Glücksspiel ist ein gewichtiger Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens. Aus Funden von Würfeln aus Knochen ist bekannt, dass Menschen bereits 3000 v.Chr. dem Glücksspiel nachgingen.[2] Dabei ist man sich seit langem im Klaren, dass Glücksspiel zu problematischem Verhalten und im Extremfall zu einer Sucht führen kann.[3] Seit Mitte der 1980er-Jahre hat das kommerzielle Glücksspiel ein beispielloses Wachstum erfahren, das sich mit dem weltweit expandierenden Zugang zum Online-Glücksspiel weiter verstärkt hat. Dieses Wachstum ist mit mehreren Problemen verbunden, wozu insbesondere eine signifikante Zunahme des pathologischen Glücksspiels gehört.[4] Hinzu kommt, dass die Glücksspielsucht oftmals im Zusammenhang mit Kriminalität steht.[5]
In der Schweiz ist problematisches Spielverhalten durchaus ein ernstzunehmendes Problem. So wird die Lebensprävalenz des pathologischen Glücksspiels auf 0.6% geschätzt.[6] Ebenso ist gerichtlich anerkannt, dass Spielsucht mit schwerwiegender Kriminalität zusammenhängen kann.[7] Ausserdem ist die Verhinderung von «Beschaffungskriminalität» ein wesentlicher Bestandteil der schweizerischen Gesetzgebung im Spielbanken- und Lotteriebereich.[8] Trotzdem ist die strafrechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Glücksspielsucht und Kriminalität gering. Die äusserst relevante Frage, ob und inwiefern die Glücksspielsucht eines Straftäters dessen Schuldfähigkeit beeinflusst, wird in der schweizerischen juristischen Lehre und Praxis wenig beachtet. Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag der Zusammenhang zwischen Glücksspiel und Kriminalität aufgearbeitet (II.), um daraus Folgerungen für die Schuldfähigkeit eines glücksspielsüchtigen Täters abzuleiten (III.), bevor der Aufsatz mit einem Schlusswort endet (IV.).
II. Glücksspielsucht und Kriminalität
1. Allgemeines zur Glücksspielsucht
Obschon die Frage, ob die Glücksspielsucht als eigenständiges Krankheitsbild behandelt werden sollte, kontrovers diskutiert wurde und noch heute nicht endgültig geklärt ist,[9] wurde das problematische Glücksspielverhalten 1980 von der American Psychological Association (APA) erstmals offiziell als psychische Krankheit anerkannt.[10] In der dritten Ausgabe des diagnostischen und statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-III), wurde die Krankheit unter der Bezeichnung pathologisches Glücksspiel in der Kategorie der Impulskontrollstörung aufgenommen. Fast 35 Jahre später wurden sowohl an der Klassifizierung als auch an der Bezeichnung Änderungen vorgenommen: Seit dem DSM-V wird von einer Glücksspielsucht[11] (gambling disorder) gesprochen, die in der Kategorie der Suchterkrankungen und verwandten Störungen eingeordnet ist.[12] Sie ist die einzige nicht-substanzbezogene Störung in dieser Kategorie.[13] Auch in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) wurde diesbezüglich mit der Veröffentlichung der aktuellen Version ICD-11 eine Anpassung vorgenommen. Die Glücksspielsucht wurde von den Impulskontrollstörungen zu den Störungen aufgrund von Substanzgebrauch oder Suchtverhalten (disorders due to substance use or addictive behaviours) verschoben.[14]
Die Anpassung der Klassifizierung beruht auf der wissenschaftsbasierten Erkenntnis, dass bedeutende Ähnlichkeiten zwischen Glücksspielsucht und substanzbezogenen Suchterkrankungen bestehen: Die Glücksspielsucht hat nicht nur eine ähnliche Symptomatik, sondern es bestehen auch genetische sowie physiologische Überschneidungen.[15] Letztere äussern sich beispielsweise im Erleben eines Rauschzustandes, der zu bedeutsamen Entzugserscheinungen wie Reizbarkeit, Antriebslosigkeit, Depression und vegetativen Reaktionen wie Schwitzen, Zittern und motorischer Unruhe führen kann.[16] Darüber hinaus ist eine hohe Komorbidität der Glücksspielsucht mit anderen substanzbezogenen Suchterkrankungen festzustellen.[17] Allerdings sind diese Einordnung der Glücksspielsucht und die eigenständige diagnostische Kategorie der Verhaltenssüchte insgesamt umstritten.[18] Für die forensisch-psychiatrische Beurteilung ist indessen nicht die nosologische Einordnung per se, sondern die konkrete psychopathologische Symptomatik entscheidend,[19] weshalb an dieser Stelle nicht vertieft auf diese Debatte einzugehen ist.
