I. Einleitung
Anu Bradfords[1]
These von der Existenz eines
Brussels-Effect[2]
prägt im angelsächsischen Raum den wissenschaftlichen Diskurs
über die geopolitische Rolle der Europäischen Union.[3]
Danach übt die EU einen überproportional grossen Teil an
extraterritorialer Macht via marktzugangsbezogene Regulatorien aus. In der
Schweiz ist der Effekt nicht unbekannt,[4]
denn ein Diskurs über die Marktmacht der Union ist für die
Schweiz unumgänglich. Das liegt insbesondere an der Struktur der
schweizerischen Volkswirtschaft, die stark durch Handel mit Unternehmen aus
der EU geprägt ist und in faktischer Abhängigkeit vom
Zugang zum europäischen Markt funktioniert.[5]
Den Brussels-Effect in Bradfords Form aber expliziter
miteinzubeziehen, könnte für die (politische) Diskussion gerade
jetzt Mehrwerte liefern, wo der Bundesrat entschieden hat, das
institutionelle Abkommen zwischen der Schweiz und der EU nicht zu
unterzeichnen.[6]
Der vorliegende Beitrag deutet, um dies zu verdeutlichen, verschiedene
Aspekte des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU im Licht von
Bradfords Theorie.
II. Bradfords These vom Brussels-Effect
Die Diskussion über den geopolitischen Einfluss der Union konzentriert
sich ausserhalb des europäischen Kontinents nicht selten auf deren
militärische Schwäche, das schwerfällige Handeln der
europäischen Institutionen, sowie die scheinbare Unmöglichkeit
der EU-Mitgliedstaaten, international als geeinte Kraft aufzutreten und mit
«einer Stimme» zu sprechen.[7]
Europa wird nicht selten als «aging and declining power»[8]
gesehen.[9]
Bradford hält dieser Ansicht die faktische Fähigkeit der EU
entgegen, globale Märkte zu regulieren, indem sie über das
unionsrechtliche Sekundärrecht[10]
Vorschriften über die Herstellung, den Anbau, den Vertrieb und die
Anpreisung von Produkten aufstellt oder beispielsweise
wettbewerbsrechtliche und datenschutzrechtliche Bestimmungen über das
Handeln Privater erlässt.[11]
Dies ruft nach Bradfords Einordnung einen «involuntary incentive» hervor: Im Rahmen einer
regulatorischen Vereinheitlichung passen Unternehmen ihr gesamtes
Markthandeln den Vorgaben des unionsrechtlichen Sekundärrechts an, und
zwar auch in Staaten, die nicht im territorialen Geltungsbereich des
Unionsrechts liegen. Entsprechend verhalten sich multinationale Unternehmen
auch ausserhalb der EU unionsrechtskonform.[12]
Nach Bradford übt die Union damit eine Form der extraterritorialen
Macht aus, ohne hierfür jedoch auf das Tätigwerden von
internationalen Institutionen angewiesen zu sein oder sich internationaler
Kooperation mit anderen geopolitischen Entitäten zu bedienen.[13]
Zur Verdeutlichung dieser Theorie sind sowohl Abgrenzungen als auch
Unterscheidungen vorzunehmen. Erstens kann abgrenzend festgehalten
werden: Der hier beschriebene Regulierungseffekt durch das sekundäre
Unionsrecht muss von anderen globalen Vereinheitlichungstendenzen
unterschieden werden, die auf bi- oder multilateralen
Übereinkommen basieren. Ebenso ist festzuhalten, dass ein Wille der regulierenden Behörden bzw. Akteure kein
Tatbestandsmerkmal bzw. keine Voraussetzung für die Verwirklichung des Brussels-Effect darstellt.
Zweitens ist eine Grundunterscheidung elementar für die Effect-Theorie: Der Brussels-Effect de facto tritt dann
auf, wenn global agierende Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen ihr Handeln
auf europäische Regulierungen bzw. europäische Standards
ausrichten. Vom Brussels-Effect de jure hingegen spricht Bradford
dann, wenn Unternehmen bzw. unternehmensnahe Interessengruppen in ihren
Sitzstaaten für die Europäisierung der dort geltenden
Rechtsordnung Lobbying betreiben oder auf andere Weise politischen Druck
ausüben. Dieser «Europäisierungsdruck» ist
hierbei typischerweise mit der Motivation verknüpft, gegenüber
Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Union keinen Nachteil zu
erleiden. Das beabsichtigte Resultat des Brussels-Effect de jure
ist in der Schweiz gemeinhin als «autonomer Nachvollzug» bekannt
und wird verschiedentlich auch der wissenschaftlichen Untersuchung
zugeführt.[14]
Im Kontext dieses Artikels wird zwischen den Effekten de facto und de jure nicht von zwei Seiten derselben Medaille ausgegangen; der Brussels-Effect de jure ist m.E. gesondert zu behandeln. Die
folgenden Ausführungen beziehen sich deshalb ausschliesslich auf den Brussels-Effect de facto (fortan schlicht Brussels-Effect).
Für die Lesenden weiter klärend wirken wohl die Voraussetzungen, die Bradford für das Eintreten des Effekts
formuliert: Eine genügende Grösse des durch die Regulierungen
kontrollierten Marktes (nachfolgend a); eine genügende
«institutionelle Kapazität» zur Regulierung (b); ein
unelastisches bzw. immobiles Ziel der Regulierung (c); eine fehlende
ökonomische Rentabilität der Differenzierung bzw.
«Aufsplittung» der Produktion der vom Unternehmen angebotenen
Güter oder Dienstleistungen (d); und schliesslich die Tatsache, dass
die untersuchten Regulierungen strikter sind als die Regelungen anderer
vergleichbar attraktiver Märkte (e). Sind diese Voraussetzungen
erfüllt, so die Theorie Bradfords, stellt sich auf globaler Ebene der
dargelegte Brussels-Effect ein: Private Unternehmen halten sich in
ihrem Marktverhalten global an die Normen des unionsrechtlichen
Sekundärrechts. Das Unionsrecht erhält damit durch rein
unilaterales Vorgehen eine extraterritoriale Wirkung von einer gewissen
Tragweite.
1. Voraussetzung für das Eintreten des Brussels-Effect
a) Grösse des kontrollierten
Martkes
Zur Ausübung geopolitischer Macht im Bereich des internationalen
Handels wird die Grösse des kontrollierten Markts gemeinhin als
zentrales Erfordernis genannt.[15]
Bradfords Ansatz unterscheidet sich von herkömmlichen Analysen des
geopolitischen Einflusses[16]
von dominanten Märkten dadurch, dass sie die schiere Grösse einer
Volkswirtschaft als wichtig, aber nicht als ausschliesslichen Faktor
darstellt. Während die EU einen Binnenmarkt mit mehr als 448 Millionen
im globalen Vergleich überdurchschnittlich kaufkräftigen
Konsument:innen darstellt und ein BIP von rund 17 Milliarden Euro aufweist,[17]
ist für den geopolitischen Erfolg der EU nach der Brussels-Effect-Theorie nicht dies der ausschlaggebende Faktor.
