I. Einführung
Im Dezember 2021 hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) im Fall V.M.A. gegen Stolichna obshtina, rayon
«Pancharevo»[1]
(nachfolgend: Urteil «Pancharevo») erstmalig die Rechte von sog.
Regenbogenfamilien[2]
anerkannt, die von ihrer unionsrechtlichen Freizügigkeit Gebrauch
gemacht haben.
Konkret ging es um die Frage, ob ein Mitgliedstaat (hier: Bulgarien)
verpflichtet ist, eine Geburtsurkunde (die Voraussetzung für die
Ausstellung eines bulgarischen Passes oder Personalausweises ist) für
ein Kind gleichgeschlechtlicher Eltern auszustellen, die verheiratet sind
und in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Spanien) leben. Die spanischen
Behörden hatten dem Kind eine Geburtsurkunde ausgestellt, in der beide
Mütter als Eltern aufgeführt wurden.
Die bulgarische Mutter beantragte in Sofia für ihre Tochter eine
bulgarische Geburtsurkunde, um später ein bulgarisches
Identitätsdokument für das Kind erhalten zu können. Die
wurde ihr verweigert, solange sie keinen Nachweis über die leibliche
Abstammung des Kindes von ihr vorlege. Diesen wollten die Mütter
jedoch nicht erbringen. Die Verweigerung der Geburtsurkunde wurde u.a.
damit begründet, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in Bulgarien nicht
zulässig sei.
Der EuGH sah in der Weigerung eine Verletzung der in Art. 20 und 21 AEUV[3] garantierten
Personenfreizügigkeit der Unionsbürger. Zudem bezog er zu Art. 7, 9, 24 und
45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[4]
(nachfolgend: Grundrechtscharta) Stellung, welche die Rechte des Privat-
und Familienlebens, die Ehefreiheit, den Schutz des Kindes sowie die Rechte
auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit schützen.
Der EuGH stellte klar, dass die bulgarischen Behörden (ebenso wie die
Behörden anderer Mitgliedstaaten) verpflichtet seien, die spanische
Geburtsurkunde anzuerkennen und dem Kind ein bulgarisches
Identitätsdokument auszustellen. Der EuGH stellte zudem klar, dass
eine Berufung auf Art. 4 Abs. 2 EUV, der die
nationale Identität der Mitgliedstaaten schützt, nicht
möglich sei. Denn aus der Pflicht, ein Identitätsdokument
auszustellen, liesse sich keineswegs ableiten, dass im nationalen Recht
eine gleichgeschlechtliche Elternschaft vorgesehen werden müsse.
Nach dem Urteil «Pancharevo» ist klar, dass Diskriminierungen,
denen Unionsbürger beim Ausüben ihrer Freizügigkeit aufgrund
solcher Ehen ausgesetzt sind, Unionsrecht verletzen. Der Gerichtshof baut
dabei auf seine vorherige Rechtsprechung zur Personenfreizügigkeit von
gleichgeschlechtlichen Ehepartnern[5] auf und erweitert diese.
Das Urteil erhielt viel mediale Aufmerksamkeit,[6] da es einen wichtigen
Präzedenzfall für die Anerkennung und Stärkung der
Personenfreizügigkeit von «Regenbogenfamilien» darstellt.
Wenig überraschend wurde es von Befürwortern der
gleichgeschlechtlichen Ehe begrüsst,[7] während sich
konservative Kreise kritisch äusserten.[8]
Die Stärkung der Rechte von Regenbogenfamilien in der EU schreitet
unaufhaltsam voran: Erst im September 2021 hat das
Europäische Parlament eine Entschliessung zu den Rechten von
LGBTIQ-Personen[9]
in der EU angenommen, welche fordert, dass diese Bürger ihre Rechte in
der ganzen Union gleich und uneingeschränkt ausüben können.[10]
Die gleichgeschlechtliche Ehe ist inzwischen in 13 und damit fast der
Hälfte der Mitgliedstaaten der EU rechtlich möglich.[11] Bislang wird diese
allerdings vorwiegend in den westlichen Staaten der EU anerkannt,
während sie in östlichen Staaten (noch) nicht möglich ist.[12]
Nachfolgend wird das Urteil «Pancharevo» zusammengefasst (II.).
