Reform des Schengen-Systems

Beurteilung der Vorschläge der EU-Kommission vom 14. Dezember 2021

Evamaria Hunziker *

Unbestrittenermassen sah sich der Schengen-Raum in den letzten Jahren mit verschiedenen grösseren Herausforderungen konfrontiert. Die Reformvorschläge, welche die Kommission am 14. Dezember 2021 präsentierte, bezwecken, den Schengen-Raum im Hinblick auf Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung widerstandsfähiger zu machen und die Wiedereinführung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen zu vermindern. Untersucht man jedoch die konkret vorgeschlagenen Massnahmen, wird ersichtlich, dass diese - sozusagen nebenbei - verschiedentlich die Rechtsposition von Schutzsuchenden in der EU schwächen und gewisse bislang unionsrechtswidrige Praktiken der Mitgliedstaaten legalisieren würden.

Il est indéniable que l'espace Schengen a été confronté à plusieurs défis majeurs au cours des dernières années. Les propositions de réforme présentées par la Commission le 14 décembre 2021 visent à rendre l'espace Schengen plus résistant aux menaces pour la sécurité publique ou l'ordre public et à réduire la réintroduction des contrôles des personnes aux frontières intérieures. Toutefois, si l'on examine les mesures concrètes proposées, il apparaît qu'elles affaibliraient - parallèlement - la position juridique des personnes en quête de protection dans l'UE et légaliseraient certaines pratiques des États membres jusqu'ici contraires au droit de l'Union.

Zitiervorschlag: Evamaria Hunziker, Reform des Schengen-Systems, sui generis 2022, S. 123

URL: sui-generis.ch/212

DOI: https://doi.org/10.21257/sg.212

* Evamaria Hunziker, MLaw, Assistentin am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht, Universität Freiburg i.Ü. (evamariamichelle.hunziker@unifr.ch). Es wird Prof. Dr. iur. Sarah Progin-Theuerkauf für ihre wertvollen und hilfreichen Rückmeldungen zum vorliegenden Beitrag gedankt.


I. Kontext der Vorschläge

Der Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen (sog. «Schengen-Raum») sah sich in den letzten Jahren verschiedenen Krisen und grösseren Herausforderungen gegenübergestellt. Die Kommission stellte daher im Zusammenhang mit dem neuen Migrations- und Asylpaket am 14. Dezember 2021 zwei Vorschläge für neue Verordnungen vor, welche drei Problemfelder der letzten Jahre angehen sollen: Das Migrationsmanagement an den Aussengrenzen während einer Pandemie,[1] die Instrumentalisierung von Migranten durch Drittstaaten[2] sowie die vermehrte Wiedereinführung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen (Binnengrenzkontrollen) durch die Mitgliedstaaten seit 2015.[3] Alle drei Punkte sollen durch Änderungen des Schengener Grenzkodex[4] (SGK) angegangen werden, wobei die Kommission hinsichtlich des zweiten Punkts zudem die Annahme einer eigenen Verordnung vorschlägt (Instrumentalisierungsverordnung, Instr-VO)[5].

Der vorliegende Beitrag soll folglich in einem ersten Schritt einen Überblick über die Vorschläge der Kommission verschaffen (II.), um diese anschliessend einer kritischen Würdigung zu unterziehen (II.).

II. Vorgeschlagene Neuerungen

1. Änderung des Schengener Grenzkodex

a) Vorgehen an den Aussengrenzen bei einer Pandemie

Um in Zukunft im Fall einer Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch eine Krankheit mit epidemischem Potenzial das einheitliche Vorgehen der Mitgliedstaaten an den Aussengrenzen sicherstellen zu können, sieht der Vorschlag der Kommission bestimmte Massnahmen vor.[6]

Neu soll der Rat mittels eines Durchführungsrechtsakts vorübergehend verbindliche Reisebeschränkungen an den Aussengrenzen einführen können (nArt. 21a Abs. 2 SGK). Konkret können aufgrund dieses Rechtsakts Einreisebeschränkungen und weitere Massnahmen wie Tests, Quarantäne und Selbstisolierung angeordnet werden (nArt. 21a Abs. 2 SGK). Von den Einreisebeschränkungen kategorisch ausgenommen sind Personen, die nach dem Unionsrecht einen Anspruch auf freien Personenverkehr haben sowie aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige und deren Familienangehörige (nArt. 21a Abs. 3 SGK). Für alle anderen Personenkategorien gilt der Grundsatz (vgl. nArt. 21a Abs. 4 SGK), wonach nicht unbedingt notwendigen Reisen (vgl. nArt. 2 Nr. 29 SGK) Beschränkungen auferlegt werden können, wobei jedoch die Möglichkeit besteht, Personengruppen hiervon auszunehmen. Folglich unterliegen unbedingt notwendige Reisen (vgl. nArt. 2 Nr. 28 und neuer Annex XI SGK) grundsätzlich keinen Beschränkungen,[7] wobei auch hier gewisse Ausnahmen möglich sind. Der Durchführungsrechtsakt hat weiter die Bedingungen zu bestimmen, unter denen nicht unbedingt notwendige Reisen Beschränkungen unterliegen oder haiervon ausgenommen werden können (vgl. nArt. 21a Abs. 4 SGK).

b) Vorgehen an den Aussengrenzen bei einer Instrumentalisierung von Migranten

Da es sich bei der Instrumentalisierung von Migranten um ein neuartiges Phänomen innerhalb des europäischen Migrations- und Asylrechts handelt, soll Art. 2 SGK um eine entsprechende Definition ergänzt werden (vgl. neue Nr. 27). Folglich handelt es sich hierbei um «eine Situation, in der ein Drittstaat irreguläre Migrationsströme in die EU entstehen lässt, indem er Reisen von Drittstaatsangehörigen an die Aussengrenzen […] aktiv fördert oder erleichtert». Die Definition setzt weiter voraus, dass diese Handlungen einerseits die Annahme nahelegen müssen, dass der Drittstaat beabsichtigt, die EU oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren, und andererseits wesentliche Funktionen des betreffenden Mitgliedstaats potenziell gefährden.[8]

Um in einer solchen Situation der Instrumentalisierung das reibungslose Funktionieren des Schengen-Raums weiterhin sicherstellen zu können, sieht der Verordnungsvorschlag zwei Änderungen des Schengener Grenzkodex vor. Erstens sollen die Mitgliedstaaten in dieser Situation die Möglichkeit haben, die Anzahl der Grenzübergangsstellen oder deren Öffnungszeiten zu beschränken (vgl. nArt. 5 Abs. 4 SGK). Die ergriffenen Massnahmen müssten jedoch verhältnismässig sein und dürften nicht die Rechte bestimmter Personengruppen beeinträchtigen - mitunter von Antragstellern auf internationalen Schutz.

