«Das Bundesgericht erhebt die alternierende Obhut zur
Regel»
Besprechung der Urteile des Bundesgerichts 5A_367/2020 vom 19. Oktober
2020 und 5A_629/2019 vom 13. November 2020
Martin Widrig *
Mit Urteilen von 19. Oktober und 13. November 2020 verdeutlicht das
Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung zu strittigen
Betreuungsfragen: Es nimmt die alternierende Obhut zum Ausgangs-punkt
der Entscheidfindung. Zudem priorisiert es gleiche Betreuungsanteile
gegenüber ungleichen. Die alleinige Obhut ist anzuordnen, wenn im
Einzelfall konkrete Gründe gegen hälftige Betreuungsanteile
sprechen. Abweichungen von dieser Rechtsprechung können gegen das
Willkürverbot verstos-sen. Das Bundesgericht gibt der
alternierenden Obhut damit tendenziell den Vorzug in Betreuungs-fragen.
Der Beitrag analysiert die Bedeutung der Urteile für die Praxis
und klärt offene Fragen zur «alternierenden Obhut als
Regelfall» sowie zum Willen des Gesetzgebers.
Zitiervorschlag: Martin Widrig, «Das Bundesgericht erhebt die
alternierende Obhut zur Regel», sui generis 2021, S. 197
URL: sui-generis.ch/183
DOI:
https://doi.org/10.21257/sg.183
* Martin Widrig , MLaw, Lektor an der Universität Freiburg
(martin.widrig@unifr.ch).
I. Übersicht
«(D)as BGer erhebt die altern. Obhut mit gleichen
Anteilen faktisch zum Regelfall» twitterte Prof. Fankhauser zum Urteil
des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom
13. November 2020, was zum Titel des vorliegenden Beitrags inspirierte.[1]
In diesem Entscheid hiess unser höchstes Gericht die Beschwerde eines
Vaters gut, der anstelle eines ausgeweiteten Besuchsrechts eine
alternierende Obhut mit hälftiger Betreuungsaufteilung wünschte.
Da die Vorinstanz die alternierende Obhut ablehnte, ohne eine
Beeinträchtigung des Kindeswohls festzustellen und rechtserhebliche
Umstände ausser Acht liess, wies das Bundesgericht die Rechtssache zur
Ergänzung des Sachverhalts und Neubeurteilung an sie zurück.
Auch mit seinem Urteil 5A_367/2020
vom 19. Oktober 2020 bestätigte das Bundesgericht deutlich seine
Rechtsprechung, wonach eine alternierende Obhut im Einzelfall anzuordnen
ist, wenn keine konkreten und sachlichen Gründe dagegensprechen.[2]
I.c.
hob es den Entscheid ausschliesslich unter Willkürgesichtspunkten (!)
auf und wies ihn zur Anordnung und Regelung der Modalitäten einer
alternierenden Obhut an die Vorinstanz zurück.
Nachfolgend seien die beiden Urteile mit Fokus auf ihre Bedeutung für
Betreuungsfragen analysiert. Dazu werden kurz die bundesgerichtlichen
Kriterien zur Ermittlung der Betreuungsregelung wiederholt (II.) und die
beiden Entscheide erläutert sowie ihre Bedeutung für die Praxis
besprochen (III.-V.). Dem folgen ergänzende Hinweise zur
«Regelfall-Diskussion», dem Willen des Gesetzgebers, eine kurze
Würdigung sowie ein Fazit (VI.-IX.).
II. Grundsätze zur Ermittlung der Betreuungsform
Ist die Betreuungsregelung strittig, ist nach bundesgerichtlicher
Rechtsprechung im Einzelfall zu entscheiden, welche Betreuungsregelung
anzuordnen ist. Das massgebende Kriterium ist das Kindeswohl.[3]
Dieses ist wie folgt zu ermitteln:
Gestützt auf festgestellte Tatsachen der Gegenwart und der
Vergangenheit ist in einem ersten Schritt eine Prognose darüber zu
erstellen, ob eine alternierende Obhut[4]
mit dem Kindeswohl vereinbar ist.[5]
Das Bundesgericht erwähnt eine nicht abschliessende Zahl von
Kriterien, auf die es bei der Erstellung dieser Prognose ankommt. Von ihm
genannte Kriterien sind:
a. die Erziehungsfähigkeit der Eltern,
b. die persönliche Beziehung des Kindes zu den Eltern,
c. die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen,
d. die Fähigkeit und Bereitschaft der Eltern, in Kinderbelangen zu
kommunizieren und zu kooperieren,
e. die Bereitschaft, den Kontakt zum anderen Elternteil zu fördern,
f. das Alter des Kindes,
g. die geografische Situation; namentlich die Distanz zwischen den
Wohnungen wie auch diejenige zur Schule oder zum Kindergarten,
h. die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen
Regelung mit sich bringt,
i. die Beziehung zu Geschwistern, Stief- und Halbgeschwistern,
j. die Einbettung des Kindes in sein weiteres soziales Umfeld sowie
k. der Wille des Kindes.[6]
Um die (alleinige oder alternierende) Obhut über sein Kind
auszuüben, muss ein Elternteil zwingend erziehungsfähig sein
(Kriterium a.). Die Relevanz der anderen Faktoren hängt von den
konkreten Umständen des Einzelfalles ab.[7]
Bezüglich elterlicher Konflikte (Kriterium d.) präzisiert das
Gericht:
«Allein aus dem Umstand, dass ein Elternteil sich einer
alternierenden Betreuungsregelung widersetzt, kann indessen nicht ohne
Weiteres auf eine fehlende Kooperationsfähigkeit der Eltern
geschlossen werden, die einer alternierenden Obhut im Wege steht. Ein
derartiger Schluss könnte nur dort in Betracht fallen, wo die
Eltern aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Feindseligkeiten auch
hinsichtlich anderer Kinderbelange nicht zusammenarbeiten können,
mit der Folge, dass sie ihr Kind im Szenario einer alternierenden Obhut
dem gravierenden Elternkonflikt in einer Weise aussetzen würden,
die seinen Interessen offensichtlich zuwiderläuft.»[8]
Sind die notwendigen Voraussetzungen für eine alternierende Obhut
erfüllt, ist diese anzuordnen.[9]
Ist dies nicht der Fall, kommt es zu einem zweiten Schritt. Darin ist
anhand derselben Kriterien zu ermitteln, in wessen Obhut es dem Kind
voraussichtlich besser gehen wird.[10]
Dabei ist namentlich der Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern
Rechnung zu tragen, die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil zu
fördern (Kriterium e.).[11]
III. Urteil 5A_629/2019 vom 13. November 2020
Nachfolgend werden die wichtigsten Aspekte des Sachverhalts und der
Erwägungen in Bezug auf die alternierende Obhut beschrieben.