Das Störungsbild der Glücksspielsucht lässt sich anhand der geltenden diagnostischen Kriterien in folgende zentrale Punkte zusammenfassen: Dem Glücksspiel wird zunehmend eine höhere Bedeutung zugemessen, bis schliesslich nicht nur die Gedanken vom Glücksspiel eingenommen sind, sondern das gesamte Sozialleben davon beeinflusst bzw. beeinträchtigt wird. Trotz beträchtlicher negativer Konsequenzen (finanziell, gesundheitlich, emotional und in sozialen Beziehungen) wird das Glücksspiel weiter eskalierend betrieben, wobei Kontrollversuche immer wieder scheitern. Generell wird von einer Sucht gesprochen, sobald diese Zustände über einen Zeitraum von zwölf Monaten fortbestehen.[20]
2. Glücksspielsucht als Grund für Straftaten
Für eine strafrechtliche Einordnung der Glücksspielsucht ist entscheidend, wie diese mit kriminellem Verhalten zusammenhängt. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass eine Vielzahl von pathologischen Glücksspielern in kriminelle Aktivitäten verwickelt sind.[21] Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich keine universellen Kausalitäten feststellen lassen und dementsprechend Fragen zum genauen Wirkungsgefüge oftmals offenbleiben.[22] Dennoch wird die Glücksspielsucht im Allgemeinen auf drei Arten mit kriminellem Verhalten in Verbindung gebracht: (1.) Von einem instrumentalen Zusammenhang wird gesprochen, wenn Straftaten aufgrund der Glücksspielsucht begangen werden. (2.) Findet sich neben der Glücksspielsucht ein vermittelnder Faktor, der zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von kriminellem Verhalten beiträgt, so handelt es sich um eine ko-symptomatische Beziehung. (3.) Schliesslich kann auch lediglich eine zufällige Verbindung bestehen, namentlich wenn die Straftat keinen Zusammenhang zur Glücksspielsucht hat, ausser dass sie von einem pathologischen Spieler begangen wurde.[23] Insbesondere bei der erstgenannten Kategorie stellt sich für die strafrechtliche Beurteilung die Frage, wie intensiv der Zusammenhang zwischen der Glücksspielsucht und dem kriminellen Verhalten tatsächlich ist. Demzufolge liegt der Fokus der weiteren Ausführungen auf dieser Kategorie.
Da es sich beim Glücksspiel um eine kostenintensive Beschäftigung handelt, bei der grosse Verluste üblich sind, wenden sich pathologische Glücksspieler oft illegalen Wegen zu, um ihre Gewohnheit zu finanzieren. Daher werden Straftaten, die von pathologischen Glücksspielern begangen werden, meist als «Beschaffungskriminalität» bezeichnet.[24] Typischerweise handelt es sich um Straftaten gegen das Vermögen wie Veruntreuung, Diebstahl, Raub oder Betrug. Allerdings kommen auch andere Delikte wie Urkundenfälschung oder Steuerhinterziehung regelmässig vor.[25] Albanese führt dazu aus, dass entsprechende Delikte von pathologischen Spielern besonders häufig begangen werden, weil sie aufgrund der vermeintlichen Ersetzbarkeit von Geld als opferlose Taten rationalisiert bzw. als nicht so schwerwiegend wahrgenommen werden. Ausserdem werden Legitimierungsstrategien angewandt, indem etwa angenommen wird, den eigenen Lebensumständen nicht auf eine andere Weise entkommen zu können.[26] Eine systematische Übersichtsarbeit über neuere Studien zur Glücksspielkriminalität hebt hervor, dass gewaltfreie Straftaten zwar überwiegen, Gewaltverbrechen aber möglicherweise häufiger vorkommen als zunächst angenommen.[27]