Anschliessend wird seine Bedeutung insbesondere im Kontext der bisherigen
Rechtsprechung des EuGH zur Personenfreizügigkeit von
gleichgeschlechtlichen Eheleuten und der Entschliessung des
Europäischen Parlaments zu den Rechten von LGBTIQ-Personen näher
beleuchtet (III.). Der Beitrag schliesst mit einem Fazit und Ausblick
(IV.).
II. Das Urteil «Pancharevo»
1. Zum Sachverhalt
Die beiden Frauen, V.M.A., eine bulgarische Staatsangehörige, und
K.D.K., eine britische Staatsangehörige, heirateten 2018 in Gibraltar
und wohnen seit 2015 in Spanien (Ziff. 18). Im Dezember 2019 wurde die
gemeinsame Tochter S.D.K.A. in Spanien geboren, wo sie mit ihren
Müttern lebt. Die spanischen Behörden stellten S.D.K.A. eine
Geburtsurkunde aus, die beide Mütter als Eltern aufführt. Auf der
Geburtsurkunde ist nicht angegeben, welche der beiden Mütter die
leibliche Mutter ist (Ziff. 19).
Im Januar 2020 beantragte V.M.A. bei der Gemeinde Sofia (Bulgarien) die
Ausstellung einer bulgarischen Geburtsurkunde für S.D.K.A., die
für die Ausstellung eines bulgarischen Identitätsdokuments
notwendig ist (Ziff. 20). Die Gemeinde Sofia verlangte einen Nachweis
über die leibliche Abstammung des Kindes von V.M.A., welche ihr jedoch
von den beiden Müttern verweigert wurde (Ziff. 21 f.). Daraufhin
lehnte die Gemeinde Sofia im März 2020 die Ausstellung einer
Geburtsurkunde für S.D.K.A. ab. Sie begründete die Ablehnung
damit, dass der Nachweis über die leibliche Abstammung S.D.K.A.s
fehle. Zudem liefe die Angabe zweier Elternteile weiblichen Geschlechts in
der Geburtsurkunde der öffentlichen Ordnung zuwider, da in Bulgarien
die gleichgeschlechtliche Ehe nicht zulässig sei (Ziff. 23).
Daraufhin erhob V.M.A. beim Verwaltungsgericht der Stadt Sofia (Bulgarien)
Beschwerde gegen den ablehnenden Entscheid (Ziff. 24). Das
Verwaltungsgericht der Stadt Sofia stellte fest, dass S.D.K.A. die
bulgarische Staatsangehörigkeit besitze. Die Weigerung der
bulgarischen Behörden, S.D.K.A. eine Geburtsurkunde auszustellen,
bedeute nicht, dass S.D.K.A. die bulgarische Staatsangehörigkeit
verweigert werde (Ziff. 25).
2. Zur Entscheidung des EuGH
Mit einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV gelangte das
Verwaltungsgericht der Stadt Sofia an den EuGH und ersuchte die
Klärung nachfolgender Rechtsfragen (Ziff. 32):
Der Gerichtshof beantwortete die Vorlagefragen unter drei Aspekten, die
nachfolgend erläutert werden.
a) Zum Recht des Kindes auf Personenfreizügigkeit gemäss Art.