Sämtliche nicht weiter spezifizierten Referenzen in Kapitel III.
beziehen sich auf das Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13. November 2020.
1. Sachverhalt und Prozessgeschichte
Im vorliegenden Entscheid ging es um die Betreuungsregelung dreier Kinder
(C, D und E) der nicht verheirateten Eltern A und B. Während des
Zusammenlebens betreute die Mutter B. die Kinder. Die Eltern trennten sich
im August 2016 (z.G. Sv. A.a).
Bis zum Frühsommer 2017 führten die Eltern eine Mediation durch,
die schliesslich scheiterte. In diesem Zeitraum betreuten die Eltern ihre
Kinder während 5-8 Monaten in einer alternierenden Obhut (Sv. A.b; E.
8.4.1). Danach lebten die Kinder erneut mehrheitlich bei B. Letztere lebte
inzwischen bei ihrem neuen Partner. Im Jahre 2018 bekamen die beiden einen
Sohn (Sv. A.c).
Am 5. Juni 2017 verlangte der Vater A beim Zivilkreisgericht
Basel-Landschaft Ost eine alternierende Obhut mit hälftiger
Betreuungsaufteilung (Sv. B.a). Die Gerichtspräsidentin ordnete
vorläufig jedoch nur ein ausgeweitetes Besuchsrecht an. Dagegen
führte der Vater Berufung. Im Berufungsverfahren einigten sich die
Eltern auf ein ausgeweitetes Besuchsrecht von Freitag um 19:30 Uhr bis
Sonntag um 19:30 Uhr alle 14 Tage sowie wöchentlich von Donnerstag um
13:30 Uhr bis Freitag um 19:30 Uhr. Zu dessen Umsetzung wurden eine
Erziehungsbeistandschaft und, auf Antrag beider Parteien, die Erstellung
eines Gutachtens angeordnet (Sv. B.b f.).
Das Gutachten kam zum Ergebnis, die Eltern sollten die Kinder hälftig
betreuen (Sv. B.c). Dennoch teilte die Gerichtspräsidentin, am 8.
November 2018, die Obhut der Mutter zu (Sv. B.d). Noch am selben Tag erhob
A Berufung und hielt im Wesentlichen an seiner Forderung fest (Sv. C.a). Am
28. Mai 2019 wies das Kantonsgericht den Obhutsantrag ab und stellte A den
Entscheid am 16. Juli 2019 zu (Sv. C.c).
A beantragte am 14. August 2019 beim Bundesgericht die Aufhebung dieses
Entscheids und die Gutheissung der alternierenden Obhut mit je
hälftiger Betreuung (Sv. D.a). Das Bundesgericht trat auf die
Beschwerde ein (E. 1), hob den Entscheid auf und wies ihn zur
Ergänzung des Sachverhalts und Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurück (E. 8.9).
2. Präzisierung der allgemeinen Anforderungen
Das Bundesgericht präzisiert zunächst zwei Kriterien seiner
Rechtsprechung: Zum Erfordernis, dass Eltern fähig und bereit sind, in Kinderbelangen zu kommunizieren und zu
kooperieren, führt das Gericht aus, dass es unproblematisch ist, wenn die Eltern
für die Kommunikation und Kooperation auf die Vermittlung durch eine
Drittperson angewiesen sind (E. 4.2).
Bezüglich der Möglichkeit, das Kind persönlich zu betreuen,
erwägt das Bundesgericht, dass dies vor allem dann eine Rolle spielt,
-
wenn spezifische Bedürfnisse des Kindes eine persönliche
Betreuung notwendig erscheinen lassen oder
-
wenn ein Elternteil selbst in Randzeiten nicht bzw. kaum zur
Verfügung steht.
Liegen keine derartigen Ausnahmen vor, ist von der Gleichwertigkeit von Eigen- und Fremdbetreuung auszugehen (z.G. E.
4.2).
3. Anforderungen an das Abweichen von Gutachten
Das Bundesgericht hält fest, dass ein Gericht ein Gutachten einholen
darf, aber nicht muss. Liegt ein Gutachten vor, darf in Fachfragen
nur aus triftigen Gründen davon abgewichen werden. Das Gericht hat
dabei zu prüfen, ob ernsthafte Einwände gegen die
Schlüssigkeit der gutachterlichen Darlegungen bestehen. Erscheint
diese zweifelhaft, muss das Gericht ergänzende Beweise zur
Klärung der Zweifel erheben. Das Abstellen auf eine nicht
schlüssige Expertise oder der Verzicht auf gebotene zusätzliche
Beweiserhebungen kann gegen das Verbot willkürlicher
Beweiswürdigung verstossen (z.G. E. 7.1).
Welche rechtlichen Schlüsse aufgrund eines Gutachtens zu
ziehen sind, entscheidet allein das Gericht. Darum darf es
grundsätzlich von der diesbezüglichen Empfehlung eines Gutachtens
abweichen (z.G. E. 7.2).
4. Überprüfung der Gründe für die Abkehr von der
alternierenden Obhut
Schliesslich prüft das Bundesgericht, ob die Vorinstanz zu Recht davon
ausging, die Voraussetzungen für die alternierende Obhut seien nicht
erfüllt, und analysiert mehrere Argumente der Vorinstanz (E. 8).
a) Elterliche Kooperation und Kommunikation
Die Vorinstanz kam zum Schluss, die Kooperation und Kommunikation der
Eltern genüge den Anforderungen an eine alternierende Obhut nicht, da
diese nur mit Hilfe der Erziehungsbeiständin und eines Büchleins,
in welches sie sich jeweils Nachrichten hineinschreiben, funktioniere.
Wegen der Schulpflicht und der Distanz zwischen den elterlichen Wohnungen
(20 Minuten mit dem Auto) sei eine bessere Kommunikation erforderlich (z.G.
E. 8.3.1).
Nach dem Bundesgericht hätte die Vorinstanz berücksichtigen
müssen, dass sich die Kommunikation und Kooperation mit der
Erziehungsbeistandschaft gebessert hat und dass die Parteien auch bei einem
ausgeweiteten Besuchsrecht gleichermassen kommunizieren und kooperieren
müssen (E. 8.3.2). Am Gutachten bemängle die Vorinstanz nur, es
gehe nicht auf die Bedeutung der Konflikte für das Kindeswohl bei
einer alternierenden Obhut ein, mache dazu aber keine eigenen
Feststellungen (E. 8.3.3). Unter diesen Voraussetzungen wären weitere
Abklärungen notwendig gewesen (E. 8.3.4).
b) Bisherige Betreuungsregelung
Die Vorinstanz verneinte die alternierende Obhut auch aufgrund des
Kriteriums der Stabilität, welche die bisherige Betreuungsregelung mit sich
bringt
(E. 8.4.1).