Den Unterschied machen vielmehr weitere strukturelle Faktoren bzw.
institutionelle Grundfunktionen der EU[18]
sowie der Wohlstand und die Konsumfreudigkeit der Konsument:innen im
Europäischen Binnenmarkt.[19]
Da der Markt in der EU nicht nur einen zahlenmässig vergleichsweise
grossen Binnenmarkt darstellt,[20]
sondern auch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an sehr
kaufkräftigen Konsument:innen bietet,[21]
werden sich jene multinationalen Unternehmen, welche die oben
zusammengefasste Abwägung vornehmen, mit grosser Wahrscheinlichkeit
für den Eintritt in den EU-Markt entscheiden,[22]
was Bradford als eine Form regulatorischer Gravitation beschreibt.
Ein Unternehmen aus einem Drittstaat wird zur Frage, ob es sich
wirtschaftlich lohnt, mit Marktteilnehmer:innen aus der EU
Geschäftsbeziehungen einzugehen, eine Abwägung vornehmen zwischen
den Kosten, die eine Anpassung an das Unionsrecht mit sich bringt, und dem
durch den Marktzugang prognostizierbaren Mehrwert.[23]
b) Institutionelle Kapazität zur Durchsetzung strikter
Regulatorien
Nach Bradford hat zu den beschriebenen zahlenmässigen Faktoren ein
zentrales Element dazuzutreten: die institutionelle Kapazität,
Regulatorien zu implementieren und, wo nötig, durch Zwang
durchzusetzen.[24]
Damit der Brussels-Effect seine Wirkung entfaltet, ist es
entsprechend notwendig, dass die EU einerseits Regelungen von einer
genügenden Normendichte in Kraft setzt. Die Nichtbeachtung dieser
Regelungen muss jedoch im territorialen Anwendungsbereich des Unionsrechts
für Private spürbare Konsequenzen haben; Marktteilnehmende, die
sich (im Fall der EU) sekundärrechtswidrig verhalten, müssen vom
gemeinsamen Markt ausgeschlossen werden können. Diesen
regulatorisch-institutionellen Druck nennt Bradford Regulatory Capacity.[25]
Neben dieser regulatorischen «Infrastruktur» ist für die
Wirkung strikter Regelungen für den Marktzugang auch der politische Wille notwendig, solche Regelungen zu schaffen, in
Kraft zu setzen und in der Folge durchzusetzen.
c) Unelastisches Ziel der Regulatorien
Voraussetzung für die effektive Wirkung des Brussels-Effect
ist weiter, dass das Objekt dieser Regelungen bis zu einem gewissen Grad
immobil ist. Die verbraucherrechtlichen Regulierungen der EU, seien sie
datenschutzrechtliche Bestimmungen, Minimalstandards für die
Produktesicherheit oder Vorschriften aus dem Bereich des
Lebensmittelmarkts, beziehen sich auf ein «regulatory target
», das, anders etwa als Kapital,[26]
in einem hohen Grad immobil ist.[27]
Damit verstärkt nach der Analyse Bradfords der Fokus der
regulatorischen Tätigkeit der Union auf den Bereich des
Konsumentenschutzes entsprechend den Brussels-Effect.[28]
d) Fehlende Rentabilität der Differenzierung der Produktion
Damit unionsrechtliche Regulatorien aber auch im Handel zwischen
Unternehmen mit Sitz in Drittstaaten und Konsument:innen bzw. anderen
Unternehmen in Drittstaaten faktische Geltung erlangen, also wirklich
«globale Wirkung» entfalten, ist ein weiterer Schritt notwendig:
Die Unternehmen passen nicht nur ihr Verhalten gegenüber
Konsument:innen oder Unternehmen innerhalb der EU dem Unionsrecht an,
sondern ihre gesamte, globale Unternehmenstätigkeit.
Die dafür notwendige Unteilbarkeit des Produktionsprozesses
(«non-divisibility»[29])
eines Unternehmens kann verschiedene Gründe haben. Im Vordergrund
steht eine mangelnde ökonomische Rentabilität der Aufteilung von
Produktionsprozessen. Regelmässig werden Unternehmen bei einer
entsprechenden Abwägung zum Schluss kommen, dass die Aufrechterhaltung
eines einzigen Produktionsprozesses unter Einhaltung unionsrechtlicher
Vorschriften unter ökonomischen Aspekten dem Aufbau eines zweiten
Produktionsprozesses vorzuziehen ist.[30]
In gleicher Weise als unteilbar haben Produktionsprozesse zu gelten, welche
aus rechtlichen oder technischen Gründen nicht in zwei (oder mehr)
Prozesse aufteilbar sind.
e) Striktere Regulierung als die Regulierungen anderer
attraktiver Märkte
Die Ausführungen über die rechtliche sowie die technische
Unmöglichkeit der «Aufsplittung» von Produktionsprozessen
machen deutlich, dass ein Phänomen wie der Brussels-Effect so
lange virulent bleibt, wie keine andere geopolitische Entität von
gleichem ökonomischem Einfluss strengere Regulatorien
erlässt. So sind etwa Szenarien denkbar, in welchen sich Unternehmen
zugunsten strikter regulierender Staaten und gegen EU-Regulatorien
entscheiden würden. Damit würde sich der Brussels-Effect
abschwächen. Dies würde sich mit grosser Wahrscheinlichkeit
schleichend und branchenspezifisch ankündigen.
2. Notwendigkeit einer Diskussion
Obgleich Bradford selbst die nun folgende Unterscheidung nicht macht, darf
nach der hier vertretenen Auffassung nicht übersehen werden, dass sich
durchaus ein Kreis von Staaten bzw. Weltregionen identifizieren lässt,
die vom beschriebenen Effekt stärker betroffen bzw. beeinflusst werden
als andere. Zur Kategorisierung von intensiver beeinflussten und
weniger stark beeinflussten Staaten ist primär auf die Struktur einer
Volkswirtschaft abzustellen; eine Volkswirtschaft mit einer hohen Dichte an
Unternehmen, deren Produkte bzw. Dienstleistungen hauptsächlich Absatz
im territorialen Geltungsbereich des europäischen Sekundärrechts
finden, wird den Brussels-Effect stärker zu spüren
bekommen als eine Volkswirtschaft, die weniger Handelsbeziehungen mit
Marktteilnehmenden aus dem EU-Raum unterhält.