20 und 21 AEUV
Zunächst hatte das bulgarische Verwaltungsgericht festgestellt, dass
S.D.K.A. gemäss Art. 25 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung kraft
Geburt die bulgarische Staatsangehörigkeit besitze. Der EuGH schloss
daraus, dass S.D.K.A. nach Art. 20 Abs. 1 AEUV
Unionsbürgerin sei und sich demnach auf die mit dieser Eigenschaft
verbundenen Rechte berufen könne (Ziff. 39 f.). Insbesondere komme in
diesem Zusammenhang Art. 21 Abs. 1 AEUV zum Tragen,
wonach jeder Unionsbürger grundsätzlich das Recht habe, sich im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Der EuGH stützte sich in diesem Zusammenhang auf seine frühere
Rechtsprechung und führte aus, dass Unionsbürger, die ihre
Freizügigkeit ausgeübt haben, diese Rechte gegenüber ihren
Herkunftsmitgliedstaaten geltend machen können. Zudem hätten aber
auch Unionsbürger, die im Aufnahmemitgliedstaat ihrer Eltern geboren
wurden und nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht
haben, die Möglichkeit, sich gegen den eigenen Herkunftsstaat auf
diese Rechte zu berufen (Ziff. 42). Damit die Unionsbürger ihre
Freizügigkeitsrechte in Anspruch nehmen können, seien die
Mitgliedstaaten gemäss
Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38
(Freizügigkeitsrichtlinie)[13] verpflichtet, ihren
Staatsangehörigen einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen
(Ziff. 43).
Der EuGH folgerte daraus, dass die bulgarischen Behörden verpflichtet
seien, S.D.K.A. einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, der ihre
Staatsangehörigkeit und ihren Nachnamen angibt, wie er sich aus der
spanischen Geburtsurkunde ergibt (Ziff. 44). Gemäss
Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38
sei das bulgarische Identitätsdokument unabhängig von einer
bulgarischen Geburtsurkunde auszustellen; Bulgarien könne sich somit
nicht auf sein nationales Recht berufen, um die Ausstellung des
Identitätsdokuments zu verweigern (Ziff. 45).
Weiter betonte der EuGH, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV
Unionsbürgern auch das Recht gewähre, sich sowohl im
Aufnahmemitgliedstaat wie auch im Mitgliedstaat ihrer
Staatsangehörigkeit aufzuhalten, um dort ein normales Familienleben zu
führen, indem sie dort mit ihren Familienangehörigen
zusammenleben (Ziff. 47). Die spanischen Behörden hätten zudem
unstreitig ein biologisches oder rechtliches Abstammungsverhältnis
zwischen S.D.K.A. und ihren beiden Müttern rechtmässig
festgestellt und dies in der Geburtsurkunde bescheinigt (Ziff. 48).
Bulgarien sowie die anderen Mitgliedstaaten seien verpflichtet, dieses
Abstammungsverhältnis anzuerkennen, um es S.D.K.A. zu
ermöglichen, ihr in Art. 21 Abs. 1 AEUV
gewährleistetes Freizügigkeitsrecht ungehindert mit jedem ihrer
beiden Elternteile auszuüben (Ziff. 49). Dafür sei es
erforderlich, dass V.M.A. und K.D.K. über ein Dokument verfügten,
das die beiden berechtigt, mit dem Kind zu reisen. Die Behörden des
Aufnahmemitgliedstaates seien in diesem Fall am besten in der Lage, ein
solches Dokument auszustellen, das aus der Geburtsurkunde bestehen kann.
Alle Mitgliedstaaten seien dazu verpflichtet, die spanische Geburtsurkunde
anzuerkennen (Ziff. 50).
b) Zum Rechtfertigungsgrund der Wahrung der nationalen Identität
(Art. 4 Abs. 2 EUV)
Zweitens führte der EuGH aus, dass das Personenstandsrecht, das auch
die Regelungen zur Ehe und Abstammung umfasse, ganz in der
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liege und vom Unionsrecht nicht
berührt werde. Der Gerichtshof betonte jedoch, dass die
Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das
Unionsrecht beachten müssten. Dies gelte insbesondere hinsichtlich der
Bestimmungen des AEUV. Die
Mitgliedstaaten seien verpflichtet, den in einem anderen Mitgliedsstaat
rechtmässig festgestellten Personenstand anzuerkennen (Ziff. 52).