Zweitens werden die Vorgaben in Art. 13 SGK, welcher die zulässigen Massnahmen im Rahmen der Überwachung der Aussengrenzen regelt (sog. Grenzüberwachung), unter anderem im Hinblick auf die Situation der Instrumentalisierung von Migranten präzisiert. Die Mitgliedstaaten werden in diesem Fall dazu aufgerufen, die Grenzüberwachung zu intensivieren und gegebenenfalls die eingesetzten Ressourcen und technischen Mittel - letztere z.B. durch Drohnen und Bewegungssensoren - zu verstärken (vgl. nArt. 13 Abs. 5 SGK). Zudem werden die Kompetenzen von Frontex erweitert (vgl. nArt. 13 Abs. 6 SGK).

c) Regelung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen

Als Reaktion auf die vermehrte Praxis der Mitgliedstaaten, Binnengrenzen wieder zu kontrollieren, wählt die Kommission in ihrem Verordnungsvorschlag eine mehrschichtige Herangehensweise. Zentraler Bestandteil ist hierbei die umfassende Überarbeitung der Art. 25 ff. SGK, wobei sich die neue Systematik wie folgt beschreiben lässt: Gemäss dem überarbeiteten nArt. 25 SGK gilt grundsätzlich, dass ein Mitgliedstaat Binnengrenzkontrollen nur dann wiedereinführen oder verlängern darf, wenn einerseits (weiterhin) eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit[9] besteht (Abs. 1) und andererseits gewisse Kriterien erfüllt sind (vgl. nArt. 26 und Art. 30 SGK) und der Umfang sowie die Dauer der Massnahme nicht über das unbedingt Erforderliche hinausgehen (Abs. 2). Konkret ist zwischen drei Verfahren zu unterscheiden, welche eine solche Wiedereinführung oder Verlängerung ermöglichen.

Das erste Verfahren wird in nArt. 25a SGK geregelt und betrifft Konstellationen, in denen ein Mitgliedstaat entweder mit einer unvorhersehbaren (Abs. 1) oder einer vorhersehbaren (Abs. 4) ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit konfrontiert ist, wobei im ersten Fall ein sofortiges Handeln durch den Mitgliedstaat erforderlich sein muss. Bei einer unvorhersehbaren Bedrohung ist eine sofortige Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen für eine Dauer von bis zu einem Monat zulässig, wobei Verlängerungen möglich sind unter dem Vorbehalt einer Maximaldauer von drei Monaten (Abs. 3). Im Fall einer vorhersehbaren Bedrohung hat der Mitgliedstaat die Wiedereinführung solcher Kontrollen grundsätzlich vier Wochen im Voraus zu melden (Abs. 4). Diese dürfen für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten wieder eingeführt werden, wobei jedoch die Möglichkeit zur mehrmaligen Verlängerung um jeweils bis zu sechs Monaten besteht[10] und die Gesamtdauer zwei Jahre grundsätzlich nicht überschreiten darf (Abs. 5).[11]

Das zweite Verfahren (vgl. nArt. 28 SGK) betrifft Situationen, in denen aufgrund einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit, welche die Mehrheit der Mitgliedstaaten betrifft, das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährdet ist. Stellt die Kommission eine solche Bedrohung fest, unterbreitet sie dem Rat einen Vorschlag für einen Durchführungsbeschluss, welcher die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen durch die Mitgliedstaaten genehmigt (Abs. 1). Auf diese Weise kann ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten sichergestellt werden.[12] Der Beschluss gilt für eine Dauer von sechs Monaten, wobei bei anhaltender Bedrohung Verlängerungen um jeweils sechs Monate zulässig sind (Abs. 2).[13]

Das dritte Verfahren wird im unveränderten Art. 29 SGK geregelt. Dieses unterscheidet sich vom zweiten Verfahren dadurch, dass das Funktionieren des Schengen-Raums im einen Fall durch mangelhafte Kontrollen der Aussengrenzen gefährdet wird und im anderen Fall durch eine sonstige ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit (vgl. nArt. 25 Abs. 1 SGK).

Vergleicht man die neue Systematik zur Regulierung von Wiedereinführungen von Binnengrenzkontrollen mit der aktuell gültigen Regelung, lassen sich insbesondere die folgenden grösseren Neuerungen bzw. Änderungen feststellen.

  • Erstens bestehen zwar auch zum jetzigen Zeitpunkt drei verschiedene Verfahren zur Regulierung dieser Kontrollen, jedoch beinhaltet der Verordnungsvorschlag der Kommission eine neue Kategorisierung der Verfahren. Das bislang normale Verfahren (Art. 25 SGK) sowie das besondere Verfahren in Fällen, die sofortiges Handeln erfordern (Art. 28 SGK), würden im nArt. 25a SGK zusammengeführt. Diese Bestimmung unterscheidet zwischen unvorhersehbaren Ereignissen - die ein sofortiges Handeln erfordern - und vorhersehbaren Ereignissen, wobei im ersten Fall der grundsätzliche Regelungsgehalt von Art. 28 SGK und im zweiten Fall von Art. 25 SGK übernommen wird. Der nArt. 28 SGK befasst sich hingegen mit einer neuartigen Bedrohungslage, deren Regelung im aktuell gültigen Schengener Grenzkodex keine Entsprechung findet. Das Verfahren gemäss Art. 29 SGK ist unverändert geblieben.

  • Zweitens kam es verschiedentlich zu Fristverlängerungen. Bei unvorhersehbaren Ereignissen, die eine ernsthafte Bedrohung darstellen, wurde die generelle Frist von 10 Tagen auf einen Monat und die Höchstdauer von zwei auf drei Monate verlängert. Bei vorhersehbaren Ereignissen wurde die generelle Frist von 30 Tagen bzw. der vorhersehbaren Dauer der Bedrohung auf sechs Monate und die Höchstdauer von sechs Monaten auf grundsätzlich zwei Jahre[14] ausgedehnt.

  • Drittens sieht der Vorschlag der Kommission bei der Anwendung des ersten (vgl. nArt. 27a Abs. 5 SGK) oder des zweiten Verfahrens (vgl. nArt. 28 Abs. 2 SGK) teilweise keine Höchstdauer mehr vor.

Nebst der Überarbeitung der Mechanismen zur Regulierung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen beabsichtigt die Kommission in ihrem Verordnungsvorschlag ebenfalls sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten verstärkt alternative Massnahmen einsetzen.[15]

So sollen einerseits die Kontrollmöglichkeiten innerhalb des Hoheitsgebiets gemäss Art. 23 SGK ausgebaut und präzisiert werden. Hierfür wird die Möglichkeit zur Vornahme gewisser Kontrollen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Befugnisse nicht weiter auf polizeiliche Behörden beschränkt, sondern neu auf sämtliche nationalen Behörden ausgeweitet (vgl. nArt. 23 lit. a SGK).[16] Zudem ist die Ausübung dieser Befugnisse neu auch dann zulässig, wenn sie die Verhinderung irregulärer Aufenthalte[17] oder die Eindämmung der Ausbreitung einer Pandemie bezweckt (nArt. 23 lit. a Ziff. ii SGK). Des Weiteren wird hervorgehoben, dass solche Massnahmen - vorausgesetzt sie unterscheiden sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Aussengrenzen und beruhen auf einer Risikoanalyse - ebenfalls an Verkehrsknotenpunkten oder an Bord von Personenverkehrsdiensten durchgeführt werden können (nArt. 23 lit. a Ziff. iii SGK). Schlussendlich sei es ebenfalls zulässig, im Rahmen dieser Massnahmen Kontroll- und Überwachungstechnologien einzusetzen (nArt. 23 lit. a Ziff. iv SGK). Es kommt somit insgesamt zu einer beträchtlichen Ausweitung der zulässigen Kontrollmöglichkeiten, wodurch der Spielraum der Mitgliedstaaten weiter vergrössert wird.