Traditionelle Rollen vor einer Trennung sprechen gemäss dem
Bundesgericht eher gegen die alternierende Obhut. Dies relativiere sich
jedoch dadurch, dass die Parteien bereits während mindestens fünf
Monaten erfolgreich eine alternierende Obhut praktiziert haben. Diese
Zeitspanne sei insbesondere für junge Kinder lange genug, um sich an
die alternierende Obhut zu gewöhnen (z.G. E. 8.4.2).
c) Geografische Distanz
Die Vorinstanz lehnte die alternierende Obhut auch wegen der geografischen Distanz zwischen den beiden Wohnorten ab. Eine
20-minütige Autofahrt ist nach dem höchsten Gericht jedoch keine
grundsätzlich unzumutbare Belastung für die Kinder. Die
Überlegung der Vorinstanz, die eine Stunde dauernde Fahrt mit
öffentlichen Verkehrsmitteln sei nicht zumutbar, verdiene keine
Beachtung, da der Transport mit dem Auto stattfinde. Die Kinder
müssten auch den Schulweg nicht allein bewältigen können
(z.G. E. 8.5).
d) Würdigung des Gutachtens
Die Vorinstanz erwog, das Gutachten sei aus der Sicht der Elterninteressen
erfolgt und nicht auf das Kindeswohl eingegangen. Deshalb sei nicht darauf
abzustellen (z.G. E. 8.6).
Diese Kritik ist gemäss dem letztinstanzlichen Entscheid zwar
teilweise berechtigt. Allerdings könne der Erschöpfungszustand
von B. Auswirkungen auf das Kindeswohl haben. Die gesundheitliche
Verfassung eines Elternteils ist ein für die Obhutsfrage
rechtserheblicher Umstand. Darum hätte festgestellt werden
müssen, ob eine Entlastung der Mutter durch die alternierende Obhut
den Kindern besser gedient hätte als die angefochtene Regelung. Dies
umso mehr angesichts der Geburt des vierten Kindes. Da die Vorinstanz diese
Abklärung unterliess, habe sie die Untersuchungsmaxime (Art. 296 Abs. 1 ZPO[12]) verletzt (z.G. E. 8.6).
e) Berücksichtigung des Kindeswillens
Aus dem Gutachten geht hervor, dass der damals 6-jährige Sohn die
alternierende Obhut mit hälftigen Betreuungsanteilen gut fand. Dies
sei ein rechtserheblicher Umstand, den die Vorinstanz hätte
thematisieren müssen (z.G. E. 8.7).
f) Trennung von Halb-Geschwistern
Die Regelung, wonach Geschwister nicht getrennt werden sollten, zielt
darauf ab, zu vermeiden, dass für volle Geschwister unterschiedliche
Obhutsregelungen gelten. Der Beziehung zu Halbgeschwistern sei zwar
Rechnung zu tragen, es sei aber normal, wenn die Obhutsregelungen
unterschiedlich sind. Eine Beziehung zu den Halbgeschwistern könne
auch so gepflegt werden (z.G. E. 8.8).
5. Begründung der Aufhebung des Entscheids
Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass die Vorinstanz ihr Ermessen
bundesrechtswidrig ausgeübt hat. Sie schloss, ohne eine
Beeinträchtigung des Kindeswohls festzustellen, dass der
Elternkonflikt die alternierende Obhut mit hälftiger Betreuung nicht
zulasse. Zudem liess sie weitere rechtserhebliche Umstände ausser Acht
(z.G. E. 8.9).
IV. Urteil 5A_367/2020 vom 19. Oktober 2020
Nachfolgend werden die wichtigsten Aspekte des Sachverhalts und der
Erwägungen in Bezug auf die alternierende Obhut beschrieben.
Sämtliche nicht weiter spezifizierten Referenzen in Kapitel IV.
beziehen sich auf das Urteil des Bundesgerichts 5A_367/2020 vom 19. Oktober 2020.
1. Sachverhalt und Prozessgeschichte
A.A und B.A heirateten im Jahre 2009. C.A kam im Jahre 2016 zur Welt. Die
Eltern teilten sich die Betreuungsaufgaben (Sv. A). Seit dem 13. April 2018
leben sie getrennt. Durch das Verschulden der Mutter B.A brach der Kontakt
zwischen C.A und seinem Vater A.A bis im November 2018 ab (Sv. A; E.
3.4.1). Dennoch blieb deren Beziehung intakt (E. 3.4.1).
Am 25. Oktober 2018 regelte das Bezirksgericht das Getrenntleben. Es teilte
die Obhut über C.A der Mutter zu. A.A erhielt ein Besuchsrecht (Sv.
B.a). Gegen den Entscheid erhoben beide Parteien Berufung ans Obergericht.
Dieses ordnete neu ein ausgeweitetes Besuchsrecht an (z.G. Sv. B.b).
Gegen diesen Entscheid erhob der Vater Beschwerde ans Bundesgericht. Das
Bundesgericht hob das Urteil des Obergerichts am 17. Oktober 2019[13]
auf und wies es zur Ergänzung des Sachverhalts und Neubeurteilung in
der Sache an die Vorinstanz zurück (Sv. B.c). Diese ergänzte ihr
Urteil am 6. April 2020 um eine Weisung an die Eltern: Sie sollten Hilfe
für eine bessere und kindzentrierte Kommunikation suchen (Sv. C). A.A
beschwerte sich beim Bundesgericht und ersuchte um eine alternierende Obhut
(Sv. D.a).
Das Bundesgericht erachtet die Beschwerde für zulässig und die
Begehren des A.A für hinreichend bestimmt (E. 1.1 f.). Es heisst die
Beschwerde teilweise gut und weist die Sache an die Vorinstanz zurück,
um die Modalitäten einer alternierenden Obhut zu regeln (z.G. E. 3.7
sowie Dispositiv Ziff. 1).
2. Ausschliessliche Prüfung auf Willkür
Beim vorliegenden Urteil handelt es sich um einen Entscheid im Rahmen eines
Eheschutzverfahrens. Eheschutzentscheide sind Entscheide über
vorsorgliche Massnahmen i.S.v. Art. 98 BGG[14]. Dies hat weitreichende Konsequenzen:
-
Es können nur Verletzungen verfassungsmässiger Rechte
gerügt werden (Art. 98 BGG), alle anderen
Beschwerdegründe (Art. 95 ff. BGG) sind
ausgeschlossen,[15]
-
die Anwendung von Bundesgesetzen prüft das Bundesgericht nur auf
die Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV[16]) hin (z.G. E. 2.1).[17]
Dass das Bundesgericht seinen Entscheid ausschliesslich unter
Willkürgesichtspunkten fällte, macht das vorliegende Urteil
besonders wichtig.
