177 N 29; SGK BV-Ehrenzeller, Art. 177 N 20; Eichenberger, Komm. aBV, Art. 103 Abs. 1 N 20; BSK BV Müller, Art. 177 N 16; Renato De Pretto, Bundesrat und Bundespräsident: Das kollegiale Regierungssystem schweizerischer Prägung, Grüsch 1988, S. 130 f.; Saladin (Fn. 49), S. 279 und 284 f. Das am häufigsten zitierte Beispiel aus der Praxis ist alt Bundesrat Kurt Furgler (CVP), der im Jahre 1974 die Vertretung der vom Bundesrat vorgeschlagenen Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs als mit seinem Gewissen nicht vereinbar erachtete.

[67] Tschannen (Fn. 47) N 1349.

[68] Alt Bundesrat Didier Burkhalter machte in einem «RTS»-Interview nach seinem Rücktritt öffentlich, dass er in der für ihn grundlegenden Frage der Waffenlieferungen in Konfliktgebiete dezidiert eine andere Meinung als die Mehrheit im Bundesrat vertreten hatte. Seine Abweichung in für ihn fundamentalen Fragen stellte gemäss diesem Interview vom 29. April 2018 einen wesentlichen Grund für seinen Rücktritt dar.

[69] Siehe bereits vorne, Rz. 14.

[70] Brühl-Moser (Fn. 10), S. 616. Insofern ist es zu begrüssen, dass die Sachüberschrift zu Art. 177 BV vom Kollegialprinzip und nicht vom Kollegialitätsprinzip spricht (vgl. auch Biaggini, [Fn. 16], Art. 177 BV N 3). Der Akzent gilt damit der «Institution der Kollegialregierung» und nicht dem persönlichen Verhältnis unter den Mitgliedern (SGK BV-Ehrenzeller, Art. 177 N 2).

[71] Vgl. Kurt Eichenberger, Organisatorische Probleme des Kollegialsystems, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, Band 7, Bern 1967, S. 72.

[72] Der Begriff der «Intra-Organ-Kontrolle» geht auf Karl Loewenstein (Verfassungslehre, Tübingen 1959) zurück.

[73] Eichenberger (Fn. 71), S. 72 f.; vgl. auch Stellungnahme des Bundesrates zum Bericht der PUK (Fn. 45), S. 104.

[74] Vgl. Andrea Marcel Töndury, Bundesstaatliche Einheit und kantonale Demokratie, Zürich et al. 2004, S. 241.

[75] Vgl. Art. 85 Abs. 3-4 KV/BE (Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 [KV/BE; BSG 101.1]); Art. 95 Abs. 2 KV/UR (Verfassung des Kantons Uri vom 28. Oktober 1984 [KV/UR; RB 1.1101]); Art. 52 Abs. 2-3 KV/VS (Verfassung des Kantons Wallis vom 8. März 1907 [KV/VS; SGS 101.1]).

[76] Art. 66 KV/TI (Costituzione della Repubblica e Cantone Ticino del 14 dicembre 1997 [KV/TI; CAN 101.000]), vgl. auf Bundesebene immerhin Art. 175 Abs. 4 BV.

[77] § 27 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 e contrario KV/BL (Verfassung des Kantons Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984 [KV/BL; SGS 100]).

[78] § 51 Abs. 1 Gemeindegesetz (Gesetz über die Organisation und die Verwaltung der Gemeinden des Kantons Basel-Landschaft vom 28. Mai 1970 (Gemeindegesetz; SGS 180).

[79] Vgl. § 5 Abs. 1 lit. a Gemeindeordnung der Einwohnergemeinde Laufen vom 30. September 2011 (Reglement 100).

[80] Art. 88 Abs. 1 der Gemeindeordnung der Stadt Bern vom 3. Dezember 1998 (SSSB 101.1).

[81] Im Jahr 2017 haben die damaligen Mitglieder des Bundesrates eine (teils unvollständige) Liste ihrer Vereinsmitgliedschaften veröffentlicht (einsehbar in NZZ Online vom 24. Oktober 2017 [In diesen Vereinen sind die Bundesräte Mitglied]).

[82] Michael Schoenenberger, NZZ vom 25. Oktober 2017, S. 11 («Bundesräte sind keine Eunuchen»).

[83] Deshalb meint die gleichberechtigte Stellung der Mitglieder auch, dass sie die Möglichkeit haben müssen, sich mit gleichen Einflusschancen am Willensbildungsprozess des Gremiums zu beteiligen (vgl. Brühl-Moser [Fn. 10] S. 620).

[84] Mitunter deshalb ist es u.E. auch gerechtfertigt, dass ein Regierungsmitglied in Ausnahmefällen bei Differenzen in grundlegenden und politisch identitätsstiftenden Positionen vom kollegialen Einstehen-Müssen dispensiert wird (siehe vorne, Rz. 17 a.E.).

[85] Bericht Wahlen (Fn. 44), S. 519. Tschannen (Fn. 47), N 1346; Ueberwasser (Fn. 35, S. 53) spricht in diesem Zusammenhang von «Homogenitätsfaktoren».

[86] Vgl. Sägesser (Fn. 17), Art. 12 RVOG N 28.

[87] Adrian Vatter, Der Bundesrat, Zürich 2020, S. 236 («Die Regel sollte [...] der auf Konsens beruhende Einstimmigkeitsentscheid sein»); Eichenberger (Fn. 71), S. 75; Eichenberger Komm. aBV, Art. 103 Abs. 1 N 16; Martin Breitenstein, Reform der Kollegialregierung, Basel et al. 1993, S. 37; Wolf Linder / Sean Mueller, Schweizerische Demokratie, 4. Aufl., Bern 2017, S. 282.

[88] Vgl. für den Bund Art. 19 Abs. 2 RVOG. Die strikte Beachtung eines Einstimmigkeitserfordernisses würde die Regierungsfähigkeit ernsthaft gefährden (Ueberwasser [Fn. 35], S. 47 und 51). Das Mehrheitsprinzip steht aber in einem Spannungsverhältnis zur «Einheitsvorstellung», die sich aus dem Kollegialprinzip ergibt (Rhinow/Schefer/Uebersax [Fn. 64], N 2539).

[89] Eichenberger (Fn. 71), S. 73.

[90] Ueberwasser (Fn. 35), S. 52.

[91] Gesetz über die Organisation des Regierungsrates und der Verwaltung vom 20. Juni 1995 (OrG/BE; BSG 152.01); vgl. auch die Konkretisierung in Art. 4 Abs. 1 OrV RR/BE (Verordnung über die Organisation des Regierungsrates vom 18. Oktober 1995 [OrV RR/BE; BSG 152.11]).

[92] Auch hier gilt der Fokus demnach der Institution der «Kollegial»regierung (vgl. Fn. 70).

[93] So Art. 7 Abs. 2 OrG/BE.

[94] So Art. 7 Abs. 1 IG/BE (Gesetz über die Information der Bevölkerung vom 2. November 1993 [IG/BE; BSG 107.1]).

[96] Art. 25a Abs. 1 VMV/BE (Verordnung über das Vernehmlassungs- und das Mitberichtsverfahren vom 26. Juni 1996 [VMV/BE; BSG 152.025]).

[97] Wenn man für den Bundesrat aus dessen «Aufsichts- und Leitungsfunktion» gegenüber der Verwaltung eine Kompetenz zur Erteilung von Weisungen im Einzelfall ableitet (vgl. vorne, Rz. 9), kommt dies auch für den Berner Regierungsrat in Frage, weil sich die Bestimmungen im OrG/BE insoweit mit dem RVOG des Bundes decken (vgl. Art. 23 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. f OrG/BE).

[98] Z.B. wurde dem ehemaligen SP-Regierungsrat Samuel Bhend 2003 die Zuständigkeit für die Betreuung von Asylsuchenden entzogen und der FDP-Polizeidirektorin Dora Andres übertragen (Otto Hostettler, Berner Zeitung vom 21. Februar 2003, S. 34 [Asylpolitik: Bhend entmachtet, jetzt übernimmt Dora Andres das Zepter]).

[99] Art. 78 Abs. 1 KV/BE und Art. 4 GRG (Gesetzes über den Grossen Rat vom 4. Juni 2013 [GRG; BSG 151.21]).

[100] Auer (Fn. 28), N 197.

[101] Art. 56 Abs. 1 lit. b KV/BE. 30'000 Stimmberechtigte können allerdings jederzeit eine Gesamterneuerung der Kantonsregierung verlangen. Das Begehren ist innert drei Monaten nach Einreichung der Volksabstimmung zu unterbreiten (vgl. Art. 57 KV/BE).

[102] «1. Sozialstaat & Familie» (4 Fragen); «2. Gesundheitswesen» (4 Fragen), «3. Bildung» (4 Fragen), «4. Migration & Integration» (5 Fragen), «5. Gesellschaft, Kultur & Ethik» (5 Fragen), «6. Finanzen & Steuern» (4 Fragen), «7. Wirtschaft & Arbeit» (6 Fragen), «8. Raumplanung» (2 Fragen), «9. Energie & Umwelt» (6 Fragen), «10. Verkehr & Infrastruktur» (3 Fragen), «11. Politisches System & Aussenbeziehungen» (5 Fragen), «12. Sicherheit & Polizei» (3 Fragen).

[103] Z.B. waren folgende Aussagen zu beurteilen: «Die Bestrafung Krimineller ist wichtiger als deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft»; «Ein stärkerer Umweltschutz ist notwendig, auch wenn er zu Lasten des Wirtschaftswachstums durchgesetzt werden muss»; «Die fortschreitende Digitalisierung bietet deutlich mehr Chancen als Risiken.»

[104] Zu dieser Initiative hat die Regierung am 19. Mai 2022, also rund zwei Monate nach den Regierungsratswahlen, Stellung genommen und beantragte dem Grossen Rat, die Initiative abzulehnen.

[105] Vgl. Rz. 16. Wie an derselben Stelle bereits ausgeführt, dürfte es sich in der Regel aber nicht um eine strafrechtlich sanktionierbare Verletzung des Amtsgeheimnisses handeln.

[106] Indem er nicht von allen, sondern von «etlichen Fragen» sprach.

[107] Insb. das politische Interesse an eidg. Volksinitiativen ist in der Bevölkerung gross, wie statistische Auswertungen aus dem Kanton Zürich unlängst bestätigten (vgl. Pressemitteilung des Kantons Zürich vom 13. Juli 2022 [Stimmbeteiligung aus langfristiger Perspektive], wonach eidg. Initiativen immer öfters «Beteiligungszugpferd» eines Abstimmungstermins sind).

[108] Es wäre auch denkbar gewesen, dass sich die betroffenen Regierungsmitglieder im Voraus darüber verständigt hätten, welche Fragen sie nicht beantworten.

[109] Weitergehend Isabelle Häner Eggenberger, Öffentlichkeit und Verwaltung, Zürich 1990, S. 317, die es bei vom Volk gewählten Exekutivbehörden als nicht ausreichend erachtet, wenn Sitzungsprotokolle veröffentlicht werden, die bei abweichenden Meinungen im Kollegium keine Rückschlüsse zulassen, wer welche Meinung vertreten hat («gerade wegen dem Erfordernis der unverfälschten Willensbildung im Hinblick auf den Wahlentscheid»).

[110] Statt vieler BGE 139 I 195 E. 2.

[111] Vgl. auch Haller/Kölz/Gächter (Fn. 27), N 1330.