Andererseits wird ein neues Verfahren zur Überstellung von in der Nähe einer Binnengrenze aufgegriffenen Drittstaatsangehörigen eingeführt (vgl. nArt. 23a und neuer Anhang XII SGK). Dieses Verfahren kommt zur Anwendung, wenn die aufgegriffene Person die Einreisevoraussetzungen gemäss Art. 6 Abs. 1 SGK nicht (mehr) erfüllt, sie im Rahmen der grenzüberschreitenden operativen polizeilichen Zusammenarbeit aufgegriffen wurde[18] und aus unmittelbar zur Verfügung stehenden Informationen ersichtlich wird, dass der Drittstaatsangehörige direkt aus einem anderen Mitgliedstaat eingetroffen ist. Die Person wird somit unverzüglich in diesen Mitgliedstaat überstellt, wobei dieser verpflichtet ist, den Drittstaatsangehörigen aufzunehmen.[19]

2. Neue Instrumentalisierungsverordnung

Damit im Fall einer zukünftigen Situation der Instrumentalisierung von Migranten, die zu einem Zustrom von Drittstaatsangehörigen an die Aussengrenzen führt, nicht (mehr)[20] auf Ad-hoc-Lösungen wie die Beschlusskompetenz des Rates gemäss Art. 78 Abs. 3 AEUV zurückgegriffen werden muss, schlägt die Kommission eine neue Instrumentalisierungsverordnung vor. Diese soll für solche Situationen einen klaren Rechtsrahmen schaffen und betrifft die Gesichtspunkte der Migration, des Asyls sowie der Rückkehr.[21]

Ein zentraler Bestandteil der neuen Verordnung stellt die Einführung eines Notverfahrens jeweils für das Asyl- und Rückkehrmanagement an den Aussengrenzen dar. Dieses erlaubt verschiedentlich Abweichungen von den Vorschriften, die in den Vorschlägen für eine Asylverfahrensverordnung (AV-VO),[22] für eine Neufassung der Richtlinie über Aufnahmebedingungen (AB-RL)[23] sowie für eine Neufassung der Rückführungsrichtlinie (RF-RL)[24] enthalten sind. Damit dieses Verfahren angewendet werden kann, ist eine Ermächtigung in Form eines Durchführungsbeschlusses des Rates erforderlich, welcher auf Vorschlag der Kommission entscheidet (Art. 7 Instr-VO).[25] Gestützt auf den Ratsbeschluss können die spezifisch genehmigten Ausnahmeregelungen anschliessend auf Drittstaatsangehörige angewendet werden, welche in der Nähe der Aussengrenze zum instrumentalisierenden Drittstaat aufgegriffen werden oder sich an einer Grenzübergangsstelle gemeldet haben (Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 Instr-VO) bzw. auf Drittstaatsangehörige, deren Anträge im Rahmen des Notverfahrens für Asylmanagement gemäss Art. 2 Instr-VO abgelehnt wurden (Art. 4 Instr-VO).[26]

Das Notverfahren für das Asylmanagement (Art. 2 Instr-VO) erlaubt es dem betroffenen Mitgliedstaat erstens, die gestellten Anträge auf internationalen Schutz innerhalb eines Zeitraums von bis zu vier Wochen zu registrieren (Abs. 1 lit. a).[27] Zweitens erhält der Mitgliedstaat die Möglichkeit, das Asylverfahren an der Grenze (Grenzverfahren) auf fast alle Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, weshalb über deren Zulässigkeit und Begründetheit neu an den Grenzen oder innerhalb der Transitzonen entschieden werden kann (Abs. 1 lit. b).[28] In beiden Fällen sind Anträge, welche wahrscheinlich begründet sind oder welche durch unbegleitete Minderjährige oder durch Minderjährige und ihre Familienangehörigen gestellt werden, vorrangig zu registrieren bzw. zu prüfen (Abs. 1 lit. a und b). Drittens beträgt die Höchstdauer des Notverfahrens 16 Wochen (Abs. 1 lit. c).[29] Wurde bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht über den Antrag entschieden, darf der Antragsteller anschliessend für den Abschluss des Verfahrens in den Mitgliedstaat einreisen (Abs. 1 lit. c). Von diesen Ausnahmeregelungen abgesehen sind im Notverfahren die Grundsätze und Garantien des Vorschlags für eine Asylverfahrensordnung anzuwenden (Abs. 2). Hinsichtlich der Aufnahmebedingungen kann der betroffene Mitgliedstaat hingegen beschliessen, von den Vorgaben von nArt. 16 und 17 AB-RL abzuweichen (Art. 3 Instr-VO). Voraussetzung hierfür ist einzig, dass er - unter uneingeschränkter Achtung der Menschenwürde - die Grundbedürfnisse der Antragsteller deckt.[30]

Das Notverfahren für das Rückkehrmanagement (Art. 4 Instr-VO) bietet dem betroffenen Mitgliedstaat einerseits die Möglichkeit, den nArt. 41a AV-VO unangewendet zu lassen. Andererseits kann er ebenfalls beschliessen, die Gesamtheit der neuen Rückführungsrichtlinie - mit Ausnahme deren nArt. 5 - nicht anzuwenden (lit. a).[31] Der Mitgliedstaat hat in diesem Fall sicherzustellen, dass der Drittstaatsangehörige in Bezug auf verschiedene Bestimmungen der neuen Rückführungsrichtlinie nicht weniger günstig behandelt wird als dort vorgesehen (lit. b).[32]

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Instrumentalisierungsverordnung sind die Vorgaben über die Bereitstellung von Unterstützungs- und Solidaritätsmassnahmen (Art. 5 Instr-VO). Der betroffene Mitgliedstaat kann neu einerseits bei der Kommission ein Ersuchen um Unterstützungs- und Solidaritätsmassnahmen einreichen (Abs. 2), woraufhin die Kommission die anderen Mitgliedstaaten zum Tätigwerden auffordert (Abs. 3). Andererseits kann er die EUAA, Frontex sowie Europol um Unterstützung anfragen (Abs. 4).

