I. Kontext der Vorschläge
Der Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen (sog. «Schengen-Raum») sah sich in den letzten Jahren verschiedenen Krisen und grösseren Herausforderungen gegenübergestellt. Die Kommission stellte daher im Zusammenhang mit dem neuen Migrations- und Asylpaket am 14. Dezember 2021 zwei Vorschläge für neue Verordnungen vor, welche drei Problemfelder der letzten Jahre angehen sollen: Das Migrationsmanagement an den Aussengrenzen während einer Pandemie,[1] die Instrumentalisierung von Migranten durch Drittstaaten[2] sowie die vermehrte Wiedereinführung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen (Binnengrenzkontrollen) durch die Mitgliedstaaten seit 2015.[3] Alle drei Punkte sollen durch Änderungen des Schengener Grenzkodex[4] (SGK) angegangen werden, wobei die Kommission hinsichtlich des zweiten Punkts zudem die Annahme einer eigenen Verordnung vorschlägt (Instrumentalisierungsverordnung, Instr-VO)[5].
Der vorliegende Beitrag soll folglich in einem ersten Schritt einen Überblick über die Vorschläge der Kommission verschaffen (II.), um diese anschliessend einer kritischen Würdigung zu unterziehen (II.).
II. Vorgeschlagene Neuerungen
1. Änderung des Schengener Grenzkodex
a) Vorgehen an den Aussengrenzen bei einer Pandemie
Um in Zukunft im Fall einer Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch eine Krankheit mit epidemischem Potenzial das einheitliche Vorgehen der Mitgliedstaaten an den Aussengrenzen sicherstellen zu können, sieht der Vorschlag der Kommission bestimmte Massnahmen vor.[6]
Neu soll der Rat mittels eines Durchführungsrechtsakts vorübergehend verbindliche Reisebeschränkungen an den Aussengrenzen einführen können (nArt. 21a Abs. 2 SGK). Konkret können aufgrund dieses Rechtsakts Einreisebeschränkungen und weitere Massnahmen wie Tests, Quarantäne und Selbstisolierung angeordnet werden (nArt. 21a Abs. 2 SGK). Von den Einreisebeschränkungen kategorisch ausgenommen sind Personen, die nach dem Unionsrecht einen Anspruch auf freien Personenverkehr haben sowie aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige und deren Familienangehörige (nArt. 21a Abs. 3 SGK). Für alle anderen Personenkategorien gilt der Grundsatz (vgl. nArt. 21a Abs. 4 SGK), wonach nicht unbedingt notwendigen Reisen (vgl. nArt. 2 Nr. 29 SGK) Beschränkungen auferlegt werden können, wobei jedoch die Möglichkeit besteht, Personengruppen hiervon auszunehmen. Folglich unterliegen unbedingt notwendige Reisen (vgl. nArt. 2 Nr. 28 und neuer Annex XI SGK) grundsätzlich keinen Beschränkungen,[7] wobei auch hier gewisse Ausnahmen möglich sind. Der Durchführungsrechtsakt hat weiter die Bedingungen zu bestimmen, unter denen nicht unbedingt notwendige Reisen Beschränkungen unterliegen oder haiervon ausgenommen werden können (vgl. nArt. 21a Abs. 4 SGK).
b) Vorgehen an den Aussengrenzen bei einer Instrumentalisierung von Migranten
Da es sich bei der Instrumentalisierung von Migranten um ein neuartiges Phänomen innerhalb des europäischen Migrations- und Asylrechts handelt, soll Art. 2 SGK um eine entsprechende Definition ergänzt werden (vgl. neue Nr. 27). Folglich handelt es sich hierbei um «eine Situation, in der ein Drittstaat irreguläre Migrationsströme in die EU entstehen lässt, indem er Reisen von Drittstaatsangehörigen an die Aussengrenzen […] aktiv fördert oder erleichtert». Die Definition setzt weiter voraus, dass diese Handlungen einerseits die Annahme nahelegen müssen, dass der Drittstaat beabsichtigt, die EU oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren, und andererseits wesentliche Funktionen des betreffenden Mitgliedstaats potenziell gefährden.[8]
Um in einer solchen Situation der Instrumentalisierung das reibungslose Funktionieren des Schengen-Raums weiterhin sicherstellen zu können, sieht der Verordnungsvorschlag zwei Änderungen des Schengener Grenzkodex vor. Erstens sollen die Mitgliedstaaten in dieser Situation die Möglichkeit haben, die Anzahl der Grenzübergangsstellen oder deren Öffnungszeiten zu beschränken (vgl. nArt. 5 Abs. 4 SGK). Die ergriffenen Massnahmen müssten jedoch verhältnismässig sein und dürften nicht die Rechte bestimmter Personengruppen beeinträchtigen - mitunter von Antragstellern auf internationalen Schutz.