3. Überprüfung der Gründe für die Abkehr von der
alternierenden Obhut
Nach der Ergänzung des Sachverhalts sagte das Obergericht, dass weder
die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern noch die
Wohnsituation der Parteien ein Hindernis für die alternierende Obhut
seien. Allerdings spreche die Stabilität der Verhältnisse bei
Kleinkindern gegen eine alternierende Obhut (z.G. E. 3.2).
a) Allgemein gehaltene Gründe
Das Obergericht führte mehrfach sehr allgemein gehaltene Gründe
auf, um die Abkehr von der alternierenden Obhut zu rechtfertigen. Es erwog:
-
die alternierende Betreuung könne insbesondere für
Säuglinge und Kleinkinder bis fünf Jahre zu einem
Entwicklungsrisiko werden. Aus psychologischer Sicht werde angenommen, dass
den besonderen Bindungs- und Betreuungsbedürfnissen von
Säuglingen und Kleinkindern in der alternierenden Obhut kaum
kindesgerecht Rechnung getragen werden könne (z.G. E. 3.3),
-
ein Kind entwickle seine Bindung zu einer zweiten Bindungsperson
i.d.R. erst mit 18 Monaten. Während des Zusammenlebens sei der Sohn
der Parteien aufgrund des Alters nicht in der Lage gewesen, zu beiden
Parteien eine gleich tragfähige Bindung aufzubauen. Darum sei davon
auszugehen, dass die Mutter die erste Bindungsperson sei und zum Vater
keine tragfähige Beziehung bestehe (z.G. E. 3.5),
- die ständigen Wechsel des Wohnorts seien wegen der
Notwendigkeit, die Sachen immer wieder packen zu müssen, eine
Belastung für das Kind (E. 3.6).
Mit Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung[18]
erklärt das Bundesgericht, dass es von den konkreten Umständen abhängt, ob die alternierende Obhut
angeordnet wird oder nicht (E. 3.3). Das blosse Aufwerfen der Frage nach
der notwendigen Reife des Kindes, um Wechsel zu bewältigen (E. 3.6),
reine Mutmassungen bezüglich der Qualität der
Eltern-Kind-Beziehung (E. 3.5) oder das pauschale Abstellen auf
kinderpsychologische Studien und Literatur (E. 3.3) genüge für
einen willkürfreien Entscheid nicht (E. 3.5 mit Verweis auf E. 3.3).
Gerade in der Literatur liessen sich Meinungen für jede Position
finden (E. 3.3).[19]
b) Stabilität der Verhältnisse
Vor der Trennung betreuten die Eltern das Kind im Verhältnis von ca.
30:70%. Der Kontaktabbruch zwischen C.A und A.A wurde durch B.A verursacht.
Die Kind-Vater-Beziehung blieb aber bestehen. Dennoch sei wegen des
Kriteriums der Stabilität keine alternierende Obhut angebracht. Dies
auch wegen der «frühkindlichen Amnesie», der Betreuungs- und
Umgebungsverhältnisse und des Säuglingsalters (z.G. E. 3.4.1).
Das Bundesgericht hält fest, dass die Stabilität ein Kriterium
ist, das geprüft werden muss. Dabei muss gefragt werden, was die
Weiterführung der bisherigen Regelung dem Kind bringt. Bei diesem
Kriterium spricht der Umstand, dass vor der Trennung bereits eine
alternierende Obhut gelebt wurde, für die alternierende Obhut. Indem
die Vorinstanz im Wesentlichen nur auf die frühkindliche Amnesie
abstelle und die Betreuungsaufteilung vor der Trennung völlig
ignoriere, habe sie ihr Ermessen qualifiziert und fehlerhaft ausgeübt
und sei in Willkür verfallen. Zudem könne das
missbräuchliche Verhalten von B.A nicht dadurch gewürdigt werden,
indem die alleinige Obhut mit dem Kontaktabbruch begründet werde (z.G.
E. 3.4.3).
8. Begründung der Aufhebung des Entscheids
Das Bundesgericht erachtet den Ermessensentscheid im Ergebnis für
willkürlich und stellt fest, dass ohne sachlich haltbare Gründe
von der konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen wurde. Die
Voraussetzungen für eine alternierende Obhut seien erfüllt (z.G.
E. 3.7).
V. Bedeutung für die Praxis
Mit den beiden Urteilen hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung
bestätigt und präzisiert. Hier werden ihre Folgen für die
Praxis erläutert.
1. Alleinige Obhut nur bei konkreten Gründen
Sind sich Eltern über die Betreuungsregelung uneinig, verlangt das
Bundesgericht in einem ersten Schritt, dass «gestützt auf
festgestellte Tatsachen der Gegenwart und der Vergangenheit eine
sachverhaltsbasierte Prognose darüber» erstellt wird, ob die
alternierende Obhut mit dem Kindeswohl vereinbar ist oder nicht.[20]
Dazu ist anhand mehrerer Kriterien[21]
zu prüfen, ob im Einzelfall konkrete Gründe gegen die
alternierende Obhut sprechen.[22]
Ist dies der Fall, ist die alleinige Obhut anzuordnen, wenn dies zu einem
für das Kind günstigeren Ergebnis führt. Abweichungen von
dieser Rechtsprechung können gegen das Willkürverbot verstossen.[23]
Mit den Urteilen verdeutlicht das Bundesgericht, dass es nicht gewillt ist,
die Verneinung der alternierenden Obhut mit pauschal gehaltenen
Gründen zu billigen. Es genügt nicht, die alternierende Obhut mit
allgemeinen Argumenten zu verneinen, wie z.B. die alternierende Obhut sei
schlecht für junge Kinder.[24]
2. Alternierende Obhut bei fehlender günstigerer Alternative
In einem der Fälle sah die Vorinstanz wegen
Kommunikationsschwierigkeiten von der alternierenden Obhut ab und ordnete
eine alleinige Obhut mit ausgeweitetem Besuchsrecht an.[25]
Dass die Kommunikationsschwierigkeiten für diese Betreuungsregelung
ebenso problematisch waren wie für die alternierende Obhut, liess sie
ausser Acht.[26]
Es sind weitere Fälle denkbar, in welchen konkrete Gründe sowohl
gegen die alternierende als auch gegen die alleinige Obhut und ihre
Varianten sprechen. Würde eine alternierende Obhut aus solchen
Gründen abgelehnt, obwohl die angeordnete Alternative zu schlechteren
Ergebnissen für das Kind führt, wäre dem Kindeswohl wenig
gedient. Es macht darum wenig Sinn, von einer alternierenden Obhut
abzusehen, wenn zwar konkrete Gründe gegen sie sprechen, aber keine
für das Kind günstigere Alternative besteht.