III. Würdigung der Vorschläge

3. Einheitliches Vorgehen an den Aussengrenzen bei einer Pandemie

Die Koordinierungsschwierigkeiten und die sich daraus ergebenden praktischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie haben gezeigt, dass es innerhalb des Schengen-Raums einen einheitlichen Ansatz anzustreben gilt. Indem der Vorschlag der Kommission es dem Rat neu[33] ermöglicht, im Fall einer Krankheit mit epidemischem Potenzial verbindlich für alle Mitgliedstaaten Reisebeschränkungen an den Aussengrenzen einzuführen, kann in Zukunft ein einheitliches Vorgehen effektiv sichergestellt werden.

Das neue Vorgehen erlaubt es dem Rat zudem, beim Erlass von Beschränkungsmassnahmen der Verhältnismässigkeit gebührend Rechnung zu tragen. Erstens handelt es sich bei den zur Auswahl stehenden Beschränkungsmassnahmen (vgl. nArt. 21a Abs. 2 Abs. 2 SGK) um Instrumente, die ihre grundsätzliche Wirksamkeit während den letzten Jahren unter Beweis stellen konnten. Zweitens werden verschiedene Personengruppen (vgl. nArt. 21a Abs. 3 SGK) kategorisch von den Einreisebeschränkungen ausgenommen, wodurch deren durch das Unionsrecht oder das nationale Recht garantierte Freizügigkeits- bzw. Aufenthaltsrechte gewahrt werden.[34] Drittens wird im Hinblick auf den Erlass einer Beschränkung hinreichend zwischen verschiedenen Personengruppen, geographischen Gebieten und Arten von Reisen unterschieden und dem Rat zudem die Möglichkeit gewährt, Bedingungen für die Anwendung einer Beschränkung zu formulieren (vgl. nArt. 21a Abs. 4 und neuer Anhang XI SGK).

4. Unnötige Schwächung der Rechte von Schutzsuchenden bei einer Instrumentalisierung

Die Verordnungsvorschläge der Kommission zeichnen durchgehend das Bild, dass Drittstaatsangehörige, welche infolge einer Instrumentalisierung durch einen Drittstaat zum Zweck der Einreise an die Aussengrenzen gelangen, eine besondere Bedrohungslage darstellen, auf die es mit speziellen Regelungen zu reagieren gilt. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, stellt sich jedoch verschiedentlich die Frage, ob die vorgeschlagenen Massnahmen angesichts der bestehenden Instrumente sowie der Vorschläge im Rahmen des neuen Migrations- und Asylpakets überhaupt notwendig und somit verhältnismässig sind.

Bezüglich der vorgeschlagenen Änderungen des Schengener Grenzkodex gilt es hervorzuheben, dass die Definition einer Instrumentalisierung von Migranten (vgl. nArt. 2 Nr. 27 SGK) unpräzise und sehr weit formuliert ist.[35] Beispielsweise werden unklare Begriffe wie «Migrationsströme», «erleichtern» oder «wesentliche Funktionen» verwendet. Der Anwendungsbereich ist folglich sehr weit gefasst, da mangels Präzisierung potenziell bereits ab einer niedrigen Anzahl an Drittstaatsangehörigen von einem Migrationsstrom ausgegangen werden könnte und zudem bereits die Möglichkeit einer Gefährdung wesentlicher Funktionen eines Mitgliedstaats ausreichend ist. Schliesslich fehlt es auch an konkreten Kriterien, wie die Absicht eines Drittstaats festzustellen ist. Angesichts des Umstands, dass beim Vorliegen einer Instrumentalisierung von Migranten weitreichende Massnahmen ergriffen und die Rechte von Antragstellern auf internationalen Schutz (teils drastisch) eingeschränkt werden können, wäre eine klarere und weniger weitreichende Formulierung der vorgeschlagenen Definition mehr als wünschenswert.

Weiter sieht der nArt. 5 Abs. 4 SGK zwar die Möglichkeit der Beschränkung der Grenzübergangsstellen oder deren Öffnungszeiten vor, wobei diese verhältnismässig sein muss und die Rechte von Antragstellern auf internationalen Schutz gewährleistet sein müssen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, inwiefern diese neue Regelung notwendig wäre, zumal Art. 6 Abs. 3 der Anerkennungsrichtlinie[36] es den Mitgliedstaaten bereits heute erlaubt zu verlangen, dass die formale[37] Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz an bestimmten Orten erfolgt.[38] Eine solche mitgliedstaatliche Regelung hätte für die Antragsteller somit faktisch die gleiche Wirkung wie eine Beschränkung der Grenzübergangsstellen.

Die vorgeschlagene Instrumentalisierungsverordnung enthält zahlreiche (teils weitreichende) Abweichungen vom geltenden Rechtsrahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Es ist jedoch nicht erkennbar, inwiefern es notwendig wäre, Antragsteller auf internationalen Schutz, die instrumentalisiert wurden, anders zu behandeln als andere Antragsteller.[39] Vor dem Hintergrund, dass sowohl der bestehende EU-Rechtsrahmen als auch verschiedene Massnahmen, welche im Rahmen des neuen Migrations- und Asylpakets vorgeschlagen wurden,[40] Möglichkeiten zur Abweichung von asylrechtlichen Grundsätzen bieten, kann nicht nachvollzogen werden, warum zusätzlich eine Instrumentalisierungsverordnung notwendig wäre.[41]

Im Einzelnen enthält die Instrumentalisierungsverordnung zudem zahlreiche problematische Vorschriften, welche teilweise eine Legalisierung von unionsrechtswidrigen mitgliedstaatlichen Praktiken darstellen[42] und bei denen eine Gefahr der Verletzung von Grundrechten besteht:[43] So ist z.B. zu bezweifeln, dass mit der Ausweitung der Anwendung des Grenzverfahrens auf fast alle Antragsteller auf internationalen Schutz den besonderen Bedürfnissen von vulnerablen Personen wie Minderjährige hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. nArt. 2 Abs. 1 lit. b Instr-VO).[44] Schliesslich können Antragsteller im Rahmen des Grenzverfahrens ohne grössere Hindernisse in Haft genommen (vgl. nArt. 8 Abs. 3 lit. d AB-RL)[45] und die materiellen Leistungen auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse beschränkt werden (vgl. Art. 3 Instr-VO). Bei einer Verfahrensdauer von bis zu 16 Wochen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c Instr-VO) besteht somit die erhebliche Gefahr, dass im Einzelfall die Menschenwürde trotz allem verletzt wird und das Wohl des Kindes nicht gewahrt werden kann.[46]

Des Weiteren werden ohne ersichtlichen Grund verschiedene Garantien der vorgeschlagenen Neufassung der Rückführungsrichtlinie zulasten der Drittstaatsangehörigen, deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde, ausgeklammert (vgl. Art. 4 Instr-VO).[47] So können Drittstaatsangehörige in jedem Fall in Haft genommen werden, wobei sich die Dauer der Haft nicht auf den kürzest möglichen Zeitraum zu beschränken hat und zwölf Wochen überschreiten kann (vgl. Art. 4 Instr-VO i.V.m. nArt. 41a Abs. 6, 7 AV-VO). Die Inhaftnahme müsste auch nicht überprüft werden (vgl. Art. 4 Instr-VO i.V.m. nArt. 18 Abs. 2 bis 4 RF-RL). Insbesondere hätten die Mitgliedstaaten keine Formvorgaben mehr zu beachten beim Erlass einer Rückkehrentscheidung und es gäbe kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (vgl. Art. 4 Instr-VO i.V.m. nArt. 15, 16 RF-RL), was im Hinblick auf Art. 47 GRC[48] problematisch ist.[49]