Zweitens werden die Vorgaben in Art. 13 SGK, welcher die zulässigen Massnahmen im Rahmen der Überwachung der Aussengrenzen regelt (sog. Grenzüberwachung), unter anderem im Hinblick auf die Situation der Instrumentalisierung von Migranten präzisiert. Die Mitgliedstaaten werden in diesem Fall dazu aufgerufen, die Grenzüberwachung zu intensivieren und gegebenenfalls die eingesetzten Ressourcen und technischen Mittel - letztere z.B. durch Drohnen und Bewegungssensoren - zu verstärken (vgl. nArt. 13 Abs. 5 SGK). Zudem werden die Kompetenzen von Frontex erweitert (vgl. nArt. 13 Abs. 6 SGK).
c) Regelung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen
Als Reaktion auf die vermehrte Praxis der Mitgliedstaaten, Binnengrenzen wieder zu kontrollieren, wählt die Kommission in ihrem Verordnungsvorschlag eine mehrschichtige Herangehensweise. Zentraler Bestandteil ist hierbei die umfassende Überarbeitung der Art. 25 ff. SGK, wobei sich die neue Systematik wie folgt beschreiben lässt: Gemäss dem überarbeiteten nArt. 25 SGK gilt grundsätzlich, dass ein Mitgliedstaat Binnengrenzkontrollen nur dann wiedereinführen oder verlängern darf, wenn einerseits (weiterhin) eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit[9] besteht (Abs. 1) und andererseits gewisse Kriterien erfüllt sind (vgl. nArt. 26 und Art. 30 SGK) und der Umfang sowie die Dauer der Massnahme nicht über das unbedingt Erforderliche hinausgehen (Abs. 2). Konkret ist zwischen drei Verfahren zu unterscheiden, welche eine solche Wiedereinführung oder Verlängerung ermöglichen.
Das erste Verfahren wird in nArt. 25a SGK geregelt und betrifft Konstellationen, in denen ein Mitgliedstaat entweder mit einer unvorhersehbaren (Abs. 1) oder einer vorhersehbaren (Abs. 4) ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit konfrontiert ist, wobei im ersten Fall ein sofortiges Handeln durch den Mitgliedstaat erforderlich sein muss. Bei einer unvorhersehbaren Bedrohung ist eine sofortige Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen für eine Dauer von bis zu einem Monat zulässig, wobei Verlängerungen möglich sind unter dem Vorbehalt einer Maximaldauer von drei Monaten (Abs. 3). Im Fall einer vorhersehbaren Bedrohung hat der Mitgliedstaat die Wiedereinführung solcher Kontrollen grundsätzlich vier Wochen im Voraus zu melden (Abs. 4). Diese dürfen für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten wieder eingeführt werden, wobei jedoch die Möglichkeit zur mehrmaligen Verlängerung um jeweils bis zu sechs Monaten besteht[10] und die Gesamtdauer zwei Jahre grundsätzlich nicht überschreiten darf (Abs. 5).[11]
Das zweite Verfahren (vgl. nArt. 28 SGK) betrifft Situationen, in denen aufgrund einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit, welche die Mehrheit der Mitgliedstaaten betrifft, das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährdet ist. Stellt die Kommission eine solche Bedrohung fest, unterbreitet sie dem Rat einen Vorschlag für einen Durchführungsbeschluss, welcher die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen durch die Mitgliedstaaten genehmigt (Abs. 1). Auf diese Weise kann ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten sichergestellt werden.[12] Der Beschluss gilt für eine Dauer von sechs Monaten, wobei bei anhaltender Bedrohung Verlängerungen um jeweils sechs Monate zulässig sind (Abs. 2).[13]
Das dritte Verfahren wird im unveränderten Art. 29 SGK geregelt. Dieses unterscheidet sich vom zweiten Verfahren dadurch, dass das Funktionieren des Schengen-Raums im einen Fall durch mangelhafte Kontrollen der Aussengrenzen gefährdet wird und im anderen Fall durch eine sonstige ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit (vgl. nArt. 25 Abs. 1 SGK).