Die schweizerische Volkswirtschaft wird vom Handel mit der EU entscheidend
geprägt. 52 % der Exporte schweizerischer Unternehmen gehen in die EU;
kein Markt ist für die schweizerische Industrie gleich wichtig wie der
EU-Markt. Pro Arbeitstag werden zwischen der Union und der Schweiz Waren im
Wert von einer Milliarde Franken ausgetauscht.[31]
Gewisse Wirtschaftszweige sind vom EU-Markt jedoch deutlich stärker
abhängig, so liegt beim Schweizer Käse der Exportanteil in die EU
bei 80 %.[32]
Ausgehend von diesen Zahlen und der These Bradfords scheint es nun
angebracht, die Schweiz als eines, wenn nicht das Paradebeispiel
für eine vom Brussels-Effect geprägte Volkswirtschaft zu
bezeichnen. Damit wird klar, dass der extraterritoriale Einfluss des
europäischen Sekundärrechts auf die Schweiz - abgebildet im
Konzept des Brussels-Effect - ein undiskutabler Fakt ist. Für
Rechtsunterworfene in der Schweiz besteht mit anderen Worten ein Bereich,
in welchem EU-Recht weder via Staatsvertrag, noch via autonomen Nachvollzug
gilt, sondern ausschliesslich aufgrund von ökonomischem Druck.[33]
Dass dieser ökonomische Druck jedoch signifikanten Einfluss auf die
nationale schweizerische Gesetzgebung sowie auf das schweizerische
Staatsvertragsrecht zeitigt, soll in der Folge näher dargestellt
werden.
III. Das institutionelle Rahmenabkommen
1. Bilateralismus als Ausgangslage
Im Licht der nun dargelegten Theorie und den dazugehörigen
Anwendungsfällen aus der schweizerischen Rechtsordnung kann die
Erkenntnis gewonnen werden, dass die Effect-Theorie für die
Schweiz im Grunde genommen eine alltägliche Lebensrealität
abbildet.[34]
Gleichzeitig kann aber gerade die Systematisierung, die Bradford vornimmt,
für die hierzulange herrschende Diskussionslage einordnend
bzw. strukturierend wirken. So kann der Effect, angewandt auf
spezifische rechtliche oder politische Fragen, als Gedankenstütze dienen, indem er in die Analyse der
Europäisierung der schweizerischen Rechtsordnung miteinbezogen wird.
Zu diesem Zweck drängt es sich auf, im Folgenden die relevanten
staatsvertraglichen Rahmenbedingungen stark zusammengefasst wiederzugeben.
Zunächst zu nennen sind die bilateralen Markzugangsabkommen zwischen
der EU und der Schweiz, die für Marktteilnehmer:innen aus der Schweiz
und der EU den Zugang zum jeweils anderen Markt garantieren.[35]
Unterschieden werden hierbei gemeinhin zwei «Pakete» von
Verträgen, die durch eine «Guillotineklausel»[36]
verbundenen «Bilateralen I» aus dem Jahr 1999 und die (vorallem
politisch eine Gruppe bildenden) «Bilateralen II», wobei
«Schengen» und «Dublin» verknüpft sind, die
übrigen Abkommen jedoch nicht.[37]
Die Bilateralen Abkommen stellen in Bezug auf ihren materiellen
Regelungsbereich sektoriell eng begrenzte völkerrechtliche
Verträge dar, die eine Integration der schweizerischen Volkswirtschaft
in den europäischen Binnenmarkt zum Ziel haben.[38]
Diese «Teilintegration» geschieht durch unterschiedliche
Herangehensweisen: Erstens stellen einige der bilateralen Abkommen
Kooperationsverträge dar, die in Bezug auf gewisse EU-Programme die
Teilnahme und die Zusammenarbeit der Schweiz garantieren. Zweitens
existieren, was etwa den Personen- und den Landverkehr betrifft,
Harmonisierungs- und Liberalisierungsverträge, die eine Angleichung
der geltenden Regulatorien festlegen. Drittens wird in Bezug auf eine Reihe
der bilateralen Verträge (etwa die Abkommen über die
schweizerische Teilnahme am Schengen/Dublin-System) von
Integrationsverträgen gesprochen.[39]
2. Konzept eines institutionellen Rahmenabkommens
Das Anliegen, einen Teil der völkerrechtlichen Verträge zwischen
der Europäischen Union und der Schweiz durch einen Rahmenvertrag zuverknüpfen, findet sich bereits im Integrationsbericht des
Bundesrates von 1988.[40]
Bereits in Anbetracht der damaligen politischen Lage wünschte sich der
Bundesrat eine «Schaffung von Strukturen und organisatorischen
Vorkehrungen für eine privilegierte sektorielle Zusammenarbeit».[41]
Damit sollte eine grösstmögliche Mitwirkung der Schweiz am
europäischen Integrationsprozess in einem sektoriellen Modus
sichergestellt werden. Insbesondere genannt wird dabei die Idee des Aufbaus
eines Systems «frühzeitiger Information und Abstimmung».[42]
Die politischen Aussichten auf den Abschluss eines solchen vertiefenden,
institutionalisierenden Vertragssystems bewertet der Bundesrat damals als
«günstig».[43]
Dass die EU im Grundsatz eine vertiefte institutionalisierte Zusammenarbeit
mit der Schweiz ebenso als wünschenswert erachtet, zeigen verschiedene
Schlussfolgerungen bzw. Erklärungen des Rates sowie des
Europäischen Parlamentes, gemäss welchen eine Weiterführung
und Vertiefung des bilateralen Weges auch eine Institutionalisierung der
Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU anvisiert werden müsse.
Mit Blick auf den Abschluss weiterer Abkommen herrscht in den
europäischen Institutionen die Ansicht, weitere bilaterale
Verträge seien ohne den Abschluss und das Inkrafttreten eines
institutionellen Abkommens nicht denkbar.[44]
Wie die Weiterführung dieser Entwicklung angesichts des jüngst
gefällten bundesrätlichen Entscheides aussehen wird, ist nicht
absehbar. Wird vom verworfenen Entwurf ausgegangen, wäre ein
institutionelles Abkommen als Weiterführung des bilateralen Wegs zu
sehen.[45]
Ein Abkommen dieser Art würde sodann eine
institutionell-konzeptionelle «Klammer» um einige der
sektorspezifischen Abkommen bilden, indem für eine Reihe der geltenden
Marktzugangsabkommen übergreifend gemeinsame Fragen geklärt
würden. Ebenso würde ein Rahmenabkommen die konzeptuelle Basis
für weitere bilaterale Übereinkommen zwischen denselben Parteien
bilden und stellte damit das Fundament für die Weiterführung des
bilateralen Wegs dar, indem «dynamische Aktualisierungen» der
Marktzugangsabkommen ermöglicht würden.[46]
Was dies im Detail zu bedeuten hat, kann bis zu einem gewissen Grad
wiederum der verworfene Entwurf aufzeigen.