Das Verwaltungsgericht der Stadt Sofia wollte in diesem Zusammenhang
wissen, ob Art. 4 Abs. 2 EUV, der
die nationale Identität der Mitgliedstaaten schützt, die
Weigerung der bulgarischen Behörden rechtfertigen könne, ohne
Nachweis über die leibliche Abstammung eine Geburtsurkunde
auszustellen. Das Verwaltungsgericht der Stadt Sofia brachte in diesem
Zusammenhang vor, dass der Eintrag von zwei gleichgeschlechtlichen Eltern
in der Geburtsurkunde die öffentliche Ordnung und nationale
Identität Bulgariens beeinträchtigen könne, da das
bulgarische Recht die gleichgeschlechtliche Ehe nicht vorsehe (Ziff. 53).
Dieser Argumentation erteilte der EuGH jedoch eine klare Absage. Für
die Rechtfertigung einer Ausnahme der Grundfreiheiten sei der Begriff der
«öffentlichen Ordnung» eng zu verstehen. Es müsse eine
tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die
ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre (Ziff. 55). Dies sei im
vorliegenden Fall klar nicht gegeben (Ziff. 56).
Bulgarien werde durch die Ausstellung eines Identitätsdokuments
für S.D.K.A. hingegen nicht verpflichtet, in seinem nationalen Recht
die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Personen vorzusehen. Zudem
müsse Bulgarien das Abstimmungsverhältnis nur für die
Ausübung der Unionsrechte S.D.K.A.s anerkennen (Ziff. 57).
c) Zur Vereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten
Drittens nahm der EuGH ergänzend auch auf die Unionsgrundrechte Bezug
und betonte, dass eine rechtmässige nationale Massnahme, die geeignet
sei, die Ausübung der Personenfreizügigkeit einzuschränken,
auch mit der Grundrechtscharta vereinbar sein müsse (Ziff. 58). Im
vorliegenden Fall seien insbesondere Art. 7 (Achtung des Privat- und
Familienlebens) und Art. 24
(Rechte des Kindes) der Grundrechtscharta relevant (Ziff. 59). Zudem gehe
aus Art. 52 Abs. 3 (Tragweite und
Auslegung der Rechte und Grundsätze) der Grundrechtscharta hervor,
dass Art. 7 der Grundrechtscharta
die gleiche Bedeutung und Tragweite zukomme wie Art. 8 EMRK[14] (Ziff. 60).
Der EuGH bezog sich sodann auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK, nach der ein
«Familienleben» dann bestehe, wenn enge und persönliche
Bindungen wirklich und tatsächlich vorhanden seien sowie das
Zusammenleben eines Elternteils mit seinem Kind ein wesentliches Element
des Familienlebens sei, was auch bei homosexuellen Paaren gelte.[15]
Basierend auf dieser Rechtsprechung hatte der EuGH bereits im Urteil
«Coman» gefolgert, dass die von einem homosexuellen Paar
geführte Beziehung genauso unter die Begriffe «Privatleben»
und «Familienleben» fallen könne, wie die Beziehung
verschiedengeschlechtlicher Paare (Ziff. 61). Somit geniesse ein Kind den
Schutz von Art. 7 der Grundrechtscharta, wenn
es mit seinen Eltern, die in einer Geburtsurkunde so bezeichnet seien, ein
tatsächliches Familienleben im Aufnahmemitgliedstaat führe (Ziff.
62). Dabei sei gemäss Art. 7
in Verbindung mit
Art. 24 Abs. 2 der Grundrechtscharta
das Wohl des Kindes zu berücksichtigen.