Zur Erklärung, wie pathologische Glücksspieler zu Kriminellen werden, werden oftmals die verschiedenen Phasen der Sucht beigezogen. Gleich wie eine stoffgebundene Sucht entwickelt sich die Glücksspielsucht typischerweise in drei Phasen: (1.) Der erste Kontakt mit dem Glücksspiel ist mit positiven Erfahrungen (insbesondere Gewinnen) verbunden. (2.) Auf diese positiven Erfahrungen folgt eine Verlustphase, wobei typischerweise versucht wird, die Verluste durch zunehmende Investitionen auszugleichen. (3.) Bleiben solche Versuche erfolglos, tritt die Verzweiflungs- bzw. Suchtphase ein. Diese ist durch Kontrollverlust, Depressionen, Angstzustände, Persönlichkeitsveränderungen, suizidales Verhalten, soziale Entfremdung und nicht zuletzt kriminelles Verhalten geprägt.[28] Demzufolge wird angenommen, dass die mit Glücksspielsucht zusammenhängende Kriminalität oftmals aus Verzweiflung entsteht: Durch die gesteigerte Häufigkeit und Intensität des Spielverhaltens nimmt gerade in der Verzweiflungsphase der finanzielle Druck zu und das Hauptinteresse reduziert sich auf die Beschaffung von Mitteln zur weiteren Ermöglichung des Glücksspiels.[29] Kombiniert mit der fehlerhaften kognitiven Überzeugung pathologischer Spieler, dass die Fortsetzung des Glücksspiels ein legitimer Weg sei, um durch das anfängliche Glücksspiel ausgelöste Probleme zu lösen, verstärkt sich der Drang, ihre Gewohnheit fortzusetzen.[30] Dies kann dazu führen, dass die Person keinen anderen Weg mehr erkennt, als illegale Handlungen zu begehen, um an die dafür notwendigen finanziellen Mittel zu kommen.[31]
Hervorzuheben ist allerdings, dass sich Straftaten, die aufgrund einer Glücksspielsucht begangen wurden, nicht allein durch finanzielle Beweggründe erklären lassen.[32] So deuten gewisse Studien darauf hin, dass die Hauptursache für die von pathologischen Spielern begangenen Straftaten in deren Persönlichkeit und sozialen Bindungen liegt und nicht aus der Glücksspielsucht alleine hervorgehen.[33] Ein gewichtiges Problem besteht mitunter darin, dass pathologische Spieler ihre Situation als ein «nicht teilbares Problem» wahrnehmen. Weil die Spielsucht oftmals mit Scham oder Angst behaftet ist, wird das soziale Umfeld selten zur Hilfe beigezogen, um nebst der eigenen finanziellen und psychologischen Belastung nicht noch weitere Probleme zu schaffen. Auch dieser Umstand motiviert spielsüchtige Personen dazu, die auf der Glücksspielsucht beruhenden Probleme mittels krimineller Aktivitäten zu lösen.[34]
Psychophysiologische Variablen deuten zudem darauf hin, dass pathologische Spieler Schwierigkeiten bei der Risikoeinschätzung haben.[35] Dies lässt sich auch durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse stützen: Mehrere Studien zeigen auf, dass pathologische Glücksspieler Störungen von Hirnregionen aufweisen, die für das Entscheidungsvermögen verantwortlich sind.[36] Diese Beeinträchtigung korreliert positiv mit der Häufigkeit, mit der eine Person im Glücksspiel involviert ist: Je mehr eine Person Glücksspiele spielt, desto stärker ist ihr Entscheidungsvermögen beeinträchtigt. Dieses Defizit ist ausserdem mit einer «Insensibilität gegenüber zukünftigen Konsequenzen und einer Unfähigkeit, sich in die Zukunft zu projizieren»[37] verbunden und scheint durch eine höhere Sensitivität für monetäre Gewinne angetrieben zu werden.[38] Obwohl ein fehlerhaftes Entscheidungsvermögen nicht automatisch zu kriminellem Verhalten führt, unterstützen diese Befunde die Annahme, dass die Glücksspielsucht selbst als entscheidender Faktor für Beschaffungskriminalität anzusehen ist.