Zunächst gilt das verworfene Abkommen gem. Art. 2 E-InstA für fünf
sektorielle Bereiche: freier Personenverkehr, Luftverkehr, Schienen- und
Strassenverkehr, technische Handelshemmnisse und landwirtschaftliche
Erzeugnisse. Hernach ist das Abkommen als Rahmenordnung nach Art. 2 E-InstA auf sämtliche
neu abzuschliessende Marktzugangsübereinkommen anwendbar. Eine
automatische Rechtsübernahme sieht das Abkommen dabei aber nicht vor;
die Schweiz hätte nach Art. 10 bzw. Art. 14 E‑InstA die
Möglichkeit gehabt, gewisse Regelungen nicht zu übernehmen, wobei
allerdings Ausgleichsmassnahmen möglich geblieben wären. Der
Umfang bzw. der Inhalt der Ausgleichsmassnahmen würden jedoch, anders
als unter der gegenwärtigen Rechtslage, nicht einseitig durch die EU
bestimmt, sondern durch ein unabhängiges Schiedsgericht festgelegt (Art. 10 Abs. 6 E-InstA) und
wären auch nach ihrem Inkrafttreten noch gerichtlich
überprüfbar (Art. 10 Abs. 7 E-InstA).[47]
Ebenso wird in Art. 9 E-InstA ein
Streitbeilegungsverfahren bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen
den Parteien in Bezug auf die Auslegung der Verträge und des InstA
selbst vereinbart.[48]
Hierfür wurde ein System erdacht, welches weiterhin ohne jede Form
eines «Vorabentscheidungsverfahrens» über die Auslegung der
Abkommensinhalte auskommt. Dem Bundesgericht kommt in diesem Konzept seine
herkömmliche Rolle als letztinstanzliches Gericht zu. Hierbei werden
die schweizerischen Gerichte dazu verpflichtet, die Rechtsprechung des EuGH
zur Auslegung der Abkommen «laufend» zu übernehmen, was
jedoch keiner Zeitenwende in der Rechtsanwendung gleichkäme, sondern
im Gegenteil weitestgehend der bundesgerichtlichen Praxis entspricht.[49]
Bei Streitigkeiten über die Auslegung der Verträge kommt es
gemäss Protokoll 3 zum E-InstA zu einem
Verfahren vor einem Schiedsgericht, falls Verhandlungen über die
Auslegung im Gemischten Ausschuss scheitern. Das Schiedsgericht ist nach Art. 10 Abs. 3 E‑InstA und Protokoll 3 Art. III 9 dazu
verpflichtet, Auslegungsfragen, die sich auf binnenmarktrechtliche Begriffe
des europäischen Rechts beziehen, dem EuGH vorzulegen.[50]
3. Einordnung des E-InstA unter Zuhilfenahme des Brussels-Effect
a) Ausgangslage: Theoretische Einordnung der Bilateralen Verträge
Der Bundesrat spricht sich bereits in seinem Integrationsbericht aus dem
Jahr 1988 aus Gründen der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit für
eine weitergehende Kooperation mit der Union aus und hält fest, dass
Die schweizerische Politik der Europakompatibilität, wie sie der
Integrationsbericht 1988 propagiert, nimmt damit Bradfords Analyse in ihren
Auswirkungen bereits vorneweg, da sie u.A.[52]
auf der Erkenntnis beruht, dass für die schweizerische Volkswirtschaft
eine unterbleibende oder mangelhafte Angleichung an das Unionsrecht in
verschiedenen Bereichen zu markanten Wettbewerbsnachteilen
für private Marktteilnehmer:innen führen würde. Das
Bestreben zur Europäisierung entspricht als schweizerische
Rechtssetzungsmaxime damit einer zutreffenden Analyse des Einflusses des Brussels-Effect auf die Schweiz, bevor diese Theorie
überhaupt abstrakt formuliert wurde. Die schweizerischen Institutionen
werden insofern in der Europapolitik also bereits seit längerem,
gewissermassen non sequitur, durch die Überzeugung von der
Existenz eines Brussels-Effect geleitet. Eine konsequent verfolgte Angleichung der schweizerischen Rechtsordnung an das Unionsrecht sollte die voraussehbaren Marktnachteile
für private Akteure wo immer möglich vorbeugen.[53]
Die Europakompatibilität wird aus dieser Erkenntnis heraus zu einem
Grundsatz der Rechtsetzung erhoben, welcher «die schweizerische
Rechtsordnung als politisches Leitmotiv in ihrer ganzen Breite
durchdringt».[54]
Bestärkt wurde die Schweiz in ihrer Politik der
Europakompatibilität «faute de mieux»[55]
durch das EWR-Nein der schweizerischen Stimmbevölkerung im Dezember
1992.[56]
Die eben dargelegte grundsätzliche Erkenntnis schlägt
sich auch nach dem Integrationsbericht von 1988 und dem EWR-Nein von 1992
in verschiedenen Formen des politischen Handelns der Schweiz nieder;
einerseits durch den sog. autonomen Nachvollzug,[57]
wo die Programme SWISSLEX und EUROLEX entworfen wurden, andererseits in
völkerrechtlichen Verträgen mit der Union, in denen eine
sektorielle Integration der Schweiz in den europäischen Binnenmarkt
ermöglicht wurde.[58]
Als gezielter Ausgleich der «Nachteile des Abseitsstehens»[59]
und damit als Resultat einer schweizerischen Reaktion auf den
festgestellten Brussels-Effect sind also auch die verschiedenen aussenpolitischen europapolitischen Massnahmen der Schweiz ab 1988
zu lesen. Dies betrifft insbesondere den Abschluss der Bilateralen
Verträge. Diese sind vor dem Hintergrund der Theorie des Brussels-Effect auf zwei verschiedene Weisen zu lesen:
Erstens: Die Verträge garantieren für die Unternehmen in der
Schweiz eine - jeweils sektoriell abgesicherte - Teilnahme an jenem Markt,
von dem der beschriebene Effekt ausgeht. Damit verändert sich auch die
Rolle der schweizerischen Volkswirtschaft als Objekt des Brussels-Effect. Der bilaterale Weg verhindert einen ungebremsten,
rohen Brussels-Effect, indem er die Schweiz in den
europäischen Markt integriert und damit die passive Ausgangslage der
Schweiz in Bezug auf den Effect möglichst zugunsten
der schweizerischen Marktteilnehmer:innen ausgestaltet. Dies geschieht
durch den Abbau von Handelshemmnissen und durch geregelte Verhältnisse
mit der EU, welche für die schweizerische Volkswirtschaft ein hohes
Mass an Rechts- und Planungssicherheit gewährleisten.[60]
Die Bilateralen Verträge wirken unter dieser Sicht kanalisierend. So ist der volkswirtschaftliche Effekt einer
bilateralen Kooperation mit dem EU-Markt in der Praxis beträchtlich.