Schlussendlich kann der betroffene Mitgliedstaat gemäss Art. 6 Abs. 1 Instr-VO beschliessen, dass Anträge auf internationalen Schutz nur noch an bestimmten Registrierungsstellen registriert und formal gestellt werden können. Diese vorgeschlagene Neuerung dürfte jedoch keinesfalls dahingehend verstanden werden, dass sie für den Drittstaatsangehörigen zusätzliche Hürden bei der formlosen Antragsstellung bewirkt, zumal dies eine Beeinträchtigung des effektiven Zugangs zum Asylverfahren darstellen würde.[50] Vielmehr hat die anschliessende Registrierung durch den Mitgliedstaat zu erfolgen,[51] weshalb dieser den Antragsteller gegebenenfalls zur nächsten Registrierungsstelle zu transportieren hat.[52]

5. Neuer Anlauf zur Regulierung der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen

Um dem Phänomen der vermehrten Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen zu begegnen, entschied sich die Kommission für ein Vorgehen, welches den Willen der Mitgliedstaaten, solche Kontrollen gegebenenfalls über mehrere Jahre hinweg selbständig wiedereinzuführen, grundsätzlich akzeptiert. Dies lässt sich einerseits an den (teilweise beträchtlichen) Fristverlängerungen erkennen (vgl. nArt. 25a SGK) und andererseits am Umstand, dass die Mitgliedstaaten faktisch keine Höchstdauer mehr zu berücksichtigen haben (vgl. nArt. 27a Abs. 5 und nArt. 28 Abs. 2 SGK).[53] Nebst diesem grundsätzlichen Eingeständnis an die Mitgliedstaaten enthält der Vorschlag der Kommission verschiedene Neuerungen, welche die Staaten nichtsdestotrotz dazu bewegen sollen, in Zukunft vermehrt von der Wiedereinführung bzw. Verlängerung von Binnengrenzkontrollen abzusehen.[54] Zudem hat die Kommission mit nArt. 28 SGK einen weiteren Mechanismus eingeführt - nebst dem bestehenden Art. 29 SGK -, der in gewissen Situationen zumindest eine einheitliche Regulierung solcher Kontrollen durch den Rat für den gesamten Schengen-Raum erlaubt.

Der Vorschlag der Kommission ändert somit nichts daran, dass - wie jüngst vom Gerichtshof bestätigt[55] - aufgrund der wiedereingeführten anhaltenden Binnengrenzkontrollen die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit gemäss Art. 21 AEUV beeinträchtigt sowie der Grundsatz der Abwesenheit von Binnengrenzkontrollen gemäss Art. 67 Abs. 2 AEUV nicht eingehalten wird.[56] Zwar ist das Vorgehen der Kommission vor dem realpolitischen Hintergrund, dass die Mitgliedstaaten teilweise hartnäckig und über Jahre hinweg an Binnengrenzkontrollen festhalten, nachvollziehbar. Ebenso ist es grundsätzlich begrüssenswert, dass mit den vorgängig erwähnten Begleitmassnahmen ein verhältnismässigerer Umgang mit den verschiedenen Herausforderungen innerhalb des Schengen-Raums gefördert wird. Jedoch begünstigt die Kommission mit ihrem Vorschlag eine heikle Dynamik, wonach zunehmend wieder die Mitgliedstaaten den Ton beim Schengen-Recht angeben, was an eine schleichende Rückkehr zum einstigen Intergouvernementalismus erinnert.[57]

Nebst dieser grundsätzlichen Einordnung des Verordnungsvorschlags geben zudem einzelne spezifische Neuerungen Anlass für (teils beträchtliche) Bedenken. Zum einen bestimmt nArt. 23 SGK, dass die Kontrollmassnahmen auf Grundlage einer Risikoanalyse zu erfolgen haben (nArt. 23 lit. a Ziff. iii SGK). Insbesondere im Zusammenhang mit Massnahmen, welche die Bekämpfung irregulärer Migration bezwecken, besteht in der Praxis jedoch die Gefahr, dass es aufgrund dieser Risikoanalyse zu einem vermehrten Racial Profiling[58] kommt.[59] Hierbei handelt es sich um eine spezifische Form von Diskriminierung aufgrund der Rasse,[60] weshalb diese Praxis gegen das Diskriminierungsverbot verstösst.[61]

Zum anderen führt nArt. 23a SGK ein Verfahren zur Überstellung von in der Nähe der Binnengrenzen aufgegriffenen Drittstaatsangehörigen ein. Da diese Bestimmung nicht explizit gewährleistet, dass das Verfahren im Fall eines Antrags auf internationalen Schutz nicht zur Anwendung kommen kann,[62] und zudem vorsieht, dass die Überstellung innert 24 Stunden zu erfolgen hat und einem ergriffenen Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung zukommt, besteht die Gefahr, dass es in der Praxis aufgrund einer unzureichenden Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu Internal Pushbacks kommt.[63] Dies könnte zu einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots führen.[64]

IV. Fazit

Die von der Kommission am 14. Dezember 2021 vorgestellten Verordnungsvorschläge zur Reform des Schengen-Systems sind insgesamt durchzogen zu bewerten. Gemäss der Kommission bezweckt diese Reform, den Schengen-Raum widerstandsfähiger zu machen gegen Herausforderungen beim Management der Aussen- und Binnengrenzen.[65] Zwar tragen die vorgeschlagenen Neuerungen teilweise effektiv zu diesem Ziel bei. Verschiedene Regelungen würden jedoch weniger die Widerstandsfähigkeit des Schengen-Raums stärken als vielmehr das Schutzniveau im europäischen Asylrecht mindern sowie heikle asylrechtliche Praktiken der Mitgliedstaaten legalisieren. Insbesondere die vorgeschlagene Instrumentalisierungsverordnung ist unter diesem Gesichtspunkt problematisch, wobei zudem anzuzweifeln ist, ob diese Verordnung überhaupt notwendig ist.



[1] Während der COVID-19 Pandemie drängte sich an den Aussengrenzen ein einheitliches Vorgehen zur Regulierung der Migration auf, weshalb der Rat im Juni 2020 eine Empfehlung hinsichtlich der Einreise von Personen aus Ländern mit einer äusserst problematischen epidemiologischen Lage in die EU formulierte, vgl. Empfehlung (EU) 2020/912 des Rates vom 30. Juni 2020 zur vorübergehenden Beschränkung nicht unbedingt notwendiger Reisen in die EU und möglichen Aufhebung dieser Beschränkung. Diese Empfehlung wurde jedoch von den Mitgliedstaaten oftmals missachtet, m.w.H. Commission Staff Working Document vom 14. Dezember 2021, Impact Assessment Report (SWD(2021) 462 final), Punkt 2.1.2.