III. Die Schuldfähigkeit glücksspielsüchtiger Straftäter
Der enge Zusammenhang zwischen der Glücksspielsucht und einer damit einhergehenden Delinquenz führt in strafrechtlicher Hinsicht zur Frage, ob diese dazu führt, dass dem glücksspielsüchtigen Täter kein oder nur ein geringerer Vorwurf für seine Taten zu machen ist.[39] Es fragt sich mit anderen Worten, wie seine Schuld zu beurteilen ist. Ist ein Täter zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage, das Unrecht seiner Tat einzusehen (Einsichtsfähigkeit) oder gemäss dieser Einsicht zu handeln (Steuerungsfähigkeit),[40] so liegt eine Schuldunfähigkeit nach Art. 19 Abs. 1 StGB[41] vor. Waren Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit teilweise eingeschränkt, handelt es sich um eine verminderte Schuldfähigkeit nach Art. 19 Abs. 2 StGB.
Ob für die Feststellung einer ausgeschlossenen oder eingeschränkten Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit zwingend an die Diagnose einer psychischen Störung angeknüpft werden muss, ist Gegenstand einer laufenden Diskussion.[42] Im vorliegenden Kontext ist sie jedoch bedeutungslos, da die Glücksspielsucht zweifelsohne als psychische Störung einzuordnen ist.[43] Wichtig ist dabei, dass aus dem Vorliegen einer psychischen Störung - auch wenn es sich um eine schwere Ausprägung handelt - nicht direkt der Ausschluss oder die Verminderung der Einsichts- und/oder der Steuerungsfähigkeit gefolgert werden kann.[44] Entscheidend sind immer die konkreten Auswirkungen der Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Tatzeitpunkt.
1. Glücksspielsucht und Einsichtsfähigkeit
Die Einsichtsfähigkeit setzt voraus, dass der Täter die Realität der Umwelt erfassen und daraus Schlüsse auf Kausalbeziehungen ableiten kann. Es muss dem Täter möglich sein, die tatsächlichen Auswirkungen seines Verhaltens zu erkennen.[45] Entsprechend ist ihm die wesentliche Bedeutung seines Handelns bewusst.[46] Dazu muss der Täter auch eine gewisse Einsicht in soziale Normen haben, damit es ihm überhaupt möglich ist, zumindest in rudimentärster Weise rechtliche Auswirkungen seines Tuns abschätzen zu können.[47] Unerheblich ist, ob der Täter die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten zum Tatzeitpunkt tatsächlich genutzt hat oder nicht. Es geht lediglich darum, dass er generell im Besitz der fraglichen Fähigkeiten war und diese hätte einsetzen können.[48]
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die intellektuellen Funktionen sowie die Realitätswahrnehmung und damit die Fähigkeit, das Unrecht einer Handlung zu erkennen, durch eine Glücksspielsucht nicht beeinträchtigt werden.[49] Eine Ausnahme kann allerdings bestehen, wenn die Glücksspielsucht zu neurologischen Beeinträchtigungen geführt hat. So haben neurowissenschaftliche Studien ergeben, dass bei pathologischen Spielern vermehrt kognitive Defizite festzustellen sind.[50] Bedeutsam ist dabei insbesondere die Möglichkeit einer «verhältnismässig reduzierten Aktivierung des präfrontalen Kortex».[51] Da der präfrontale Kortex u.a. für moralische Urteile verantwortlich ist,[52] können entsprechende Störungen zur Reduktion oder im Extremfall zum Ausschluss der Einsichtsfähigkeit führen.[53] Darüber hinaus konnte mehrfach nachgewiesen werden, dass pathologische Glücksspieler vermehrt kognitive Verzerrungen aufweisen.[54] Dabei ist eine positive Korrelation zwischen dem Schweregrad der Glücksspielsucht und der Beeinträchtigung der Entscheidungsfindung festzustellen.[55] Derartige Verzerrungen können dazu führen, dass die allgemeine Wahrnehmung der Umwelt nur noch lose mit der Realität übereinstimmt.[56] Auch in dieser Hinsicht könnten sich in Ausnahmefällen Einschränkungen der Einsichtsfähigkeit ergeben.