Einer Studie des BAK Economics zufolge würde sich das BIP ohne die
bilateralen Verträge jedes Jahr graduell verringern und bis zum Jahr
2035 um 7,1 % sinken, was einer entgangenen Wirtschaftsleistung von 630
Milliarden Franken entsprechen würde. In derselben Studie wird auch
errechnet, welche individuellen ökonomischen Vorteile die bilateralen
Verträge pro Kopf einbringen: Ohne die Bilateralen I würde das
persönliche Einkommen in der Schweiz im Jahr 2025 um CHF 3400 tiefer
liegen als unter einer Beibehaltung der Verträge.[61]
Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung wiederum befasst sich mit der Frage,
welche Regionen bzw. Staaten innerhalb des europäischen Binnenmarkts
am meisten vom Modell des Binnenmarkts profitieren. Auch hier liegt die
Schweiz als «teilintegrierte» Nation an der Spitze (und damit vor
sämtlichen Mitgliedstaaten der Union); der Zugang zum Binnenmarkt
sorgt gemäss dem Modell dieser Studie für eine Erhöhung des
jährlichen Einkommens um 2914 Euro.[62]
Wie die dargelegten Zahlen klar ausdrücken, gelingt es der Schweiz
unter «Zuhilfenahme» der Bilateralen Verträge weitgehend,
den Brussels-Effect damit für schweizerische Unternehmen zu
verringern, indem für diese Unternehmen geringere Handelshemmnisse
bestehen. Das System der Bilateralen Verträge vermag es sogar, die
«passive Ausgangslage» der schweizerischen Unternehmen
ökonomisch in einen Mehrwert umzumünzen.
Zweitens: Der Brussels-Effect führt nach der Deutung
Bradfords gemeinhin unilaterale Änderungen des Verhaltens
privater Marktteilnehmer:innen herbei, wobei eine Angleichung an
EU-Regulatorien beabsichtigt wird. Die Bilateralen Abkommen zeigen jedoch,
dass dies nicht die einzige Form ist, in welcher der Brussels-Effect zum Tragen kommen kann: Auch klassische
völkerrechtliche Verträge können Ausdruck eines
extraterritorialen Drucks des EU-Rechts sein. Bezeichnet werden kann dies,
gerade im Zusammenhang mit den Bilateralen Abkommen, als «Brussels-Effect sui generis» oder «Brussels-Effect via Staatsvertrag». Wie dargelegt
basiert der Abschluss der verschiedenen Bilateralen Abkommen einerseits auf
der Überzeugung, eine bilaterale Annäherung an die EU sei unter
dem Eindruck einer bereits tiefgehend europäisierten Rechtsordnung
eher möglich. Andererseits dient die bilaterale Kooperation mit der EU
auch ausdrücklich dem Ausgleich von Nachteilen, die
schweizerische Unternehmen in ihrer Marktposition erleiden, weil die
Schweiz nicht Teil des EU-Markts ist (bzw. war). Die Schweiz geht also auch völkerrechtliche Verpflichtungen mit der EU ein, weil
die wirtschaftliche Realität diesen Schritt nahelegt. Die Bilateralen
Abkommen sind also selbst sowohl Instrument zur Kontrolle bzw.
Abschwächung des Brussels-Effect (wie unter 1. dargelegt),
andererseits aber auch selbst das Resultat der Wirkung des gleichen Effekts.
Die Bilateralen I beabsichtigen wie dargelegt eine «schrittweise und
kontrollierte gegenseitige Marktöffnung» zwischen der Schweiz und
der Europäischen Union. Auch die Bilateralen II sind auf die
«fortschreitende Integration der Schweiz in den Binnenmarkt unter
Schaffung einer möglichst parallelen Rechtslage»[63]
ausgerichtet; ihre Regelungsgegenstände sind jedoch stets sektorieller
Natur; die Schweiz ist in bestimmten Bereichen in den europäischen
Binnenmarkt integriert. Im Bereich der vier Grundfreiheiten des
EU-Binnenmarkts besteht eine weitgehende Liberalisierung; die Schweiz ist
weitgehend in den freien Warenverkehr mit Industrieprodukten integriert. Im
Bereich der Dienstleistungen bestehen (trotz dem Fehlen eines umfassenden
Dienstleistungsabkommens[64]) verschiedene Erleichterungen im grenzüberschreitenden Bereich (insb.
was kurzzeitige Erbringungen von Dienstleistungen angeht) im
Freizügigkeitsabkommen vom 21. Juni 1999 (FZA).[65]
Das FZA erfasst auch eine weitgehende Niederlassungs- und die
Arbeitnehmerfreizügigkeit für natürliche Personen. Für
juristische Personen bestehen im Versicherungsabkommen und dem
Luftverkehrsabkommen weitere Erleichterungen. Damit unterscheidet sich die
Rechtsposition der Schweiz markant von verschiedenen Drittstaaten und den
Marktpositionen der dort domizilierten Staaten. In anderen Bereichen, die
durch keines der sektoriellen Abkommen erfasst sind, unterscheidet sich die
Rechtsstellung der Schweiz jedoch kaum von derjenigen von Drittstaaten,
etwa im Bereich der Agrarprodukte oder des Wettbewerbsrechts. Mit dieser
sich sektoriell von der Rechtsposition anderer Drittstaaten abhebenden
Situation der Schweiz geht auch eine bloss insular kanalisierte Wirkung des Brussels-Effect einher.[66]
Die Schweiz nimmt in begrenzten Bereichen an jenem Markt teil, von welchem
die Impulse für den Brussels-Effect ausgehen. In dieser
vertraglich garantierten sektoriellen Marktöffnung zum (im Sinn des Brussels-Effect) wirkenden Markt liegt nun auch die
Hauptunterscheidung der Rechtsstellung der Schweiz nach Abschluss der
Bilateralen von der Rechtsstellung von Drittstaaten.
Während sich die Position der Schweiz gegenüber der
Europäischen Union unter Zuhilfenahme der Brussels-Effect-Theorie also so deuten lässt, stellt sich
weiter die Frage, wie die Schweiz gegenüber Drittstaaten am Brussels-Effect teilnimmt. Beantworten lässt sich
dies unter Zuhilfenahme der dargestellten Parameter des Brussels-Effect. Nach Bradford kommt der Brussels-Effect
unter der Voraussetzung des Eintritts verschiedener Faktoren zustande: der
Grösse des kontrollierten Marktes, der institutionellen Kapazität
zur Durchsetzung strikterer Regulatorien, einem unelastischen Ziel der
Regulatorien und einer fehlenden Rentabilität der Differenzierung der
Produktion. Ebenso haben die Regulatorien inhaltlich dichter bzw. strikter
zu sein als die Regulierungen anderer vergleichbar attraktiver Märkte.[67]
Die Schweiz greift mit ihrer sektoriellen Teilnahme am EU-Binnenmarkt nun
verschiedentlich in diese Faktoren ein und verstärkt sie: Einerseits
vergrössert die sektorielle Integration der Schweiz den EU-Binnenmarkt
um mehrere Millionen überdurchschnittlich kaufkräftiger
Konsument:innen. Die in den Bilateralen Abkommen festgehaltenen Pflichten
zur Durchsetzung des übernommenen EU-Besitzstandes (etwa im Bereich
des Schengen-Acquis) erweitern zudem die institutionelle Kapazität der
EU zur Regulierung via Staatsvertrag sektoriell auf den schweizerischen
Markt. Die institutionelle Kapazität der EU zur Durchsetzung strikter
Regulatorien wird in eine staatsvertragliche Pflicht
«übersetzt». Die Integration der Schweiz in den
europäischen Binnenmarkt durch die Bilateralen Verträge verstärkt mit anderen Worten aus der Sicht von Drittstaaten
entsprechend den Brussels-Effect.