Zudem sei das Übereinkommen über die Rechte des Kindes in das
Unionsrecht integriert, dessen Art. 2 den
Nichtdiskriminierungsgrundsatz enthalte. In Verbindung mit Art. 7 der Grundrechtscharta habe
ein Kind somit das Recht, nach seiner Geburt in ein Register eingetragen zu
werden, einen Namen zu haben und eine Staatsangehörigkeit zu erwerben,
ohne dass es durch die sexuelle Orientierung seiner Eltern diskriminiert
werde (Ziff. 63 f.). Es sei somit ein Verstoss gegen Art. 7 und Art. 24 der Grundrechtscharta,
wenn einem Kind aufgrund der Gleichgeschlechtlichkeit seiner Eltern die
Beziehung zu einem seiner Elternteile bei der Ausübung seines
Freizügigkeitsrechts vorenthalten, faktisch unmöglich gemacht
oder übermässig erschwert werde (Ziff. 65).
3. Zusammenfassung der Schlussfolgerungen des EuGH
Laut EuGH waren damit die bulgarischen Behörden aufgrund von Art. 4 Abs. 2 EUV, Art. 20 und 21 AEUV sowie Art. 7, 24, und 45 der Grundrechtscharta in
Verbindung mit
Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38
verpflichtet, S.D.K.A. einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen,
ohne die vorherige Ausstellung einer Geburtsurkunde durch seine nationalen
Behörden zu verlangen. Bulgarien, wie auch alle anderen
Mitgliedstaaten, sei dazu verpflichtet, die spanische Geburtsurkunde
anzuerkennen (Ziff. 69).
Es sei zudem ohne Bedeutung, dass die eine Mutter Staatsangehörige des
Vereinigten Königreichs sei, das jetzt nicht mehr zu den
Mitgliedstaaten zähle (Ziff. 66).
Weiter betont der EuGH, dass K.D.K. und S.D.K.A., unabhängig von ihrer
Staatsangerhörigkeit und unabhängig davon, ob sie selbst
Unionsbürgerinnen seien, von allen Mitgliedstaaten als
Familienangehörige von V.M.A. angesehen werden müssten,
nämlich als Ehegattin bzw. Verwandte in gerader absteigender Linie
gemäss
Art. 2 Nr. 2 a) und c) der Richtlinie 2004/38
(Ziff. 67).
III. Bewertung des Urteils
1. Allgemeine Bemerkungen
Das Urteil «Pancharevo» ist das erste Urteil des EuGH, das sich
mit dem Recht auf Personenfreizügigkeit eines Kindes mit
gleichgeschlechtlichen verheirateten Eltern befasst. Demensprechend
entfaltet es eine hohe Präjudizwirkung. Der Gerichtshof musste sich
mit der Tatsache beschäftigen, dass einerseits nach bulgarischem Recht
für die Ausstellung eines Identitätsdokumentes eine bulgarische
Geburtsurkunde notwendig ist, diese aber keine gleichgeschlechtlichen
Eltern zulässt, und andererseits eine rechtmässige spanische
Geburtsurkunde vorlag, in der gleichgeschlechtliche Eltern eingetragen
waren.
Obschon das Personenstandsrecht im Zuständigkeitsbereich der
Mitgliedstaaten liegt und vom Unionsrecht grundsätzlich unberührt
bleibt, betonte der EuGH, dass hier unionsrechtliche Grenzen bestehen, die
von allen Mitgliedstaaten eingehalten und respektiert werden müssten.
Die Personenfreizügigkeit nach Art. 20 und 21 AEUV ist eine der vier
Grundfreiheiten der Europäischen Union und damit zentrale Grundlage
des europäischen Binnenmarkts. Es liegt also auch im Interesse der
Mitgliedstaaten, dass diese geschützt und der
Nichtdiskriminierungsgrundsatz eingehalten wird.
Die Weigerung der bulgarischen Behörden, S.D.K.A. eine Geburtsurkunde
auszustellen, hat aber eine Verletzung des Rechts auf
Personenfreizügigkeit sowie der Grundrechte des Kindes zur Folge.