3. Priorisierung höherer Betreuungsanteile
Das Bundesgericht dürfte die alternierende Obhut mit hälftigen
Betreuungsanteilen derjenigen mit ungleichen Betreuungsanteilen oder dem
ausgeweiteten Besuchsrecht tendenziell vorziehen.[27]
Allerdings hat das Bundesgericht diesen Vorzug bisher nur bei
Betreuungsanteilen in der Höhe des besprochenen Urteils gewährt.
Die Betreuungsanteile des Vaters beliefen sich darin auf fünf Tage und
sechs Stunden alle 14 Tage.[28]
Hälftige Betreuungsanteile tendenziell auch gegenüber gleicheren
Anteilen als diesen zu priorisieren würde zwar Sinn machen, da es zu
einer grösseren Rechtssicherheit und einer Reduktion der Konflikte
führen dürfte.[29]
Das Gericht hat die Frage aber noch nicht geklärt.
4. Unterstützungsbedürftige Kommunikation und Kooperation
genügt
Es genügt für die alternierende Obhut, wenn die Eltern für
eine ausreichende Kooperation und Kommunikation auf die Vermittlung einer
Drittperson oder Hilfsmittel, wie etwa ein Büchlein, angewiesen sind.
Sie müssen nicht zwingend allein kommunizieren und kooperieren
können.[30]
5. Gleichwertigkeit der Fremdbetreuung
Das Bundesgericht präzisiert, dass Eigen- und Fremdbetreuung
grundsätzlich gleichwertig sind. Von diesem Grundsatz ist nur unter
speziellen Umständen (spezifische gesundheitliche Bedürfnisse
eines Kindes oder [fast] gänzliche Unverfügbarkeit eines
Elternteils) abzusehen.[31]
Ein Elternteil dürfte folglich i.d.R. keine Nachteile mehr in Kauf
nehmen müssen, weil er erwerbstätig ist und die Kinder darum
fremdbetreuen lassen muss.
6. Geografische Distanz
Eine 20-minütige Autofahrt ist für Kinder grundsätzlich
zumutbar. Ausserdem müssen Kinder den Schulweg nicht allein
bewältigen können. Rein hypothetische Aspekte, wie die Zeit, die
benötigt wird, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einer
Wohnung zur anderen zu gelangen, sind nicht zu berücksichtigen, wenn
der Weg ohnehin mit dem Auto zurückgelegt wird.[32]
7. Berücksichtigung des Kindeswillens
Das Bundesgericht schreibt vor, dass der Kindeswille in allen Entscheiden,
die Kinder betreffen, berücksichtigt werden muss.[33]
Folglich muss in den für Kinder besonders relevanten
Betreuungsentscheiden ersichtlich sein, dass die Wünsche der Kinder
thematisiert wurden (vgl. auch Art. 12 KRK[34]).
8. Trennung von Halbgeschwistern
Der Grundsatz, dass Geschwister nicht voneinander getrennt werden, findet
auf Halbgeschwister keine Anwendung.[35]
Von der alternierenden Obhut kann folglich nicht allein darum abgesehen
werden, weil aus mehreren Partnerschaften Kinder hervorgegangen sind und
Kinder aus der einen Partnerschaft nie von Kindern aus einer anderen
Partnerschaft getrennt werden dürften. Gemäss der bisherigen
Rechtsprechung kann es bei gegebenen Umständen genügen, dass
Halbgeschwister Ihre Beziehung im Rahmen eines gewöhnlichen
Besuchsrechts aufbauen oder pflegen.[36]
Zuweilen kann es auch Sinn machen, Vollgeschwister voneinander zu trennen.[37]
9. Anforderungen an die Abweichung von Gutachten
Grundsätzlich steht es einem Gericht frei, ein Gutachten anzuordnen.
Existiert ein Gutachten, kann in Fachfragen nur aus triftigen
Gründen davon abgewichen werden. Dabei ist zu prüfen, ob
ernsthafte Einwände bezüglich dessen Schlüssigkeit bestehen.
Bleiben Zweifel, muss das Gericht ergänzende Beweise erheben und die
offenen Fragen klären. In Rechtsfragen entscheidet das Gericht nach
eigenem Ermessen.[38]
VI. Berichtigung zur «Regelfall-Diskussion»
Im Zusammenhang mit diesem Urteil ist vermehrt der Begriff
«alternierende Obhut als Regelfall» gefallen.[39]
In der Schweiz besteht grosse Unklarheit bezüglich dieses Begriffs. So
hiess es z.B., dass wer dies fordere, alle Eltern zu einer alternierenden
Obhut zwingen wollte - sogar dann, wenn sie sich auf eine
alleinige Obhut geeinigt haben.[40]
Wie jemand zu einem solchen Bild gelangen konnte, ist eine offene Frage.
Zumindest ist es wichtig klarzustellen, dass dies dem widerspricht, was in
der Forschung unter einer alternierenden Obhut als Regelfall verstanden
wird. Von selbst versteht sich, dass diese Lösung grundsätzlich
nur dann Sinn macht, wenn sich die Eltern bezüglich der Obhut uneinig
sind.
Fachpersonen verstehen unter der alternierenden Obhut als Regelfall eine widerlegbare Vermutung zugunsten der alternierenden Obhut.[41]
Dies bedeutet, dass die alternierende Obhut gegenüber der alleinigen
Obhut vorgezogen wird, wenn im Einzelfall keine konkreten Gründe
dagegensprechen. So gesehen ist bereits der kleinste Vorzug der
alternierenden Obhut ein «Regelfall». Eine Vermutung fördert
die alternierende Obhut, muss aber nicht dazu führen, dass sie in der
Praxis die meistverbreitete Betreuungsregelung wird.[42]
Je nach Höhe der Anforderungen, um die Vermutung zu widerlegen, liesse
sich zwischen starken oder schwachen Vermutungen
unterscheiden.[43]
Diese Vermutung wird in der Forschung ernsthaft diskutiert und von
zahlreichen Fachpersonen gefordert. Dies kam z.B. im Jahre 2014 sehr
eindrücklich zur Geltung, als 111 Expertinnen und Experten der
Psychologie in einem (sehr seltenen) Konsensbericht die alternierende Obhut
für Kinder jeden Alters (also auch für Kleinkinder) zum
Regelfall empfahlen.[44]
In einer Spezialausgabe zur alternierenden Obhut des Journal of Divorce & Remarriage sprachen sich 12 Expertinnen
und Experten mehrheitlich für eine Vermutung aus, da selbst bei
elterlichen Konflikten fast alle empirischen Studien ergeben, dass Kinder
von der alternierenden Obhut profitieren.[45]
Auch in der Schweiz wurde, basierend auf grundrechtlichen
Überlegungen, die Ansicht vertreten, die alternierende Obhut
müsse der Ausgangspunkt in Betreuungsfragen sein.[46]
Schliesslich ist die «Regelfalllösung» bereits in mehreren
Ländern etabliert.[47]
Die Ergebnisse einer systematischen Evaluation in Arizona waren sogar
mehrheitlich positiv.[48]
Die alternierende Obhut als Regelfall muss auch im Lichte der
möglichen Alternativen betrachtet werden. Dies sind z.B. das
Mutterprimat, die alleinige Obhut als Regelfall oder der Kindeswohlstandard
(«the child's best interests principle»), bei dem in jedem
Einzelfall versucht wird, die beste Lösung für das Kind zu
ermitteln und anzuordnen.