b) Theoretische Einordnung des InstA
Die Idee eines institutionellen Abkommens ist mit Blick auf die
Ausführungen zu den Bilateralen Abkommen als Fortbildung
eines sektoriellen Integrationsvorgangs zu sehen. Der auf den Brussels-Effect ausgleichend wirkende bilaterale Weg wird
einerseits gesichert, andererseits aber auch vertieft, indem die Schweiz
sich etwa stärker in den Gesetzgebungsprozess der Union einbringen
könnte[68]
oder die Anordnung von wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Schweiz
unabhängig beurteilt werden würde.[69]
Ein InstA, so weiterhin die Idee, würde verschiedene Aspekte des
sektoriellen Marktzugangs der Schweiz zu jenem Markt regeln, der als Instrument zur Ausübung extraterritorialer Macht im Sinn des Brussels-Effect agiert. Der beschriebene extraterritoriale Druck
des EU-Rechts bliebe damit in einen Rahmen eingebunden, welcher Rechtssicherheit und Überschaubarkeit bietet. Ein solches
Abkommen schafft für die Verträge, welche die schweizerische
Volkswirtschaft in den europäischen Binnenmarkt integrieren,
einheitliche Regelungen in Bezug auf anwendungsbezogene Fragen,
sichert eine unabhängige Überprüfung von Sanktionen und
beteiligt die Schweiz stärker am Zustandekommen des unionsrechtlichen
Sekundärrechts.[70]
Ebenso legt es verbindliche Regelungen für die Weiterführung und
den allfälligen Ausbau des bilateralen Wegs fest. Damit würde der
beschriebene ausgleichende Effekt, welchen bereits die Bilateralen
Verträge auf die Auswirkungen des Brussels-Effect haben,
verstetigt.
Nur ein vertraglich garantierter Marktzugang sichert ab, dass die
wirtschaftlichen Folgen des auf die schweizerische Volkswirtschaft
ausgeübten ökonomischen Drucks verkraftbar bleiben. Ein
Rahmenabkommen verstetigt damit einen ökonomischen Effekt, welcher
sich aus der beschriebenen sektoriellen Marktintegration ergibt.
IV. Fazit
Für Drittstaaten stellt sich die Frage, wie mit dem Brussels-Effect umzugehen ist. Je stärker die Volkswirtschaft
eines Drittstaates mit dem europäischen Binnenmarkt verbunden ist,
desto drängender muss diese Frage erscheinen. Wie dargelegt ist das
politische Handeln der Schweiz in verschiedenerlei Hinsicht geprägt
von der Grundüberzeugung, eine regulierungsbezogene Anbindung an die
Union stelle eine wirtschaftliche Notwendigkeit dar.[71]
Mit Blick auf die Mittel, mit denen gemäss Bradfords Theorie
geopolitischer Einfluss ausgeübt wird, sind denn auch Ansätze zum
Abbau ökonomischer, rechtlicher und technischer Hürden via
Staatsverträge und damit verbundene Harmonisierungsbemühungen
für den Handel mit Marktteilnehmer:innen aus dem europäischen
Binnenmarkt denkbar. Der in seiner Intensität ungewöhnliche
extraterritoriale Einfluss, welchen die Union auf die Schweiz ausübt,
tritt die Schweiz mit einem klassischen Handlungsinstrument der
internationalen Zusammenarbeit gegenüber: dem völkerrechtlichen
Vertrag.
Angesichts der aktuellen Diskussion um ein InstA macht jedoch eine explizite Einordnung mithilfe von Bradfords Brussels-Effect-Theorie den politischen Handlungsbedarf noch ein
wenig deutlicher. Es lässt sich mit Blick auf das Gesagte festhalten,
dass die Weiterführung des bilateralen Wegs unter Klärung
institutioneller und rechtsanwendungsbezogener Fragen die beste Lösung
ist, die faktische wie die rechtliche Position der Schweiz im Vergleich zu
anderen Drittstaaten zu stärken,[72]
da der «bilaterale Weg» eine wirtschaftliche Teilintegration
zulässt, ohne gleichzeitig «Abstriche an den Grundprinzipien des
schweizerischen Staatsverständnisses»[73]
zu erfordern. So hätte das E-InstA die Position
gegenüber der EU unter Beibehaltung der Integrationstiefe der
schweizerischen Volkswirtschaft durch ein vereinheitlichtes
Streitbeilegungsverfahren gestärkt, sowie einen formalisierten Prozess
zur Anordnung von Ausgleichsmassnahmen und eine vertiefte Teilnahme der
Schweiz am europäischen Gesetzgebungsprozess gesichert. Eine
Stärkung der Position der Schweiz angesichts der unweigerlichen
extraterritorialen Wirkung des Unionsrechts lässt sich daraus
ableiten. Das gilt trotz der offenen Rechtsfragen, die sich in Bezug auf
das E-InstA stellen, etwa die
fragliche Weitergeltung der Guillotineklausel aus den
Bilateralen-I-Verträgen von 1999, oder die schwerliche
Voraussehbarkeit der möglichen Sanktionen, falls die Schweiz sich im
Einzelfall gegen die Übernahme von EU-Recht aussprechen würde.
Ebenso in die Kategorie der offenen Rechtsfragen fällt die Unklarheit,
nach welchen Massstäben die in Art. 10 Abs. 7 E-InstA
festgehaltene Verhältnismässigkeit bei Ausgleichsmassnahmen
beurteilen lässt, die sowohl durch die EU als auch durch die Schweiz
ergriffen werden können, falls den vertraglichen Verpflichtungen nicht
nachgekommen wird.[74]
Letztlich muss nach einer Analyse der Auswirkungen des Brussels-Effect auf die Schweiz sowie der tiefgreifenden Folgen
der schweizerischen Reaktion auf den Brussels-Effect jedoch auch
festgehalten werden, dass die Schweiz ihre Rolle im europäischen
Binnenmarkt und in Europa längerfristig grundsätzlich zu
überdenken hat.[75]
Das Rahmenabkommen, so zeigt die bundesrätliche Entscheidung,[76]
kann hierzu nach der Ansicht der politischen Entscheidungsträger
keinen Abschluss bilden. Auch in dieser Frage wird Bradfords Theorie als
Orientierungshilfe dienen können.