Bereits in seiner früheren Rechtsprechung hatte der EuGH klargemacht,
dass die Voraussetzungen für eine Einschränkung der
Grundfreiheiten hoch seien und der Begriff der «öffentlichen
Ordnung» in diesem Zusammenhang eng auszulegen sei.[16]
Es scheint zudem offensichtlich, dass durch die Ausstellung eines
Identitätsdokuments für S.D.K.A. keine tatsächliche und
hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der
bulgarischen Gesellschaft berührt.
Der EuGH hat somit richtigerweise Bulgarien zur Ausstellung eines
Identitätsdokuments für S.D.K.A. verpflichtet. Alles andere
hätte die Kinder gleichgeschlechtlicher Ehepartner in nicht zu
rechtfertigender Weise bei der Ausübung ihres Rechts auf
Freizügigkeit benachteiligt. Aus unionsrechtlicher Sicht gibt es keine
stichhaltigen Gründe, die eine gegenteilige Argumentation
rechtfertigen könnten. Anders als von Generalanwältin Kokott in
ihren Schlussanträgen[17] vertreten, erlaubt der
EuGH auch keinen Rückgriff auf die nationale Identität der
Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 EUV.
Zu beachten ist allerdings auch, dass der EuGH es nach wie vor den
Mitgliedstaaten überlässt, ob sie in ihrem nationalen Recht eine
Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Personen vorsehen oder nicht. Er
beschränkt sich allein auf freizügigkeitsrelevante Aspekte,
nämlich die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen, die in
anderen Mitgliedstaaten geschlossenen wurden, und die
Freizügigkeitsrechte von Kindern gleichgeschlechtlicher Eltern.
Das Urteil «Pancharevo» setzt somit die im Urteil
«Coman» begonnene Argumentation fort (dazu sogleich unter III.2.)
und liegt auf einer Linie mit den Forderungen des Europäischen
Parlaments, dass LGBTIQ-Personen in der Lage sein sollten, ihre
Freizügigkeitsrechte in der EU uneingeschränkt geltend machen zu
können (dazu sogleich unter III.3.).
2. Das Urteil «Coman»
2018 musste sich der EuGH im Fall «Coman»[18] erstmals zur
Personenfreizügigkeit von gleichgeschlechtlichen Eheleuten
äussern. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Herr Coman,
rumänischer Staatsangehöriger, heiratete im Jahre 2010 in
Brüssel Herrn Hamilton, der die amerikanische Staatsbürgerschaft
besass. Gemeinsam lebten sie in Brüssel. Im Jahre 2021 wandte sich das
Ehepaar an die rumänischen Behörden und wollte wissen, nach
welchen Bedingungen sich Herr Hamilton gemeinsam mit Herrn Coman für
mehr als drei Monate in Rumänien aufhalten könne. Die
rumänischen Behörden entgegneten, dass es für Herrn Hamilton
keine Möglichkeit gebe, sich für mehr als drei Monate in
Rumänien rechtmässig aufzuhalten. Sie begründeten dies
damit, dass Herr Hamilton in Rumänien nicht als Ehegatte eines
Unionsbürgers betrachtet werden könne, da das rumänische
Recht keine Ehe von gleichgeschlechtlichen Personen vorsehe.
Der EuGH sah in diesem Vorgehen Rumäniens eine Beschränkung des
in Art. 21 Abs. 1 AEUV
garantierten Rechts für Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Ein solches Vorgehen der
Mitgliedstaaten führe dazu, dass das Freizügigkeitsrecht von
verheirateten gleichgeschlechtlichen Ehepaaren in den Mitgliedstaaten
unterschiedlich ausgestaltet sei, je nachdem, ob die Mitgliedstaaten die
gleichgeschlechtliche Ehe vorsehen oder nicht.
Der Begriff des Ehegatten in der Richtlinie 2004/38 sei
unionsrechtlich autonom auszulegen und umfasse auch gleichgeschlechtliche
Ehepartner. Daher verstosse Bulgariens Vorgehen gegen das Unionsrecht.