Vergleicht man die neue Systematik zur Regulierung von Wiedereinführungen von Binnengrenzkontrollen mit der aktuell gültigen Regelung, lassen sich insbesondere die folgenden grösseren Neuerungen bzw. Änderungen feststellen.
- Erstens bestehen zwar auch zum jetzigen Zeitpunkt drei verschiedene Verfahren zur Regulierung dieser Kontrollen, jedoch beinhaltet der Verordnungsvorschlag der Kommission eine neue Kategorisierung der Verfahren. Das bislang normale Verfahren (Art. 25 SGK) sowie das besondere Verfahren in Fällen, die sofortiges Handeln erfordern (Art. 28 SGK), würden im nArt. 25a SGK zusammengeführt. Diese Bestimmung unterscheidet zwischen unvorhersehbaren Ereignissen - die ein sofortiges Handeln erfordern - und vorhersehbaren Ereignissen, wobei im ersten Fall der grundsätzliche Regelungsgehalt von Art. 28 SGK und im zweiten Fall von Art. 25 SGK übernommen wird. Der nArt. 28 SGK befasst sich hingegen mit einer neuartigen Bedrohungslage, deren Regelung im aktuell gültigen Schengener Grenzkodex keine Entsprechung findet. Das Verfahren gemäss Art. 29 SGK ist unverändert geblieben.
- Zweitens kam es verschiedentlich zu Fristverlängerungen. Bei unvorhersehbaren Ereignissen, die eine ernsthafte Bedrohung darstellen, wurde die generelle Frist von 10 Tagen auf einen Monat und die Höchstdauer von zwei auf drei Monate verlängert. Bei vorhersehbaren Ereignissen wurde die generelle Frist von 30 Tagen bzw. der vorhersehbaren Dauer der Bedrohung auf sechs Monate und die Höchstdauer von sechs Monaten auf grundsätzlich zwei Jahre[14] ausgedehnt.
- Drittens sieht der Vorschlag der Kommission bei der Anwendung des ersten (vgl. nArt. 27a Abs. 5 SGK) oder des zweiten Verfahrens (vgl. nArt. 28 Abs. 2 SGK) teilweise keine Höchstdauer mehr vor.
Nebst der Überarbeitung der Mechanismen zur Regulierung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen beabsichtigt die Kommission in ihrem Verordnungsvorschlag ebenfalls sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten verstärkt alternative Massnahmen einsetzen.[15]
So sollen einerseits die Kontrollmöglichkeiten innerhalb des Hoheitsgebiets gemäss Art. 23 SGK ausgebaut und präzisiert werden. Hierfür wird die Möglichkeit zur Vornahme gewisser Kontrollen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Befugnisse nicht weiter auf polizeiliche Behörden beschränkt, sondern neu auf sämtliche nationalen Behörden ausgeweitet (vgl. nArt. 23 lit. a SGK).[16] Zudem ist die Ausübung dieser Befugnisse neu auch dann zulässig, wenn sie die Verhinderung irregulärer Aufenthalte[17] oder die Eindämmung der Ausbreitung einer Pandemie bezweckt (nArt. 23 lit. a Ziff. ii SGK). Des Weiteren wird hervorgehoben, dass solche Massnahmen - vorausgesetzt sie unterscheiden sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Aussengrenzen und beruhen auf einer Risikoanalyse - ebenfalls an Verkehrsknotenpunkten oder an Bord von Personenverkehrsdiensten durchgeführt werden können (nArt. 23 lit. a Ziff. iii SGK). Schlussendlich sei es ebenfalls zulässig, im Rahmen dieser Massnahmen Kontroll- und Überwachungstechnologien einzusetzen (nArt. 23 lit. a Ziff. iv SGK). Es kommt somit insgesamt zu einer beträchtlichen Ausweitung der zulässigen Kontrollmöglichkeiten, wodurch der Spielraum der Mitgliedstaaten weiter vergrössert wird.