[1]
Prof. Dr. Anu Bradford, LL.M., Henry L. Moses Professor of Law and
International Organization, Columbia Law School.
[2]
Anu Bradford, The Brussels Effect: How the European Union Rules the
World, New York 2020 (zit. Bradford 2020); Anu Bradford, The
Brussels Effect, Northwestern University Law Review 107/2012, S. 1
ff. (zit. Bradford 2012).
[3]
Vgl. Susan Emmenegger, Extraterritoriality in Financial Regulation,
in: Weber/Stoffel/Chenaux/Sethe (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen
des Gesellschafts- und Finanzmarktrechts, Festschrift für Hans
Caspar von der Crone zum 60. Geburtstag, Zürich 2017, S. 391
ff.; vgl. weiter Orla Lynskey, The Foundations of EU Data
Protection Law, Oxford 2015, S. 42; Paul M. Schwarz, The EU-U.S.
Privacy Collision: A Turn to Institutions and Procedures, Harvard
Law Review 2012/2013, S. 1967.
[4]
Als eine der wenigen Emmenegger (Fn. 3), S. 392.
[5]
Vgl. hierzu die Darstellung von Michael Hahn, Je t'aime…Moi
non plus : Rechtsfragen des Verhältnisses Schweiz-EU, ZBJV
157/2021, S. 77 ff.
[7]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 2.
[8]
Bradford 2020 (Fn. 2), Introduction, S. XII.
[10]
Zum Begriff des europarechtlichen Sekundärrechts Matthias
Oesch, Europarecht, Band I, Grundlagen, Institutionen,
Verhältnis Schweiz - EU, Bern 2015, N 415.
[11]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 2.
[12]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 2; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 2.
[13]
Bradford 2020 (Fn. 2), Introduction, S. XII.
[14]
Vgl. etwa Astrid Epiney, 20 Jahre Institut für Europarecht der
Universität Freiburg, Ein Beitrag zu Forschung, Lehre und
Weiterbildung im Europarecht in der Schweiz, in: Forum Europarecht
(Hrsg.), Die Schweiz und die europäische Integration: 20 Jahre
Institut für Europarecht / La Suisse et l'intégration
européenne: 20 ans de l'Institut de droit européen,
Freiburg 2015, S. 11 ff.; Matthias Oesch, Die Europäisierung
des schweizerischen Rechts, in: Cottier (Hrsg.), Die
Europakompatibilität des schweizerischen Wirtschaftsrechts:
Konvergenz und Divergenz, ZSR-Beiheft 50 2012, S. 13 ff.; Francesco
Maiani, Lost in translation: euro-compatibility, legal security,
and the autonomous implementation of EU law in Switzerland, ELR
2013, S. 29 ff.; Marc Amstutz, Normative Kompatibilitäten: Zum
Begriff der Europakompatibilität und seiner Funktion im
Schweizer Privatrecht, SJER 2004/2005, S. 235; Thomas Cottier,
Zwischen Skylla und Charybdis: Die Rezeption des europäischen
Wirtschaftsrechts in der Schweiz, EuZW 2012, S. 849.
[15]
Vgl. umfassend Daniel W. Drezner, Globalization, Harmonization, and
Competition: The Different Pathways to Policy Convergence, Journal
of European Public Policy 2005, S. 841 ff.; Daniel W. Drezner, All
Politics is Global: Explaining International Regulatory Regimes,
Princeton NJ 2008.
[16]
Vgl. Drezner, Globalization (Fn. 15), S. 841.
[18]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 11 ff.; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 27 f.
[19]
Bradford 2020 (Fn. 2), S. 27.
[22]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 12; mit aktualisierten Zahlen Bradford
2020 (Fn. 2), S. 27 f.
[23]
Bradford 2020 (Fn. 2), S. 26.
[24]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 12; vgl. Raya Kardasheva, Package Deals
in EU Politics, American Journal of Political Science 2013, S. 858
ff.
[26]
Bradford 2020 (Fn. 2), S. 49.
[27]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 17; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 48 ff.
[28]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 17; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 53.
[29]
Bradford 2020 (Fn. 2), S. 53.
[30]
Bradford 2012 (Fn. 2), S. 17 f.; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 54.
[34]
Zu den «Grundstrukturen» der Europäisierung des
schweizerischen Rechts vgl. Andreas Heinemann, Rechtliche
Transplantate zwischen Europäischer Union und der Schweiz, in:
Fahrländer/Heinzmann (Hrsg.), Europäisierung der
schweizerischen Rechtsordnung, Zürich 2013, S. 13 ff.
[35]
Weitergehend Astrid Epiney / Beate Metz / Benedikt Pirker, Zur
Parallelität der Rechtsentwicklung in der EU und in der
Schweiz: ein Beitrag zur rechtlichen Tragweite der
«Bilateralen Abkommen», Forum Europarecht Band 24,
Zürich 2012, S. 98 f.; Andreas Glaser, Umsetzung und
Durchführung des Rechts der Bilateralen Verträge in der
Schweiz, in: Glaser/Langer (Hrsg.), Die Verfassungsdynamik der
europäischen Integration und demokratische Partizipation,
Zürich et al. 2015, S. 133; Hansjörg Seiler, Einfluss des
europäischen Rechts und der europäischen Rechtsprechung
auf die schweizerische Rechtspflege, ZBJV 2014, S. 265;
Hansjörg Seiler, Dynamik und Statik in der Rechtsprechung des
Bundesgerichts zum EU-Recht?, in: Glaser/Langer (Hrsg.), Die
Verfassungsdynamik der europäischen Integration und
demokratische Partizipation, Zürich et al. 2015, S. 77;
Christine Kaddous, Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der
Schweiz, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Die
Verfassungsdynamik der europäischen Integration und
demokratische Partizipation, Erfahrungen und Perspektiven in
Österreich und der Schweiz, Zürich et al. 2015, S. 21.
[36]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 899.
[37]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 901; zum Ganzen weiter
Paul-Lukas Good, Die Schengen-Assoziierung der Schweiz, St. Gallen
2010.
[38]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 894.
[39]
Epiney/Metz/Pirker, Parallelität der Rechtsentwicklung (Fn.
35), S. 98.
[40]
Bericht vom 24. August 1988 über die Stellung der Schweiz im
europäischen Integrationsprozess (BBl 1988 III 249), S. 347 f. (zit.
Integrationsbericht).