Letztere Lösung wirkt sympathisch, wird in der Lehre aber stark
kritisiert. Sogar Münzen werfen sei besser.[49]
Angesehenste Fachpersonen heben zwei Probleme besonders hervor:
-
Die faktische Unmöglichkeit, das künftige Kindeswohl in jedem
Fall zu ermitteln: Es ist unmöglich, in jedem Fall festzustellen,
welches die in der Zukunft beste Lösung für das Kind sein
wird. Es wäre notwendig, immer alle möglichen Varianten, alle
möglichen Ergebnisse dieser Varianten, die Wahrscheinlichkeiten,
mit welcher diese Ergebnisse eintreten, und der Wert, der jedem dieser
Ergebnisse beigemessen wird, zu ermitteln bzw. zu berücksichtigen.[50]
Dies ist faktisch unmöglich.[51]
Zudem kosten derart ambitionierte Entscheide wertvolle Zeit[52]
und viel Geld, das später den Kindern fehlt.[53]
Entscheide, die auf empirisch gestützten Grundsätzen
aufbauen, führen zu besseren Ergebnissen.[54]
-
Probleme aufgrund des (zu) weiten Ermessens mit dem Kindeswohlbegriff:
Wenn jede Instanz «frei wählen» darf, was sie als
Kindeswohl bezeichnet, ist der Entscheid im Rechtsmittelverfahren nicht
überprüfbar.[55]
Entscheide, die auf derart weitem Ermessen beruhen, basieren zudem
häufig mehr auf persönlichen Überzeugungen als logisch
nachvollziehbaren Gründen.[56]
Die Konsequenzen sind weniger Rechtssicherheit, schlechtere Kooperation
und mehr Streit zwischen den Eltern.[57]
Da auch die psychologische Forschung in überzeugender Weise darlegt,
dass übliche Besuchsrechte nicht im Interesse der Kinder sind und mehr
Zeit mit beiden Eltern die Regel (und nicht die Ausnahme) sein sollte,[58]
Trennungskinder seit Jahrzehnten mehr Zeit mit beiden Elternteilen
wünschen[59]
und der alternierenden Obhut sehr gute Noten erteilen,[60]
scheint eine widerlegbare Vermutung zugunsten der alternierenden Obhut
zumindest eine viable, dem Kindeswohl potenziell dienliche Lösung zu
sein.
VII. Der Wille des Gesetzgebers
Eine Lehrmeinung warf dem Bundesgericht vor, es verstosse gegen den Willen
des Gesetzgebers. Dieser habe die alternierende Obhut nur gewollt, wenn sie
die beste Lösung sei.[61]
Diese Äusserungen könnten suggerieren, die alleinige Obhut sei
als Regel, die alternierende als Ausnahme gedacht. Dies ist schon darum
unzutreffend, da der Bundesrat ursprünglich gewollt hatte, dass immer
die im Einzelfall günstigste Lösung für das Kind angeordnet
wird (Kindeswohlstandard).[62]
Der Gesetzgeber wich jedoch von diesem Vorschlag ab. Auf Initiative der
Kommission für Rechtsfragen des Ständerats (RK-S) nahm er vier
neue Bestimmungen zur alternierenden Obhut ins ZGB[63]
auf (Art. 298 Abs. 2bis f. sowie Art. 298b Abs. 3bis f. ZGB). Diese
zielte damit auf ein grundsätzliches Recht des Kindes auf Betreuung durch beide Eltern[64]
und - stets unter Vorbehalt der Wahrung des Kindeswohls - einen besseren
Schutz des Rechts auf Betreuung ab.[65]
Selbst die vom Bundesrat zur Erfüllung des Postulats 15.3003 in
Auftrag gegebene interdisziplinäre Studie kommt zum Schluss: «Mit
diesen Bestimmungen signalisiert der Gesetzgeber, dass er dieser
egalitären Organisationsweise der gemeinsamen Elternschaft nach einer
Trennung oder Scheidung den Vorzug gibt.»[66]
Auch die mehrheitlich erst skeptische Kommission für Rechtsfragen des
Nationalrats (RK-N) hielt im ersten Satz dieses Postulats fest: «Die
alternierende Obhut muss gefördert werden.»[67]
Der Gesetzgeber hat kein bestimmtes Betreuungsmodell vorgeschrieben.[68]
Er sagte auch, dass die alternierende Obhut keine exakt hälftige
Betreuungsaufteilung implizieren muss.[69]
Die genaue Ausgestaltung des Betreuungsrechts überliess er, genau wie
diejenige des Unterhalts- und Sorgerechts, der Praxis und damit in erster
Linie dem Bundesgericht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Gerichte und
Behörden völlig frei wären zu machen, was sie wollen. Der
Gesetzgeber hat deutlich mitgeteilt, was er erwartet:
-
Das Betreuungsrecht ist im Lichte der Sorgerechtsrevision zu
betrachten.[70]
Diese stand im Zeichen des Kindeswohls und (nachgeordnet) der
Gleichstellung.[71]
-
Die frühere Praxis, wonach für die Betreuungslösung nach
der elterlichen Trennung einfach auf die bisherige Rollenteilung
abgestellt wird, ist aufzugeben. Sie relativiert bei ernsthafter
Bereitschaft, das Kind zu betreuen, das Prinzip der gemeinsamen
elterlichen Sorge.[72]
-
Die alternierende Obhut soll namentlich auch dann möglich sein,
wenn vor der Trennung eine traditionelle Rollenaufteilung herrschte.[73]
Sollte die alternierende Obhut zu einer Reduktion des
Unterhaltsanspruchs führen, sei dies hinzunehmen.[74]
Die alleinige Obhut nur dazu anzuordnen, um mehr Unterhalt
zuzusprechen, dürfte darum unzulässig sein.[75]
Bundesrätin Sommaruga hob noch etwas hervor: Die Überzeugung des
Gesetzgebers, dass eine bedeutsame Beziehung zu beiden Eltern im Interesse
des Kindes ist.[76]
Diese aufrecht zu erhalten sei bei einer «Sonntagsbeziehung»
schwierig.[77]
«Regelmässige persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen
kann man dann am besten sicherstellen, wenn eine alternierende Obhut
vorgesehen wird.»[78]
Global betrachtet sprechen die vom Gesetzgeber festgehaltenen
Grundsätze und Erwartungen deutlich gegen eine alleinige Obhut als
Regelfall und zugleich für einen tendenziellen Vorzug der
alternierenden Obhut.
VIII. Würdigung
Das Bundesgericht macht die alternierende Obhut zum Ausgangspunkt in
Betreuungsfragen, wenn sich Eltern uneinig sind. Von der Idee eines
grundsätzlichen Rechts auf Alleinbetreuung und Unterhalt hat es damit,
zu Recht, Abstand genommen. An der bundesgerichtlichen Methode besonders
positiv zu werten ist, dass die wichtigsten Risikofaktoren für das
Kindeswohl im Einzelfall geprüft werden müssen. Diese
Vorsichtsmassnahme erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass allfällige
Risiken für das Kind entdeckt werden, und gewährleistet damit
einen besonders guten Kindesschutz. Diese Rechtsprechung verkörpert ferner beide Charakteristiken einer
guten Rechtslage: Sie schafft zum einen ein Leitbild, das auch in
unproblematischen Fällen daran erinnert, dass eine gemeinsame
Betreuung und eine bedeutsame Beziehung zu beiden Eltern im Interesse des
Kindes sind.[79]
In Schweden hat u.a. genau dieses Bewusstsein der Eltern zur Verbreitung
der alternierenden Obhut beigetragen.[80]
Zum andern bietet die Rechtsprechung auch die notwendigen Werkzeuge
für den Umgang mit schwierigen Fällen.
Die Urteile dürften, nebst dem Dienst für das Kind, auch
elterliche Konflikte reduzieren, Rechtssicherheit und die richtigen Anreize
schaffen: Die alternierende Obhut, die Gleichbehandlung von Fremd- und
Eigenbetreuung sowie neuere Entwicklungen im Unterhaltsrecht[81]
werden die Erwerbstätig- und Selbständigkeit beider Eltern
fördern, was wiederum das Armutsrisiko der Kinder massiv reduzieren
wird.[82]
Dies sind wichtige, positive Neuerungen im schweizerischen Recht. Davon
profitieren Kinder, Eltern und die ganze Gesellschaft.
IX. Fazit
Das Bundesgericht macht die alternierende Obhut zum Ausgangspunkt in
Betreuungsfragen. Von ihr darf nur abgewichen werden, wenn konkrete
Gründe gegen sie und für eine andere Betreuungslösung
sprechen. Zugleich hält es den Kindesschutz besonders hoch, indem es
in jedem Fall eine Prüfung der Risikofaktoren für das Kind
verlangt.
Diese vorsichtige Förderung der alternierenden Obhut entspricht dem
Willen des Gesetzgebers und wird durch die Ergebnisse der empirischen
Forschung gestützt. Mit seiner Rechtsprechung schafft das
Bundesgericht somit nicht nur Rechtssicherheit, sondern
höchstwahrscheinlich auch die bestmögliche Lösung für
das Kind.
[4]
Die alternierende Obhut ist eine Betreuungs- und Lebensform
für Kinder getrenntlebender Eltern, bei welcher die Kinder zu
ungefähr gleichen Teilen bei beiden Eltern leben (Urteil des
Bundesgerichts 5A_46/2015
vom 26. Mai 2015 E. 4.4.3).
[6]
Zum Ganzen:BGE 142 III 612 E. 4.3; BGE 142 III 617 E. 3.2.3;
Die für sinnvoll erachteten Kriterien b., e., und die
Ergänzung zu g. entstammen dem Urteil des Bundesgerichts 5A_46/2015 vom 26. Mai
2015 E. 4.4.2 und 4.4.5.
[12]
Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008
(Zivilprozessordnung, ZPO; SR 272).
[13]
Es handelt sich um das Urteil des Bundesgerichts 5A_312/2019 vom 17.
Oktober 2019.
[14]
Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005
(Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110).
[15]
Auch Art. 105 BGG ist
nicht anwendbar (Markus Schott, in:
Niggli/Uebersax/Wiprächtiger/Kneubühler [Hrsg.], Basler
Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl., Basel 2018, Art. 98 BGG
N 8 [zit. BSK BGG-Schott]).
[16]
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.
April 1999 (BV; SR 101).
[17]
Siehe auch: Urteil des Bundesgerichts 5A_857/2016 vom 8.
November 2017 E. 2. Über die bisherige Aufzählung hinaus
gilt das qualifizierte Rügeprinzip: Die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte wird nur geprüft, wenn eine
entsprechende Rüge gemacht wurde (Art. 106 Abs. 2 BGG; BSK
BGG-Schott, Art. 98 N 8). Zudem prüft das Bundesgericht nur
klar und detailliert erhobene und soweit möglich belegte
Rügen (BSK BGG-Schott, Art. 98 N 18). Vgl. z.G. E. 2.1.
[23]
Urteil des Bundesgerichts 5A_367/2020 vom 19.
Oktober 2020 E. 3.7; Vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13.
November 2020 E. 8.9.
[24]
Urteil des Bundesgerichts 5A_367/2020 vom 19.
Oktober 2020 E. 3.3 i.V.m. E. 3.7.
[27]
Vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13.
November 2020 Sv. B.b, B.d und C.c sowie E. 8.3.2, 8.3.4 und 8.9.
[28]
Vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13.
November 2020 Sv. B.b, B.d und C.c.
[30]
Z.G. Urteil des Bundesgerichts 5A_367/2020 vom 19.
Oktober 2020 E. 4.2, 8.3.1 ff. und 8.9.
[32]
Z.G. Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13.
November 2020 E. 8.5.
[34]
Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November
1989 (Kinderrechtskonvention, KRK; SR 0.107).
[36]
Urteil des Bundesgerichts 5A_844/2019 vom 17.
September 2020 E. 3.4 f.
[37]
So z.B., wenn sich das Alter, die Bedürfnisse, die emotionalen
Bindungen oder Wünsche der Kinder unterscheiden (Urteil des
Bundesgerichts 5A_707/2019
vom 18. August 2020 E. 3.1.1 m.w.H.).
[39]
Claudia Blumer, Bundesgericht macht alternierende Obhut zur Regel,
Tagesanzeiger vom 10. Dezember 2020.
[40]
So hiess es z.B.: «In der Vernehmlassung ist gefordert worden,
den Grundsatz der alternierenden Obhut im Gesetz zu verankern.
(…) Aus den genannten Gründen erachtet es der Bundesrat
nicht als angezeigt, alle getrennt lebenden Eltern zu einer
alternierenden Obhut zu verpflichten» (Botschaft vom 29.
November 2013 zu einer Änderung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches [Kindesunterhalt; BBl 2014 529], S. 564 f.). Oder es wurde
suggeriert, bei einer «Regelfall-Lösung» würde
die alternierende Obhut «in allen Fällen» angeordnet
(Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement [EJPD], Alternierende Obhut: In vielen Fällen sinnvoll und gut
für das Kind, aber nicht in allen, 8. Dezember 2017).
[42]
Ausführlich dazu am Beispiel Spaniens: Diego Becerril
Ruíz / José Manuel Jiménez-Cabello, Legislation and
Family, Divorce and granting of custody, in: de Torres Perea / Kruk
/ Ortiz-Tallo (Hrsg.), The Routledge International Handbook of
Shared Parenting and the Best Interest of the Child, Oxon 2021, S.
157 ff.
[43]
In diesem Sinne wurde z.B. in der Lehre diskutiert, wie hoch die
Eingriffsschwelle für den Entzug der elterlichen Sorge (bzw.
wie stark die Vermutung z.G. der gemeinsamen elterlichen Sorge)
sein soll (Wilhelm Felder / Heinz Hausheer / Regina E.
Aebi-Müller / Erica Desch, Gemeinsame elterliche Sorge und
Kindeswohl, ZBJV 2014, S. 892 ff).
[44]
Warshak (Fn. 19), S. 59 (Konsenspunkt 1).
[46]
Hildegund Sünderhauf / Martin Widrig, Gemeinsame elterliche
Sorge und alternierende Obhut, Eine entwicklungspsychologische und
grundrechtliche Würdigung, AJP 2014, S. 903; Martin Widrig,
Alternierende Obhut, Leitprinzip des Unterhaltsrechts aus
grundrechtlicher Sicht, AJP 2013, S. 905 ff.; Zustimmend: Stephan
Bernard / Beda Meyer Löhrer, Kontakte des Kindes zu getrennt
lebenden Eltern - Skizze eines familienrechtlichen
Paradigmenwechsels, Jusletter vom 12. Mai 2014, Fn. 29.
[47]
So z.B. in Belgien, mehreren autonomem Gemeinschaften Spaniens oder
in den USA (z.B. Arizona).
[48]
William V. Fabricius / Michael Aaron / Faren R. Akins / John J.
Assini / Tracy McElroy, Parenting Time? An evaluation of Arizona's
new child custody statute, in: de Torres Perea / Kruk / Ortiz-Tallo
(Hrsg.), The Routledge International Handbook of Shared Parenting
and the Best Interest of the Child, Oxon 2021, S. 370 ff.
[53]
Braver (Fn. 29), S. 177.
[54]
Lamb (Fn. 52), S. 195 f.; Braver (Fn. 29), S. 177; Emery/Scott (Fn.
51), S. 76.
[58]
Joan B. Kelly,
Paternal Involvement and Child and Adolescent Adjustment after
Separation and Divorce: Current Research and Implications for
Policy and Practice, International Family Law, Policy and Practice 2014/1, S. 17 f.;
Für die wahrscheinlich umfassendste Übersicht aller
Studienergebnisse siehe: Linda Nielsen,
Joint versus sole physical custody: Children's outcomes
independent of parent-child relationships, income, and conflict
in 60 studies, Journal of Divorce & Remarriage 2018, S. 247 ff.
Zurückhaltender, allerdings ohne Berücksichtigung des
Grossteils der Ergebnisse der quantitativen Forschung: Michelle
Cottier / Eric D. Widmer / Sandrine Tornare / Myriam Girardin,
Interdisziplinäre Studie zur alternierenden Obhut
, Genf 2017, S. 28 ff. In der soweit ersichtlich einzigen
schweizerischen Studie mit einem erwähnenswerten Ergebnis zur
alternierenden Obhut waren Eltern, welche die alternierende Obhut
freiwillig vereinbarten, mit dieser Betreuungslösung
mehrheitlich sehr zufrieden (Andrea Büchler / Linus Cantieni /
Heidi Simoni, Die Regelung der elterlichen Sorge nach Scheidung de
lege ferenda - ein Vorschlag, Fampra.ch 2007, S. 210).
[59]
Kelly (Fn. 58), S. 17 f.
[61]
Roland Fankhauser, zit. nach: Blumer (Fn. 39).
[63]
Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (ZGB; SR 210).
[64]
Votum Ständerat Stadler, AB 2014 S 1120; Votum Ständerat
Janiak, AB 2014 S 1121 sowie 1122.
[65]
Ausführlich zu den Hintergründen, die zu den Bestimmungen
geführt haben siehe Votum Ständerat Janiak, AB 2014 S
1121.
[66]
Cottier et al. (Fn. 58), S. 18.
[68]
Votum Ständerat Stadler, AB 2015 S 188.
[69]
Votum Ständerat Stadler, AB 2015 S 188.
[70]
Votum Ständerat Stadler, AB 2014 S 1120; Votum
Bundesrätin Sommaruga, AB 2014 S 1122.
[71]
Statt vieler: Votum Ständerätin Savary, AB 2014 S 1120.
Vgl. auch: Votum Nationalrat Wehrli, AB 2005 N 1495.
[72]
Votum Ständerat Janiak, AB 2014 S 1121.
[73]
Votum Ständerat Stadler, AB 2014 S 1120; Votum Ständerat
Cramer, AB 2015 S 189.
[74]
Votum Ständerat Cramer, AB 2015 S 189.
[75]
Für Wege, um Unterhalt zuzusprechen, siehe Votum
Nationalrätin Schneider Schüttel, AB 2015 N 423; Votum
Ständerat Stadler, AB 2014 S 1120; Votum Ständerat
Janiak, AB 2014 S 1121. Eine Möglichkeit wäre auch die
Einführung eines «kompensatorischen Unterhalts», bei
welchem ein Elternteil für finanzielle Nachteile einer
vereinbarten Betreuungsregelung entschädigt würde.
[76]
AB 2015 S 189; siehe auch Votum Ständerat Engler, AB 2015 S
187.
[78]
Votum Bundesrätin Sommaruga, AB 2015 N 424.
[79]
Vgl. Votum Ständerat Engler, AB 2015 S 187.
[82]
Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), Doing Better for Families,
2011, Table 1.3, S. 41. Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass sich
das Armutsrisiko von Kindern in Alleinerziehendenhaushalten um den
Faktor drei und in «intakten» Familien um den Faktor vier
reduziert, wenn beide Eltern erwerbstätig sind.