3. Die Entschliessung des Europäischen Parlaments zu den Rechten
von LGBTIQ-Personen
Das Urteil «Pancharevo» setzt darüber hinaus einige
Forderungen des Europäischen Parlaments zu den Rechten von
LGBTIQ-Personen bereits um. Erst im September 2021 hatte das
Europäische Parlament eine Entschliessung über die
Rechte von LGBTIQ-Personen in der EU angenommen (mit 387 Ja-Stimmen, 161
Gegenstimmen und 123 Enthaltungen), die fordert, dass LGBTIQ-Personen in
der Lage sein sollten, ihre Rechte, insbesondere auch ihre
Freizügigkeitsrechte, in der ganzen Union uneingeschränkt geltend
machen zu können.[19]
Unter anderem wurde die Kommission aufgefordert, gegen Rumänien
Durchsetzungsmassnahmen zu ergreifen, da das Land seine Gesetzgebung
hinsichtlich des Urteils «Coman» immer noch nicht angepasst habe.[20]
Zudem wird in der Entschliessung
auch die Diskriminierung von LGBTIQ-Gemeinschaften in den Ländern
Polen und Ungarn angesprochen, wobei weitere EU-Massnahmen
(Vertragsverletzungsverfahren, gerichtliche Massnahmen und
Haushaltsinstrumente) gegen diese Länder gefordert werden.[21]
Entschliessungen sind zwar nicht rechtsverbindlich, entfalten jedoch eine
gewisse Orientierungsfunktion, wohin die europäische Integration
künftig führen wird.[22]
Inzwischen befürwortet eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten des
Europäischen Parlaments ein aktives Vorgehen auf Unionsebene gegen die
Diskriminierung von LGBTIQ-Personen. Der Unionsgesetzgeber kann sich diesen
gesellschaftlichen Entwicklungen - trotz teils erheblicher Widerstände
in einigen Mitgliedstaaten - langfristig wohl nicht mehr verschliessen.
IV. Fazit und Ausblick
Die Anerkennung der Rechte von Regenbogenfamilien schreitet unaufhaltsam
voran. Es ist auch kein objektiver Grund für einen Ausschluss dieser
Personen von der Personenfreizügigkeit und den Rechten auf
Familiennachzug erkennbar. Insbesondere Kinder sollten nicht aufgrund der
sexuellen Orientierung ihrer Eltern Nachteile erleiden müssen. Auch
der EGMR betrachtet diese Familienbeziehungen inzwischen unter dem
Gesichtspunkt des Familienlebens (und nicht nur des Privatlebens) nach Art. 8 EMRK.[23]
Zwar könnte es noch dauern, ehe die Gesetzgeber der verschiedenen
Mitgliedstaaten sich zu einer Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH
durchringen können (s. das Vorgehen Rumäniens nach dem Urteil
«Coman»); notfalls wird dies über
Vertragsverletzungsverfahren[24] gehandhabt werden
müssen. Auch kann das EU-Recht die nationalen Gesetzgeber nicht dazu
zwingen, das Institut der gleichgeschlechtlichen Ehe einzuführen, da
dies allein in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt.
Die gesellschaftliche Entwicklung können aber weder Behörden noch
zögerliche Gesetzgeber aufhalten. Diverse Familienformen gibt es und
wird es immer geben. Die Rechtstellung gleichgeschlechtlicher Partner wird
zunehmend verbessert (ob über die Schaffung eingetragener
Partnerschaften oder über die Öffnung der Ehe), wie zuletzt auch
in der Schweiz.
Das Recht ist nicht starr, sondern muss gesellschaftlichen Entwicklungen
Rechnung tragen. Es ist kein Selbstzweck, sondern für die Menschen da.
Heute leben diese in sehr diversen Familienformen und es gibt keinerlei
Gründe, wieso Regenbogenfamilien nicht die gleichen Rechte erfahren
sollten, wie «traditionelle» Familien. Diskriminierungen
insbesondere von Kindern sind nicht gerechtfertigt.