[44]
Zum Ganzen: Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerung des
Rates zu einem homogenen erweiterten Binnenmarkt und den
Beziehungen der EU zu nicht der EU angehörenden
westeuropäischen Ländern vom 16. Dezember 2014 (16583/14), Rz. 44;
Entschliessung des Europäischen Parlamentes vom 9. September
2015 zu dem Thema EWR-Schweiz: Hindernisse bei der umfassenden
Verwirklichung des Binnenmarktes (2017/C 316/19), S. 16;
vgl. Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 956 ff.
[45]
Eidgenössisches Departement für auswärtige
Angelegenheiten (EDA),
Entwurf vom 23. November 2018 für ein Institutionelles
Rahmenabkommen
(Abkommen zur Erleichterung der bilateralen Beziehungen zwischen
der Europäischen Union und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft in den Bereichen des Binnenmarkts, an denen
die Schweiz teilnimmt; fortan E-InstA); vgl. zur Notwendigkeit der institutionellen
Reform und der Dynamisierung der Verträge Thomas Cottier et
al., Die Rechtsbeziehungen der Schweiz und der Europäischen
Union, Bern 2014, S. 576; Matthias Oesch / Gabriel Speck, Das
geplante institutionelle Abkommen Schweiz-EU und der EuGH, in:
Epiney/Hehemann (Hrsg.), Schweizerisches Jahrbuch für
Europarecht 2016/2017, Bern et al. 2017, S. 252 ff.
[47]
Thomas Cottier, Die Souveränität und das institutionelle
Rahmenabkommen, SJZ 2019, S. 345.
[48]
Astrid Epiney / Sian Affolter, das Institutionelle Abkommen und die
Unionsbürgerrichtlinie, Jusletter vom 11. März 2019, S.
30; Thomas Cottier, Der Rechtsschutz im Rahmenabkommen Schweiz -
EU, in: Epiney /Hehemann/Zlatescu (Hrsg.), Jahrbuch Europarecht
2018/2019, Bern et al. 2019, S. 362.
[49]
Cottier, Souveränität (Fn. 47), S. 352.
[50]
Zum Ganzen Stephan Breitenmoser / Simon Hirsbrunner, Der Entwurf
für ein Institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz
und der EU: offene Fragen im Schnittpunkt zwischen Europa- und
Völkerrecht, in: Epiney/Zlatescu (Hrsg.), Schweizerisches
Jahrbuch für Europarecht 2019/2020, Bern et al. 2020; Cottier,
Souveränität (Fn. 47), S. 352; Cottier, Rechtsschutz (Fn.
48), S. 362; kritisch zur Funktion dieses Schiedsgerichts Carl
Baudenbacher,
Rechtsgutachten zur Streitentscheidungsregelung des InstA zu
Handen der Kommssion des Nationalrates für Wirtschaft und
Abgaben (WAK) vom 6. Februar 2019, sowie Hansueli Schöchli, Dient das Schiedsgericht nur der
Schweizer Psychohygiene?, NZZ vom 13. Dezember 2018, S. 25.
[51]
Integrationsbericht
(Fn. 40), S. 380; vgl.
weiter Bericht vom 29. November 1993 über die Aussenpolitik
der Schweiz in den 90er Jahren (BBl 1994 I 153); eingehend
Philipp Wyss, Europakompatibilität und Gesetzgebungsverfahren
im Bund, AJP 2001, S. 717 ff.
[52]
Neben einem präventiven Ausgleich der marktbezogenen Nachteile
ist ausdrücklich zu erwähnen, dass die Politik der
Europaverträglichkeit zumindest zu Beginn der Neunzigerjahre
auch das Ziel verfolgte, eine möglichst europakompatible
Ausrichtung der schweizerischen Rechtsordnung zu bewahren, um
für die Schweiz alle «integrationspolitischen Optionen,
insb. ein möglicher EWR- oder EG-Beitritt»,
offenzuhalten; vgl. Matthias Oesch,
Die Europäisierung des schweizerischen Rechts, Working Paper No 2011/05| Oktober 2011/70, S. 29.
[53]
Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 29.
[54]
Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 29; mit Verweis auf Daniel
Thürer, Europaverträglichkeit als Rechtsargument. Zu den
Wegen und Möglichkeiten schweizerischer Rechtsanpassung an die
neue Integrationsdynamik der Europäischen Gemeinschaft in:
Haller/Müller/Kölz/Thürer (Hrsg.), Im Dienst an der
Gesellschaft, Festschrift für Dietrich Schindler zum 65.
Geburtstag, Basel et al. 1989, S. 561.
[55]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 892.
[56]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 892; vgl. zur historischen
Aufarbeitung Urs Altermatt, Die Schweiz in Europa: Antithese,
Modell oder Biotop?, Frauenfeld et al. 2011; Justynia Bronska, Die
Schweiz in Europa: Mittendrin, doch aussen vor? Auswirkungen eines
EU-Beitritts im Kontext der Erfahrungen Österreichs, Marburg
2009; Fritz Breuss / Thomas Cottier / Peter-Christian
Müller-Graff, Die Schweiz im europäischen
Integrationsprozess, Basel 2008; Thomas Cottier, Die Schweiz und
Europa: Herausforderungen im Vierten Kreis der Integration, in:
Neuhaus (Hrsg.), Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Erlangen
2014, S. 141 ff.; Jakob Kellenberger, Wo liegt die Schweiz?,
Zürich 2014.
[57]
Zum Begriff etwa Epiney (Fn. 14), S. 11 ff.; Oesch (Fn. 14), S. 13
ff.; Maiani (Fn. 14), S. 29 ff.; Amstutz (Fn. 14), S. 235; Cottier
(Fn. 14), S. 849; Botschaft vom 24. Februar 1993 über das
Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens (BBl 1993 I 805); Heinrich
Koller, Der Schweizerische Gesetzgeber vor der internationalen
Herausforderung: Erfahrungen mit «EUROLEX» -
«SWISSLEX» - «GATTLEX», ZBI 1994, S. 250 ff.;
Roger Mallepell, Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die
schweizerische Gesetzgebung 1993 - 1995, Bern 1999, S. 18 ff.; vgl.
zum Ganzen Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 14.
[58]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 935.
[59]
Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 29.
[63]
Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 16.
[64]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 904.
[65]
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits
und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999
(Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681).
[66]
Vgl. zum Ganzen auch Heinemann (Fn. 34), S. 15.
[68]
Vgl. hierzu Cottier, Souveränität (Fn. 47), S. 345.
[70]
Cottier, Souveränität (Fn. 47), S. 367.
[71]
Integrationsbericht
(Fn. 40); Aussenpolitischer Bericht 2000, Präsenz und
Kooperation. Interessenwahrung in einer zusammenwachsenden Welt vom
15. November 2000 (BBl 2001 261).
[73]
Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 974.
[74]
Breitenmoser/Hirsbrunner (Fn. 50), S. 519.
[75]
Gl.M. ohne Erwähnung des Brussels-Effect Oesch,
Europarecht Band I (Fn. 10), N 975.