2. Glücksspielsucht und Steuerungsfähigkeit
Unter dem Begriff Steuerungsfähigkeit wird verlangt, dass ein Täter in der Lage ist, sein eigenes Verhalten einsichtsgemäss zu steuern, das heisst, sich selber zu kontrollieren.[57] Gefordert wird die Fähigkeit, das Verhalten zum Tatzeitpunkt willentlich nach der Einsicht in die Folgen des Tuns auszurichten.[58] Um dies zu beurteilen, sind zum einen die Stärke der Willenskraft und zum anderen die Intensivität von erlebten Triebstrebungen sowie der Ablauf anderer unbewusster Prozesse massgebend.[59] Nicht gefordert ist, dass der Täter sein Verhalten während der Tat bewusst reflektiert.[60] In der Praxis ist die Steuerungsfähigkeit von grösserer Bedeutung als die Einsichtsfähigkeit, was damit zusammenhängt, dass sozialabweichendes Verhalten nicht sehr oft mit mangelnder Selbsterkenntnis zu tun hat; viel eher sind Schwierigkeiten in der eigenen Handlungskontrolle - bspw. indem Bedürfnisse nicht zurückgestellt werden, bis sie auf legale Weise befriedigt werden können - typische Ursachen von deliktischem Verhalten.[61]
Das beschriebene Krankheitsbild der Glücksspielsucht und dessen Zusammenhang mit strafbarem Verhalten legt nahe, dass es sich mehrheitlich um klassische Beschaffungskriminalität handelt.[62] Dabei ist vielfach auch die Handlungskontrolle des glücksspielsüchtigen Täters beeinträchtigt,[63] wobei drei Auswirkungen der Glücksspielsucht im Vordergrund stehen:
Zunächst ist eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit denkbar, wenn die Sucht zu einer schwerwiegenden Persönlichkeitsveränderung führte.[64] Bei einer Glücksspielsucht sind solche Veränderungen insbesondere zu berücksichtigen, wenn der betroffenen Person Strategien zur Lösung von Problemen fehlen und das Spielverhalten ein Symptom für einen unlösbaren Konflikt darstellt.[65] In der Folge kann es zu einem moralischen und sittlichen Verfall der Persönlichkeit kommen, der sich auf die Steuerungsfähigkeit auswirkt.[66] Auch bei einer durch die Sucht hervorgerufenen psychischen Funktionsbeeinträchtigung ist eine verminderte Steuerungsfähigkeit möglich.[67]
Daneben können schwere Entzugserscheinungen (sog. Craving) zum Tatzeitpunkt zur Einschränkung der Steuerungsfähigkeit führen.[68] Bei einer nicht stoffgebundenen Suchterkrankung, namentlich der Glücksspielsucht, ist das Craving dabei ausschliesslich emotional-motivationaler Natur. Die Person erlebt ein «übermässiges, rational nicht kontrollierbares Verlangen nach dem Konsum des Suchtmittels».[69] Ein solches Verlangen kann bei pathologischen Glücksspielern sowohl subjektiv als auch objektiv nachgewiesen werden[70] und hat regelmässig stark handlungsmotivierende Auswirkungen.[71] Zur Beurteilung, ob das Suchtverlangen zu einer Einschränkung der Steuerungsfähigkeit führte, ist das Ausmass des Cravings entscheidend. Je stärker die Entscheidungsfähigkeit des Täters eingeschränkt war, desto eher ist von einer verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen.[72] Das Ausmass des Suchtverlangens lässt sich dabei am ehesten aus den Beschreibungen des Denkens, Erlebens und Verhaltens des Täters im Vorfeld der Tat und zum Tatzeitpunkt ableiten.[73] Zur Beurteilung ist damit auch auf das Verhalten des Täters bzw. den Tatvorgang abzustellen. So spricht ein spontaner Tatentschluss und ein mit erheblichem Entdeckungsrisiko einhergehender Tatvorgang für einen durch die Glücksspielsucht hervorgerufenen erheblichen Motivationsdruck und damit für eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit.[74]