[2] Das belarussische Regime begann im Sommer 2021, Drittstaatsangehörige mit falschen Versprechungen an die belarussische Grenze zu Polen, Litauen und Lettland zu locken, was zu einem starken Anstieg der illegalen Grenzübertritte in diese Mitgliedstaaten sowie der Asylanträge führte, m.w.H. Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 23. November 2021, Reaktion auf staatlich geförderte Instrumentalisierung von Migranten an der EU-Aussengrenze (JOIN(2021) 32 final), S. 1 ff. Die EU ergriff daraufhin verschiedenste Massnahmen zur Unterstützung der betroffenen Mitgliedstaaten sowie zur Abwehr dieses «hybriden Angriffs», vgl. die Übersicht in JOIN(2021) 32 final, S. 3 ff. Am 1. Dezember 2021 präsentierte die Kommission zudem einen Vorschlag für einen Ratsbeschluss auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 26. Oktober 2012 [AEUV; C 326/47]), um Lettland, Litauen und Polen vorläufige Sofortmassnahmen zukommen zu lassen, vgl. COM(2021) 752 final.

[3] Als Rechtfertigungsgrund verwiesen die Mitgliedstaaten auf die Flüchtlingskrise, Terrorangriffe und - seit März 2020 - die COVID-19 Pandemie, vgl. die Übersicht in Staff Working Document, SWD(2021) 462 final (Fn. 1), S. 7 f. und Annex 6. Mit der Zeit wurde zunehmend ersichtlich, dass die Mitgliedstaaten das Instrument der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen im Sinn einer dauerhaften Vorsichtsmassnahme einsetzen, vgl. Vorschlag für eine Verordnung der Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2021 zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/339 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, COM(2021) 891 final, S. 6 sowie m.w.H. SWD(2021) 462 final (Fn. 1), S. 7 f. und Annex 7. Zumal dieses Vorgehen im Widerspruch steht zu den Vorgaben des Schengener Grenzkodex und sowohl die Personenfreizügigkeit als auch den freien Warenverkehr erschwert (COM(2021) 891 final, S. 4 f.), hatte sich auch der EuGH bereits mit dieser Thematik zu beschäftigen, siehe das Urteil des EuGH C-368/20 und C-369/20 vom 26. April 2022 (Landespolizeidirektion Steiermark), Ziff. 52 ff.

[4] Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (L 77/1).

[5] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2021 zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl (Instrumentalisierungsverordnung, Instr-VO), COM(2021) 890 final.

[7] Der neue Annex XI SGK bestimmt, dass unter anderem das Gesundheitspersonal, Grenzgänger, Passagiere, die aus zwingenden familiären Gründen reisen, sowie Personen, die internationalen Schutz oder Schutz aus anderen humanitären Gründen benötigen, unter diese Kategorie fallen.

[8] Weder aus der deutschen noch aus der englischen Fassung des nArt. 2 Nr. 27 SGK geht eindeutig hervor, ob es sich hierbei um kumulative oder alternative Kriterien handelt. Die französische Fassung geht jedoch eindeutig von einer kumulativen Anwendung aus. Diese Auslegung wird unterstützt durch den Wortlaut in Erwägungsgrund 8 des Verordnungsvorschlags.

[9] Neu wird in nArt. 25 Abs. 1 SGK präzisiert, welche hauptsächlichen Ursachen eine solche Bedrohungslage auslösen können: Terroristische Aktivitäten, Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, starke Migrationsströme zwischen den Mitgliedstaaten, welche das Funktionieren des Schengen-Raums gefährden, sowie grössere internationale Veranstaltungen.

[10] Falls ein Mitgliedstaat eine solche Verlängerung beabsichtigt, hat er zu überprüfen, ob die hiermit angestrebten Ziele nicht auch mit alternativen Massnahmen - wie z.B. den Massnahmen gemäss den nArt. 23 lit. a und nArt. 23a SGK - erreicht werden könnten, vgl. nArt. 26 Abs. 2 SGK. Zudem hat er seiner Mitteilung an die Kommission eine Risikoanalyse beizufügen, vgl. nArt. 27 Abs. 2 SGK. Wird der Kommission eine Verlängerung mitgeteilt, die zu einer Fortführung der Binnengrenzkontrollen über eine Dauer von insgesamt 18 Monaten hinausführt, hat diese zwingend eine Stellungnahme bezüglich der Erforderlichkeit und der Verhältnismässigkeit abzugeben, vgl. nArt. 27a Abs. 3 SGK.

[11] Gemäss nArt. 27a Abs. 5 SGK kann ein Mitgliedstaat von dieser Höchstdauer abweichen, wenn er die Auffassung vertritt, dass eine aussergewöhnliche Situation vorliegt, die weiterhin Binnengrenzkontrollen rechtfertigt. In diesem Fall hat er lediglich eine erneute Mitteilung inklusive Risikoanalyse an die Kommission zu richten, worin der Mitgliedstaat die anhaltende Bedrohung begründet.

[12] Vorschlag zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/339 (Fn. 3), S. 8. Da diese Bestimmung grundsätzlich dieselben Bedrohungen betrifft wie nArt. 25a SGK, unterliegen die Massnahmen einzelner Mitgliedstaaten, welche gestützt auf letztere Bestimmung ergriffen wurden, ab Inkrafttreten des Beschlusses des Rates diesem Beschluss, vgl. nArt. 28 Abs. 3 SGK.

[13] Jede Verlängerung bedarf eines Vorschlags durch die Kommission, welche zu berücksichtigen hat, ob die Massnahmen weiterhin gerechtfertigt sind, vgl. nArt. 28 Abs. 5 SGK.

[14] Diese Ausweitung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass der Kommission zufolge bestimmte Bedrohungen über längere Zeiträume hinweg fortbestehen können, vgl. Vorschlag zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/339 (Fn. 3), S. 9.

[16] Vgl. Erwägungsgrund 17 des Verordnungsvorschlags, welcher explizit auf Gesundheits- und Strafverfolgungsbehörden Bezug nimmt. Vgl. Vorschlag zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/339 (Fn. 3), S. 10, wonach sämtliche zuständigen Behörden die durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelten Schutzgarantien für die Ausübung der polizeilichen Befugnisse zu beachten haben (vgl. Urteil des EuGH C-188/10 und C-189/10 vom 22. Juni 2010 [Melki und Abdeli], Ziff. 63 ff.).

[17] In diesem Fall umfassen die zulässigen Kontrollmassnahmen die Überprüfung der Identität, der Staatsangehörigkeit und des Aufenthaltsstatus der betroffenen Person, vgl. Erwägungsgrund 20 des Verordnungsvorschlags.

[18] Vgl. die Definition von «gemeinsamen Einsatzformen» in Art. 1 lit. c des Vorschlags für eine Empfehlung des Rates zur operativen polizeilichen Zusammenarbeit (COM(2021) 780 final).