Andererseits wird ein neues Verfahren zur Überstellung von in der Nähe einer Binnengrenze aufgegriffenen Drittstaatsangehörigen eingeführt (vgl. nArt. 23a und neuer Anhang XII SGK). Dieses Verfahren kommt zur Anwendung, wenn die aufgegriffene Person die Einreisevoraussetzungen gemäss Art. 6 Abs. 1 SGK nicht (mehr) erfüllt, sie im Rahmen der grenzüberschreitenden operativen polizeilichen Zusammenarbeit aufgegriffen wurde[18] und aus unmittelbar zur Verfügung stehenden Informationen ersichtlich wird, dass der Drittstaatsangehörige direkt aus einem anderen Mitgliedstaat eingetroffen ist. Die Person wird somit unverzüglich in diesen Mitgliedstaat überstellt, wobei dieser verpflichtet ist, den Drittstaatsangehörigen aufzunehmen.[19]
2. Neue Instrumentalisierungsverordnung
Damit im Fall einer zukünftigen Situation der Instrumentalisierung von Migranten, die zu einem Zustrom von Drittstaatsangehörigen an die Aussengrenzen führt, nicht (mehr)[20] auf Ad-hoc-Lösungen wie die Beschlusskompetenz des Rates gemäss Art. 78 Abs. 3 AEUV zurückgegriffen werden muss, schlägt die Kommission eine neue Instrumentalisierungsverordnung vor. Diese soll für solche Situationen einen klaren Rechtsrahmen schaffen und betrifft die Gesichtspunkte der Migration, des Asyls sowie der Rückkehr.[21]
Ein zentraler Bestandteil der neuen Verordnung stellt die Einführung eines Notverfahrens jeweils für das Asyl- und Rückkehrmanagement an den Aussengrenzen dar. Dieses erlaubt verschiedentlich Abweichungen von den Vorschriften, die in den Vorschlägen für eine Asylverfahrensverordnung (AV-VO),[22] für eine Neufassung der Richtlinie über Aufnahmebedingungen (AB-RL)[23] sowie für eine Neufassung der Rückführungsrichtlinie (RF-RL)[24] enthalten sind. Damit dieses Verfahren angewendet werden kann, ist eine Ermächtigung in Form eines Durchführungsbeschlusses des Rates erforderlich, welcher auf Vorschlag der Kommission entscheidet (Art. 7 Instr-VO).[25] Gestützt auf den Ratsbeschluss können die spezifisch genehmigten Ausnahmeregelungen anschliessend auf Drittstaatsangehörige angewendet werden, welche in der Nähe der Aussengrenze zum instrumentalisierenden Drittstaat aufgegriffen werden oder sich an einer Grenzübergangsstelle gemeldet haben (Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 Instr-VO) bzw. auf Drittstaatsangehörige, deren Anträge im Rahmen des Notverfahrens für Asylmanagement gemäss Art. 2 Instr-VO abgelehnt wurden (Art. 4 Instr-VO).[26]
Das Notverfahren für das Asylmanagement (Art. 2 Instr-VO) erlaubt es dem betroffenen Mitgliedstaat erstens, die gestellten Anträge auf internationalen Schutz innerhalb eines Zeitraums von bis zu vier Wochen zu registrieren (Abs. 1 lit. a).[27] Zweitens erhält der Mitgliedstaat die Möglichkeit, das Asylverfahren an der Grenze (Grenzverfahren) auf fast alle Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, weshalb über deren Zulässigkeit und Begründetheit neu an den Grenzen oder innerhalb der Transitzonen entschieden werden kann (Abs. 1 lit. b).[28] In beiden Fällen sind Anträge, welche wahrscheinlich begründet sind oder welche durch unbegleitete Minderjährige oder durch Minderjährige und ihre Familienangehörigen gestellt werden, vorrangig zu registrieren bzw. zu prüfen (Abs. 1 lit. a und b). Drittens beträgt die Höchstdauer des Notverfahrens 16 Wochen (Abs. 1 lit. c).