Schliesslich kann die bei einer Glücksspielsucht häufig vorhandene Impulsivität[75] zu einer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen. Als Impulsivität gilt dabei die Tendenz, «unüberlegt zu handeln, während man sich in einer Stresssituation befindet, […] neuartige und aufregende Erfahrungen zu suchen, […] zu handeln, ohne vorauszudenken [und] die Unfähigkeit, sich auf eine Aufgabe konzentrieren, wenn man abgelenkt wird».[76] Bei der Glücksspielsucht gilt die Impulsivität zunächst als Faktor, der eine Person anfällig für die Entwicklung der Sucht macht.[77] Daneben können die möglichen neurologischen Veränderungen bei pathologischen Spielern zu «unkontrolliertem Verhalten und Spieltrieb sowie zu Störungen der Feedbackverarbeitung»[78] führen. Gerade die bei glücksspielsüchtigen Personen häufig geringere Aktivität des präfrontalen Kortex[79] gilt als ursächlich für impulsives kriminelles Verhalten.[80] Eine hohe Impulsivität wird auch mit einer schnelleren Hinwendung zur Kriminalität und einer erhöhten Akzeptanz von fehlerhaften Vorstellungen (bspw. dass auf eine Verlustphase eine Gewinnphase folgen muss) in Verbindung gebracht.[81] Insgesamt kann damit die mit einer Glücksspielsucht einhergehende mangelnde Impulskontrolle zu einer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen.[82] Zur Beurteilung ist erneut zusätzlich auf das Verhalten des Täters abzustellen. Geht der Täter bei der Deliktsausübung planmässig und der jeweiligen Situation angepasst vor, so spricht dies gegen eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit.[83] Da in der Forensik zwischen der motivationalen Steuerungsfähigkeit (Abwägung über Kosten, Nutzen und Realisierbarkeit der Tat) und der exekutiven Steuerungsfähigkeit (Vorbereitung und sorgfältige Durchführung der Tat) unterschieden wird,[84] kann die Steuerungsfähigkeit allerdings auch bei einem planmässigen Vorgehen eingeschränkt sein.
In diesem Zusammenhang ist ausserdem zu beachten, dass die Glücksspielsucht zwar heute nicht mehr als Impulskontrollstörung gilt, solche Störungen aber häufig komorbid mit einer Glücksspielsucht auftreten.[85] Dementsprechend sollte bei der Beurteilung eines glücksspielsüchtigen Straftäters immer auch die Möglichkeit einer Impulskontrollstörung in Betracht gezogen werden.[86]
3. Zwischenfazit
Nach dem Ausgeführten ist festzuhalten, dass eine Spielsucht durchaus die Steuerungsfähigkeit eines Straftäters beeinträchtigen und damit zu einer verminderten Schuldfähigkeit führen kann. Dabei ist zunächst vorausgesetzt, dass es sich tatsächlich um eine Spielsucht - und nicht bloss um ein noch nicht krankhaftes übermässiges Spielen - handelt und diese einen erheblichen Zusammenhang mit den begangenen Straftaten aufweist.[87] Doch selbst wenn dies der Fall ist, besteht «keine automatische Veränderung der Beurteilung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit»[88]. Nur wenn es sich um eigentliche «Beschaffungskriminalität»[89], also um Delikte eines glücksspielsüchtigen Täters handelt, die begangen werden, um dem Glücksspiel weiter nachgehen zu können, dürfte sich die Sucht zumindest in einem gewissen Grad auf die Schuldfähigkeit des Täters auswirken.[90] Selbstredend gilt dies nur, wenn die Spielsucht zum Tatzeitpunkt bestand[91] und sich entscheidend auf die Lebensführung der betroffenen Person auswirkte.[92] Um dies zu beurteilen, fehlt dem Gericht die nötige Sachkompetenz, weshalb es dafür auf eine sachverständige Begutachtung zurückzugreifen hat. Im Rahmen dieser Begutachtung kommt wiederum der Quantifizierung der Auswirkungen der Glücksspielsucht auf die Einsichts- bzw. die Steuerungsfähigkeit entscheidende Bedeutung zu.[93]
Insoweit ist die durch Glücksspielsucht bedingte Strafbarkeit nicht anders als Beschaffungskriminalität von drogensüchtigen Personen zu behandeln. In diesem Zusammenhang ist durchwegs anerkannt, dass dies zu einer verminderten Schuldfähigkeit entsprechender Täter führen kann.[94]
IV. Schlusswort
Die Glücksspielsucht ist sowohl vom Störungsbild als auch von den persönlichen Auswirkungen her mit einer stoffgebundenen Sucht (z.B. einer Drogen- oder Alkoholsucht) vergleichbar. Dementsprechend wird sie nunmehr auch in den wichtigsten Klassifikationsinstrumenten für psychische Krankheiten als Suchterkrankung erfasst. Ebenso zeigt sich ein ähnlicher Zusammenhang mit kriminellem Verhalten: Immer wieder greifen spielsüchtige Personen auf illegale Mittel zurück, um sich das weitere Spielen zu ermöglichen. Es handelt sich somit also mehrheitlich um klassische Beschaffungskriminalität. Dabei können durch die Spielsucht verursachte Persönlichkeitsveränderungen, schwere Entzugserscheinungen sowie Impulsivität zu einer Einschränkung der Steuerungsfähigkeit und damit zu einer verminderten Schuldfähigkeit nach Art. 19 Abs. 2 StGB führen. Dieser Umstand bedeutet gleichzeitig, dass bei Hinweisen auf eine für die Begehung einer Straftat relevanten Glücksspielsucht eine Begutachtungspflicht nach Art. 20 StGB besteht.[95]
Führt eine Glücksspielsucht zur verminderten Schuldfähigkeit des Täters, so hat sich dies letztlich strafmildernd bzw. insbesondere strafmindernd auszuwirken.[96] Eine entsprechende Wirkung auf die Strafe kann aber bereits vorliegen, wenn die Auswirkungen der Spielsucht nicht so intensiv sind, dass sie eine eigentliche verminderte Schuldfähigkeit zur Folge haben. Die durch die Spielsucht hervorgerufene Erschwerung der Handlungskontrolle ist bei der konkreten Strafzumessung nach Art. 47 StGB zumindest in geringem Ausmass strafmindernd zu berücksichtigen.[97]
Im Rahmen der Sanktionierung ist schliesslich anzumerken, dass die mit einer Glücksspielsucht einhergehenden Rückfallgefahr dazu führen kann, dass - sofern alle entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind[98] - gegenüber dem Täter eine Massnahme nach Art. 60 StGB angeordnet werden kann. So wurde der Wortlaut dieser Bestimmung explizit auf Abhängigkeiten «in anderer Weise», wozu auch die Spielsucht zählt, erweitert.[99] Diese Erweiterung - und insbesondere die damit einhergehende Anwendung von Art. 60 StGB auf spielsüchtige Täter - wird zuweilen kritisiert und es wird die Anwendung einer Massnahme nach Art. 59 StGB als passender erachtet.[100] Im Einklang mit der eingangs beschriebenen Neuklassifikation der Spielsucht als eigentliche Suchterkrankung erscheint es indessen richtig, die Spielsucht als Abhängigkeit i.S.v. Art. 60 StGB zu behandeln und gegebenenfalls eine entsprechende Massnahme anzuordnen. Entscheidend - und für den Therapieerfolg unumgänglich - ist zu gewährleisten, dass geeignete Einrichtungen bestehen und sinnvolle Therapiekonzepte angewendet werden.[101] Eine ambulante Therapie im ordentlichen Strafvollzug scheint dabei nicht die gewünschten Therapieerfolge zu ermöglichen, da Glücksspiel als Freizeitbeschäftigung in Strafvollzugsanstalten weit verbreitet ist.[102]
Insgesamt erscheint es angebracht, dass die aktuellen medizinischen, psychologischen bzw. neurologischen Erkenntnisse über die Spielsucht - und damit deren Behandlung als Suchterkrankung - auch im Strafrecht berücksichtigt werden.[103] Dass die Praxis davon noch ein gewichtiges Stück entfernt ist, zeigt sich exemplarisch am Vergleich mit der Beschaffungskriminalität von drogensüchtigen Personen. Bei dieser gehört eine gesonderte Prüfung der Beschaffungskriminalität - und den dabei einhergehenden möglichen Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit des Täters - quasi zum «Standardprogramm».[104] Bei spielsüchtigen Tätern werden entsprechende Vorbringen demgegenüber zumeist abgelehnt.[105] Nur wenn die Praxis in Zukunft auf eine unterschiedliche Behandlung von Spielsucht und Drogensucht verzichtet und sich bei der Beschaffungskriminalität von spielsüchtigen Tätern ausführlich mit den Auswirkungen der Sucht auf Steuerungs- und allenfalls Einsichtsfähigkeit beschäftigt,[106] kann gewährleistet werden, dass spielsüchtige Täter sachgerecht be- bzw. verurteilt werden und ihre Sanktionierung nicht zur Lotterie wird.