[19] Dieses Verfahren geht somit dem Erlass einer Rückkehrentscheidung vor, weshalb der Vorschlag der Kommission ebenfalls eine Modifikation von Art. 6 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger) enthält.

[20] S.o. Fn. 2 zum Vorschlag COM(2021) 752 final.

[21] Vorschlag Instrumentalisierungsverordnung (Fn. 5), S. 2. Der Inhalt dieser Verordnung deckt sich weitgehend mit dem Vorschlag der Kommission vom 1. Dezember 2021 für einen Ratsbeschluss.

[22] Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2016 zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, COM(2016) 467 final; Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2020 zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, COM(2020) 611 final.

[23] Vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2016 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), COM(2016) 465 final.

[24] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. September 2018 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Neufassung), COM(2018) 634 final.

[25] Der Durchführungsbeschluss bestimmt, welche Ausnahmeregelungen gemäss den Art. 2, 3 und 4 Instr-VO angewendet werden dürfen, sowie den Beginn und die Dauer des Anwendungszeitraums, welcher sechs Monate nicht überschreiten darf, vgl. Art. 7 Abs. 3, 4 Instr-VO. Es besteht jedoch die Möglichkeit, mittels erneutem Durchführungsbeschluss den Anwendungszeitraum beliebig oft um jeweils maximal sechs Monate zu verlängern, vgl. Art. 7 Abs. 5 Instr-VO.

[26] Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Drittstaatsangehörigen über die angewandten Massnahmen, den Ort der Registrierungsstellen und die Dauer der Massnahmen informiert werden (Art. 6 Instr-VO).

[27] Dies stellt eine Abweichung von nArt. 27 AV-VO dar, demzufolge die Registrierung innert drei bzw. zehn Arbeitstagen zu erfolgen hat (Abs. 1 und 3).

[28] Diese Ausnahmeregelung weitet den Anwendungsbereich des Grenzverfahrens gemäss nArt. 41 AV-VO auf sämtliche Antragsteller aus - unter Berücksichtigung der in nArt. 41 Abs. 9 lit. b, c AV-VO vorgesehenen Ausnahmen (vgl. Erwägungsgrund 7 Instr-VO) -, vgl. Vorschlag Instrumentalisierungsverordnung (Fn. 5), S. 15. Dies stellt eine Abweichung von nArt. 41 Abs. 2 lit. b und Abs. 3, 5 AV-VO dar.

[29] Dies stellt eine Abweichung vom nArt. 41 Abs. 11 AV-VO dar, demzufolge die Höchstdauer des Grenzverfahrens zwölf Wochen beträgt.

[30] In Art. 3 Instr-VO wird aufgelistet, dass die Deckung der Grundbedürfnisse insbesondere die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Wasser, Kleidung, einer angemessenen medizinischen Versorgung sowie einer den Witterungsbedingungen angepassten Unterkunft umfasst.

[31] Diese Regelung inspiriert sich an der in nArt. 2 Abs. 2 lit. a RF-RL vorgesehenen Ausnahme des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie, vgl. Vorschlag Instrumentalisierungsverordnung (Fn. 5), S. 7 und 16.

[32] Es handelt sich dabei um folgende neue Bestimmungen: nArt. 10 Abs. 4, 5, nArt. 11 Abs. 2 lit. a, nArt. 17 Abs. 1 lit. b, d, nArt. 19 und nArt. 20 RF-RL.

[33] Gemäss der aktuell gültigen Rechtslage kann der Rat lediglich eine Empfehlung aussprechen, s.o. Fn. 1.

[34] Zwar können diese Personen trotzdem anderen Reisebeschränkungen unterliegen wie z.B. Tests, Quarantäne und Selbstisolierung. Ein solcher Eingriff in deren Rechte kann jedoch grundsätzlich - vorbehaltlich der Prüfung des einzelnen Durchführungsrechtsakts unter den konkreten Umständen - als verhältnismässig gewertet werden, zumal der Schutz der öffentlichen Gesundheit einen zulässigen Rechtfertigungsgrund darstellt.

[36] Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (L 180/60).

[37] Urteil des EuGH C-808/18 vom 17. Dezember 2020 (Kommission gegen Ungarn), Ziff. 96.

[38] Gl.M. ECRE, Comments COM(2021) 891 (Fn. 35), S. 8.

[39] Gl.M. ECRE, Comments on the Commission Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council Addressing Situations of Instrumentalisation in the Field of Migration and Asylum, COM(2021) 890 final, 2022, S. 7. Vgl. Saila Heinikosi, Schengen Reform and the Instrumentalisation of Asylum-Seekers, New Commission Proposals Legitimate States' Existing Practices, Helsinki 2022, S. 4, die zutreffend bemerkt, dass man bei einem «hybriden Angriff» Massnahmen gegen den instrumentalisierenden Drittstaat erwarten würde anstatt gegen die instrumentalisierten Antragsteller.

[40] Z.B. könnte im Fall eines «Massenzustroms» von Drittstaatsangehörigen - entgegen der Ansicht der Kommission (vgl. Vorschlag Instrumentalisierungsverordnung [Fn. 5], S. 3) - die vorgeschlagene Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2020 zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl (COM(2020) 613 final) zur Anwendung kommen.

[41] Vgl. Meijers Committee, Letter to the Commission Regarding the Proposal on Emergency Measures at the Belarussian Border, 14. Dezember 2021, S. 1, welches bereits hinsichtlich des Vorschlags der Kommission vom 1. Dezember 2021 für einen Ratsbeschluss davon ausging, dass die bestehende EU-Gesetzgebung ausreichend sei.

[42] Vgl. RSA, Comments COM(2021) 891 (Fn. 35), S. 3. Siehe zudem die Kommentierung der Praktiken von Litauen, Polen und Lettland in ECRE, Joint Statement: Call on the EU: Restore Rights and Values at Europe's Borders, 26. Novembver 2021.

[43] Die Instrumentalisierungsverordnung wurde aus diesen Gründen verschiedentlich scharf kritisiert, vgl. Julia Kienast, «Krise» an der belarussischen Grenze und wie die Kommission das Feuer weiter anfacht, Blog Asyl vom 16. Februar 2022; Kirsten Krampe, EU-Aussengrenzen: Grundlegender Werteverlust, Heinrich-Böll-Stiftung vom 14. Dezember 2021, wonach zunehmend die Aussengrenzen anstatt die Menschen geschützt würden; RSA, RSA Comments on the Commission Proposal for a Regulation on "Instrumentalization" in Asylum and Migration, COM(2021) 890, 2022, S. 2.

[44] Vgl. ECRE, Comments COM(2021) 890 (Fn. 39), S. 12; Meijers Committee, Letter to Commission (Fn. 41), S. 2.

[45] Vgl. Erwägungsgrund 8 Instr-VO. Für Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen wie Minderjährige gelten jedoch spezielle Vorgaben über die Haft, welche auch beim Grenzverfahren zur Anwendung kommen (vgl. nArt. 11 AB-RL).