[29] Wurde bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht über den Antrag entschieden, darf der Antragsteller anschliessend für den Abschluss des Verfahrens in den Mitgliedstaat einreisen (Abs. 1 lit. c). Von diesen Ausnahmeregelungen abgesehen sind im Notverfahren die Grundsätze und Garantien des Vorschlags für eine Asylverfahrensordnung anzuwenden (Abs. 2). Hinsichtlich der Aufnahmebedingungen kann der betroffene Mitgliedstaat hingegen beschliessen, von den Vorgaben von nArt. 16 und 17 AB-RL abzuweichen (Art. 3 Instr-VO). Voraussetzung hierfür ist einzig, dass er - unter uneingeschränkter Achtung der Menschenwürde - die Grundbedürfnisse der Antragsteller deckt.[30]
Das Notverfahren für das Rückkehrmanagement (Art. 4 Instr-VO) bietet dem betroffenen Mitgliedstaat einerseits die Möglichkeit, den nArt. 41a AV-VO unangewendet zu lassen. Andererseits kann er ebenfalls beschliessen, die Gesamtheit der neuen Rückführungsrichtlinie - mit Ausnahme deren nArt. 5 - nicht anzuwenden (lit. a).[31] Der Mitgliedstaat hat in diesem Fall sicherzustellen, dass der Drittstaatsangehörige in Bezug auf verschiedene Bestimmungen der neuen Rückführungsrichtlinie nicht weniger günstig behandelt wird als dort vorgesehen (lit. b).[32]
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Instrumentalisierungsverordnung sind die Vorgaben über die Bereitstellung von Unterstützungs- und Solidaritätsmassnahmen (Art. 5 Instr-VO). Der betroffene Mitgliedstaat kann neu einerseits bei der Kommission ein Ersuchen um Unterstützungs- und Solidaritätsmassnahmen einreichen (Abs. 2), woraufhin die Kommission die anderen Mitgliedstaaten zum Tätigwerden auffordert (Abs. 3). Andererseits kann er die EUAA, Frontex sowie Europol um Unterstützung anfragen (Abs. 4).
III. Würdigung der Vorschläge
3. Einheitliches Vorgehen an den Aussengrenzen bei einer Pandemie
Die Koordinierungsschwierigkeiten und die sich daraus ergebenden praktischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie haben gezeigt, dass es innerhalb des Schengen-Raums einen einheitlichen Ansatz anzustreben gilt. Indem der Vorschlag der Kommission es dem Rat neu[33] ermöglicht, im Fall einer Krankheit mit epidemischem Potenzial verbindlich für alle Mitgliedstaaten Reisebeschränkungen an den Aussengrenzen einzuführen, kann in Zukunft ein einheitliches Vorgehen effektiv sichergestellt werden.
Das neue Vorgehen erlaubt es dem Rat zudem, beim Erlass von Beschränkungsmassnahmen der Verhältnismässigkeit gebührend Rechnung zu tragen. Erstens handelt es sich bei den zur Auswahl stehenden Beschränkungsmassnahmen (vgl. nArt. 21a Abs. 2 Abs. 2 SGK) um Instrumente, die ihre grundsätzliche Wirksamkeit während den letzten Jahren unter Beweis stellen konnten. Zweitens werden verschiedene Personengruppen (vgl. nArt. 21a Abs. 3 SGK) kategorisch von den Einreisebeschränkungen ausgenommen, wodurch deren durch das Unionsrecht oder das nationale Recht garantierte Freizügigkeits- bzw. Aufenthaltsrechte gewahrt werden.[34] Drittens wird im Hinblick auf den Erlass einer Beschränkung hinreichend zwischen verschiedenen Personengruppen, geographischen Gebieten und Arten von Reisen unterschieden und dem Rat zudem die Möglichkeit gewährt, Bedingungen für die Anwendung einer Beschränkung zu formulieren (vgl. nArt. 21a Abs. 4 und neuer Anhang XI SGK).
4. Unnötige Schwächung der Rechte von Schutzsuchenden bei einer Instrumentalisierung
Die Verordnungsvorschläge der Kommission zeichnen durchgehend das Bild, dass Drittstaatsangehörige, welche infolge einer Instrumentalisierung durch einen Drittstaat zum Zweck der Einreise an die Aussengrenzen gelangen, eine besondere Bedrohungslage darstellen, auf die es mit speziellen Regelungen zu reagieren gilt. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, stellt sich jedoch verschiedentlich die Frage, ob die vorgeschlagenen Massnahmen angesichts der bestehenden Instrumente sowie der Vorschläge im Rahmen des neuen Migrations- und Asylpakets überhaupt notwendig und somit verhältnismässig sind.
Bezüglich der vorgeschlagenen Änderungen des Schengener Grenzkodex gilt es hervorzuheben, dass die Definition einer Instrumentalisierung von Migranten (vgl. nArt. 2 Nr. 27 SGK) unpräzise und sehr weit formuliert ist.[35] Beispielsweise werden unklare Begriffe wie «Migrationsströme», «erleichtern» oder «wesentliche Funktionen» verwendet. Der Anwendungsbereich ist folglich sehr weit gefasst, da mangels Präzisierung potenziell bereits ab einer niedrigen Anzahl an Drittstaatsangehörigen von einem Migrationsstrom ausgegangen werden könnte und zudem bereits die Möglichkeit einer Gefährdung wesentlicher Funktionen eines Mitgliedstaats ausreichend ist. Schliesslich fehlt es auch an konkreten Kriterien, wie die Absicht eines Drittstaats festzustellen ist. Angesichts des Umstands, dass beim Vorliegen einer Instrumentalisierung von Migranten weitreichende Massnahmen ergriffen und die Rechte von Antragstellern auf internationalen Schutz (teils drastisch) eingeschränkt werden können, wäre eine klarere und weniger weitreichende Formulierung der vorgeschlagenen Definition mehr als wünschenswert.
Weiter sieht der nArt. 5 Abs. 4 SGK zwar die Möglichkeit der Beschränkung der Grenzübergangsstellen oder deren Öffnungszeiten vor, wobei diese verhältnismässig sein muss und die Rechte von Antragstellern auf internationalen Schutz gewährleistet sein müssen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, inwiefern diese neue Regelung notwendig wäre, zumal Art. 6 Abs. 3 der Anerkennungsrichtlinie[36] es den Mitgliedstaaten bereits heute erlaubt zu verlangen, dass die formale[37] Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz an bestimmten Orten erfolgt.[38] Eine solche mitgliedstaatliche Regelung hätte für die Antragsteller somit faktisch die gleiche Wirkung wie eine Beschränkung der Grenzübergangsstellen.
Die vorgeschlagene Instrumentalisierungsverordnung enthält zahlreiche (teils weitreichende) Abweichungen vom geltenden Rechtsrahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Es ist jedoch nicht erkennbar, inwiefern es notwendig wäre, Antragsteller auf internationalen Schutz, die instrumentalisiert wurden, anders zu behandeln als andere Antragsteller.[39] Vor dem Hintergrund, dass sowohl der bestehende EU-Rechtsrahmen als auch verschiedene Massnahmen, welche im Rahmen des neuen Migrations- und Asylpakets vorgeschlagen wurden,[40] Möglichkeiten zur Abweichung von asylrechtlichen Grundsätzen bieten, kann nicht nachvollzogen werden, warum zusätzlich eine Instrumentalisierungsverordnung notwendig wäre.[41]
Im Einzelnen enthält die Instrumentalisierungsverordnung zudem zahlreiche problematische Vorschriften, welche teilweise eine Legalisierung von unionsrechtswidrigen mitgliedstaatlichen Praktiken darstellen[42] und bei denen eine Gefahr der Verletzung von Grundrechten besteht:[43] So ist z.B. zu bezweifeln, dass mit der Ausweitung der Anwendung des Grenzverfahrens auf fast alle Antragsteller auf internationalen Schutz den besonderen Bedürfnissen von vulnerablen Personen wie Minderjährige hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. nArt. 2 Abs. 1 lit. b Instr-VO).[44] Schliesslich können Antragsteller im Rahmen des Grenzverfahrens ohne grössere Hindernisse in Haft genommen (vgl. nArt. 8 Abs. 3 lit. d AB-RL)[45] und die materiellen Leistungen auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse beschränkt werden (vgl. Art. 3 Instr-VO). Bei einer Verfahrensdauer von bis zu 16 Wochen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c Instr-VO) besteht somit die erhebliche Gefahr, dass im Einzelfall die Menschenwürde trotz allem verletzt wird und das Wohl des Kindes nicht gewahrt werden kann.[46]
Des Weiteren werden ohne ersichtlichen Grund verschiedene Garantien der vorgeschlagenen Neufassung der Rückführungsrichtlinie zulasten der Drittstaatsangehörigen, deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde, ausgeklammert (vgl. Art. 4 Instr-VO).[47] So können Drittstaatsangehörige in jedem Fall in Haft genommen werden, wobei sich die Dauer der Haft nicht auf den kürzest möglichen Zeitraum zu beschränken hat und zwölf Wochen überschreiten kann (vgl. Art. 4 Instr-VO i.V.m. nArt. 41a Abs. 6, 7 AV-VO). Die Inhaftnahme müsste auch nicht überprüft werden (vgl. Art. 4 Instr-VO i.V.m. nArt. 18 Abs. 2 bis 4 RF-RL). Insbesondere hätten die Mitgliedstaaten keine Formvorgaben mehr zu beachten beim Erlass einer Rückkehrentscheidung und es gäbe kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (vgl. Art. 4 Instr-VO i.V.m. nArt. 15, 16 RF-RL), was im Hinblick auf Art. 47 GRC[48] problematisch ist.[49]
Schlussendlich kann der betroffene Mitgliedstaat gemäss Art. 6 Abs. 1 Instr-VO beschliessen, dass Anträge auf internationalen Schutz nur noch an bestimmten Registrierungsstellen registriert und formal gestellt werden können. Diese vorgeschlagene Neuerung dürfte jedoch keinesfalls dahingehend verstanden werden, dass sie für den Drittstaatsangehörigen zusätzliche Hürden bei der formlosen Antragsstellung bewirkt, zumal dies eine Beeinträchtigung des effektiven Zugangs zum Asylverfahren darstellen würde.[50] Vielmehr hat die anschliessende Registrierung durch den Mitgliedstaat zu erfolgen,[51] weshalb dieser den Antragsteller gegebenenfalls zur nächsten Registrierungsstelle zu transportieren hat.[52]
5. Neuer Anlauf zur Regulierung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen
Um dem Phänomen der vermehrten Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen zu begegnen, entschied sich die Kommission für ein Vorgehen, welches den Willen der Mitgliedstaaten, solche Kontrollen gegebenenfalls über mehrere Jahre hinweg selbständig wiedereinzuführen, grundsätzlich akzeptiert. Dies lässt sich einerseits an den (teilweise beträchtlichen) Fristverlängerungen erkennen (vgl. nArt. 25a SGK) und andererseits am Umstand, dass die Mitgliedstaaten faktisch keine Höchstdauer mehr zu berücksichtigen haben (vgl. nArt. 27a Abs. 5 und nArt. 28 Abs. 2 SGK).[53] Nebst diesem grundsätzlichen Eingeständnis an die Mitgliedstaaten enthält der Vorschlag der Kommission verschiedene Neuerungen, welche die Staaten nichtsdestotrotz dazu bewegen sollen, in Zukunft vermehrt von der Wiedereinführung bzw. Verlängerung von Binnengrenzkontrollen abzusehen.[54] Zudem hat die Kommission mit nArt. 28 SGK einen weiteren Mechanismus eingeführt - nebst dem bestehenden Art. 29 SGK -, der in gewissen Situationen zumindest eine einheitliche Regulierung solcher Kontrollen durch den Rat für den gesamten Schengen-Raum erlaubt.
Der Vorschlag der Kommission ändert somit nichts daran, dass - wie jüngst vom Gerichtshof bestätigt[55] - aufgrund der wiedereingeführten anhaltenden Binnengrenzkontrollen die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit gemäss Art. 21 AEUV beeinträchtigt sowie der Grundsatz der Abwesenheit von Binnengrenzkontrollen gemäss Art. 67 Abs. 2 AEUV nicht eingehalten wird.[56] Zwar ist das Vorgehen der Kommission vor dem realpolitischen Hintergrund, dass die Mitgliedstaaten teilweise hartnäckig und über Jahre hinweg an Binnengrenzkontrollen festhalten, nachvollziehbar. Ebenso ist es grundsätzlich begrüssenswert, dass mit den vorgängig erwähnten Begleitmassnahmen ein verhältnismässigerer Umgang mit den verschiedenen Herausforderungen innerhalb des Schengen-Raums gefördert wird. Jedoch begünstigt die Kommission mit ihrem Vorschlag eine heikle Dynamik, wonach zunehmend wieder die Mitgliedstaaten den Ton beim Schengen-Recht angeben, was an eine schleichende Rückkehr zum einstigen Intergouvernementalismus erinnert.[57]
Nebst dieser grundsätzlichen Einordnung des Verordnungsvorschlags geben zudem einzelne spezifische Neuerungen Anlass für (teils beträchtliche) Bedenken. Zum einen bestimmt nArt. 23 SGK, dass die Kontrollmassnahmen auf Grundlage einer Risikoanalyse zu erfolgen haben (nArt. 23 lit. a Ziff. iii SGK). Insbesondere im Zusammenhang mit Massnahmen, welche die Bekämpfung irregulärer Migration bezwecken, besteht in der Praxis jedoch die Gefahr, dass es aufgrund dieser Risikoanalyse zu einem vermehrten Racial Profiling[58] kommt.[59] Hierbei handelt es sich um eine spezifische Form von Diskriminierung aufgrund der Rasse,[60] weshalb diese Praxis gegen das Diskriminierungsverbot verstösst.[61]
Zum anderen führt nArt. 23a SGK ein Verfahren zur Überstellung von in der Nähe der Binnengrenzen aufgegriffenen Drittstaatsangehörigen ein. Da diese Bestimmung nicht explizit gewährleistet, dass das Verfahren im Fall eines Antrags auf internationalen Schutz nicht zur Anwendung kommen kann,[62] und zudem vorsieht, dass die Überstellung innert 24 Stunden zu erfolgen hat und einem ergriffenen Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung zukommt, besteht die Gefahr, dass es in der Praxis aufgrund einer unzureichenden Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu Internal Pushbacks kommt.[63] Dies könnte zu einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots führen.[64]
IV. Fazit
Die von der Kommission am 14. Dezember 2021 vorgestellten Verordnungsvorschläge zur Reform des Schengen-Systems sind insgesamt durchzogen zu bewerten. Gemäss der Kommission bezweckt diese Reform, den Schengen-Raum widerstandsfähiger zu machen gegen Herausforderungen beim Management der Aussen- und Binnengrenzen.[65] Zwar tragen die vorgeschlagenen Neuerungen teilweise effektiv zu diesem Ziel bei. Verschiedene Regelungen würden jedoch weniger die Widerstandsfähigkeit des Schengen-Raums stärken als vielmehr das Schutzniveau im europäischen Asylrecht mindern sowie heikle asylrechtliche Praktiken der Mitgliedstaaten legalisieren. Insbesondere die vorgeschlagene Instrumentalisierungsverordnung ist unter diesem Gesichtspunkt problematisch, wobei zudem anzuzweifeln ist, ob diese Verordnung überhaupt notwendig ist.