[46] Vgl. ECRE, Comments COM(2021) 890 (Fn. 39), S. 15; vgl. Meijers Committee, Letter to Commission (Fn. 41), S. 2.

[47] ECRE, Comments COM(2021) 890 (Fn. 39), S. 16, der auf nArt. 15 und 16 RF-RL verweist.

[48] Charta der Grundrechte der Europäischen Union, unterzeichnet in Nizza am 7. Dezember 2000 (GRC; C 361/1).

[49] Die Verhältnismässigkeit einer Einschränkung von Art. 47 GRC ist in dieser Konstellation mangels Erforderlichkeit anzuzweifeln. Zwar inspiriert sich Art. 4 Instr-VO an der in nArt. 2 Abs. 2 lit. a RF-RL vorgesehenen Ausnahme des Anwendungsbereichs. Jedoch würde bei einer Anwendung dieser Bestimmung dem Antragsteller trotz allem - gestützt auf Art. 14 Abs. 3 SGK - ein Rechtsmittel zustehen, vgl. ECRE, Comments COM(2021) 890 (Fn. 39), S. 16.

[50] Der EuGH hat diesbezüglich festgehalten, dass der Zeitpunkt der formlosen Antragsstellung nicht ungerechtfertigt verzögert werden darf, zumal ansonsten die praktische Wirksamkeit von Art. 6 der Anerkennungsrichtlinie beeinträchtigt würde, vgl. Urteil des EuGH C-808/18 vom 17. Dezember 2020 (Kommission gegen Ungarn), Ziff. 103.

[51] Vgl. Urteil des EuGH C-36/20 PPU vom 25. Juni 2020 (VL gegen Ministerio Fiscal), Ziff. 79 und 93.

[52] RSA, Comments COM(2021) 890 (Fn. 43), S. 5. Die Mitgliedstaaten haben zudem gemäss Art. 6 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie sicherzustellen, dass die formale Antragstellung baldmöglichst erfolgen kann.

[53] Die Mitgliedstaaten können von der in nArt. 27a Abs. 5 SGK gewährten Möglichkeit auch dann Gebrauch machen, wenn sie sich bei ihrem Vorgehen ursprünglich nicht auf den nArt. 25a Abs. 4 SGK abgestützt haben. Schliesslich steht es ihnen jederzeit - und somit auch dann, wenn sie bereits gestützt auf nArt. 25a Abs. 1 (vgl. den Hinweis in dessen Abs. 6) und nArt. 28 SGK oder den bestehenden Art. 29 SGK Binnengrenzkontrollen wiedereingeführt haben - offen, die Verlängerung solcher Kontrollen mit Verweis auf nArt. 25a Abs. 4 SGK zu begründen. Einzige Voraussetzung hierfür ist, dass der Mitgliedstaat davon ausgeht, dass eine vorhersehbare ernsthafte Bedrohung vorliegt und die massgeblichen Verfahrensvorschriften eingehalten werden.

[54] Hierzu zählen insbesondere diejenigen Modifikationen des Schengener Grenzkodex, welche den Einsatz von alternativen Massnahmen durch die Mitgliedstaaten verstärken sollen (vgl. nArt. 23, 23a und 26 Abs. 2 SGK) oder erhöhte Anforderungen an die Begründungspflicht der Mitgliedstaaten vorsehen (vgl. nArt. 27 SGK).

[55] Vgl. Urteil des EuGH C-368/20 und C-369/20 vom 26. April 2022 (Landespolizeidirektion Steiermark), Ziff. 66, 69 und 78, worin unter diesen Gesichtspunkten die Zulässigkeit von Binnengrenzkontrollen, welche die in Art. 25 Abs. 4 SGK vorgesehene Höchstdauer überschreiten, untersucht wird. Für einen Kommentar siehe z.B. Pola Cebulak / Marta Morvillo, Schengen Restored, The CJEU Sets Clear Limits to the Reintroduction of Internal Border Controls, Verfassungsblog vom 5. Mai 2022.

[56] Vgl. Meijers Committee, CM2205 Commentary on the Commission Proposal Amending the Schengen Borders Code (COM(2021) 891), Amsterdam 2022, S. 1 f. und 4. Bezüglich der nachteiligen Auswirkungen von Binnengrenzkontrollen auf die Personenfreizügigkeit, vgl. z.B. European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), Coronavirus Pandemic in the EU - Fundamental Rights Implications: Focus on Social Rights, Bulletin 6, Luxembourg 2020.

[57] Meijers Committee, CM2205 Commentary (Fn. 56), S. 2.

[58] Für eine Definition siehe European Commission against Racism and Intolerance (ECRI), ECRI General Policy Recommendation N° 11 on Combating Racism and Racial Discrimination in Policing, 2007, S. 4. M.w.H. Anna Hettrich, Racial Profiling in Europe: How well equipped is National, International and Supranational Human Rights Law to counter it?, ZEuS 2018, S. 116.

[59] ECRE, Comments COM(2021) 891 (Fn. 35), S. 12, der zudem bemerkt, dass die Praxis des Racial Profiling den in Art. 67 Abs. 2 und 3 AEUV genannten Grundsätzen widerspricht; Meijers Committee, CM2205 Commentary (Fn. 56), S. 6; vgl. PICUM vom 15. Februar 2022 (The New Draft Schengen Borders Code Risks Leading to More Racial and Ethnic Profiling).

[61] FRA, Preventing unlawful profiling today and in the future: a guide , 2018, S. 24; m.w.H. Hettrich (Fn. 58), S. 123 ff.

[62] Da bei der Anwendung von nArt. 23a SGK Registrierungseinträge anderer Mitgliedstaaten in Eurodac berücksichtigt werden sollen (vgl. Vorschlag zur Änderung der Verordnung [EU] 2016/339 [Fn. 3], S. 10), ist vielmehr davon auszugehen, dass das Verfahren insbesondere auch auf Antragsteller angewendet werden soll.

[63] Anna Lübbe, Pushbacks? Egal, wir machen das jetzt so, Verfassungsblog vom 21. Januar 2022; PICUM (Fn. 59); m.w.H. ECRE, Comments COM(2021) 891 (Fn. 35), S. 12 ff.

[64] Vgl. Urteil des EuGH C-411/10 und C-493/10 vom 21. Dezember 2011 (N.S. u.a.), Ziff. 81 und 94, worin betont wird, dass auch eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat das Non-Refoulement-Gebot verletzen kann. Vgl. Iris Goldner Lang / Boldizsár Nagy, External Border Control Techniques in the EU as a Challenge to the Principle of Non-Refoulement, EuConst 17/2021, S. 447 und 452, denen zufolge eine Grenzpraxis der Mitgliedstaaten, welche einem Drittstaatsangehörigen den Zugang zum Asylverfahren verweigert - wie dies beiPushbacks der Fall ist - eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots bewirken kann.

[65] Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2021 (Schengen: Neue Vorschriften für einen resilienteren Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen).