Der Begriff «Alienation» existiert auch im Deutschen
Sprachgebrauch. Nach Duden ist er ein Synonym des Begriffs
«Entfremdung» und beschreibt eine «besondere Form der
Psychose, die durch das Fremdwerden von Personen, Sachen oder Situationen
gekennzeichnet ist».[8]
Der besseren Verständlichkeit halber werden hier die deutschsprachigen
Begriffe analog zum englischsprachigen Usus verwendet.
Nach der Darstellung des Sachverhalts und der Prozessgeschichte (II.) wird
das Urteil des EGMR zusammengefasst (III.), analysiert (IV.) und durch
einige Hinweise ergänzt (V.). Der Aufsatz endet mit einem Fazit und
Ausblick (VI.).
II. Zusammenfassung des Sachverhalts und der Prozessgeschichte
Nachfolgend werden die für die Begründung des Entscheids
relevanten Aspekte des Sachverhalts und der Prozessgeschichte
zusammengetragen, die zum Urteil Pisică gegen Moldawien
geführt haben. Das erste Kapitel erörtert die Familiengeschichte
und das Sorgerechtsverfahren (II.1.), das zweite beschreibt die
fehlgeschlagene Vollstreckung der Sorgerechtsurteile (II.2.). Ein erst im
Jahre 2018 eingeleitetes und inzwischen abgeschlossenes zweites
Sorgerechtsverfahren hat der EGMR nicht beurteilt und wird darum nicht
weiter beachtet.[9]
1. Die Scheidung und das Sorgerechtsverfahren
Die Beschwerdeführerin heiratete im Jahre 2002 P. und gebar im
Folgejahr einen Sohn. Die Scheidung der Eheleute erfolgte im Jahre 2006.
Sie erhielt die elterliche Sorge über das Kind.[10]
Die Familie zog jedoch im selben Jahr wieder zusammen und hatte im
Folgejahr Zwillingssöhne.[11]
a) Einleitung erster Verfahren
Im Jahre 2012 verliess die Mutter mit den Kindern das Familienheim.[12]
Ende Juli 2013 holte der Vater die Zwillinge wieder zu sich.[13]
Darauf gelangte die Beschwerdeführerin ans Gericht und verlangte die
elterliche Sorge über die Zwillinge. Sie bat das Gericht zugleich um
Eile, da sie sich sicher war, dass der Vater die Kinder manipuliere und
gegen sie aufwiegele.[14]
Sie äusserte diese Befürchtungen auch gegenüber der Polizei
sowie der mit dem Schutz der Kinder betrauten Familienschutzbehörde
und beklagte sich über eingeschränkten Kontakt zu ihren Kindern.[15]
b) Missachtetes Kontaktverbot
Anfang September 2013 brachte der Vater die Kinder zur
Beschwerdeführerin zurück.[16]
Wenige Tage später erliess das Gericht eine von der Mutter beantragte
Schutzanordnung, welche dem Vater den Kontakt zur Beschwerdeführerin
und den Kindern für drei Monate untersagte.[17]
Das Verbot wurde, auf Antrag, Ende Dezember, um drei Monate
verlängert.[18]
Der Vater nahm mit seinen Kindern trotzdem Kontakt auf und holte sie
wiederholt zu sich nach Hause.[19]
Die Mutter beklagte sich diesbezüglich im Januar 2014 bei der
Staatsanwaltschaft, diese trat jedoch nicht auf ihr Anliegen ein.[20]
Ein im Hinblick auf das laufende Sorgerechtsverfahren erlassener Bericht
der Familienschutzbehörde[21]
vom 30. Januar 2014 ergab, dass beide Eltern fähig und willig waren,
ihre Kinder zu erziehen,
sowie dass die Kinder beide Eltern liebten und beiden nahe bleiben
wollten.[22]
c) Vereitelung des Kontakts zur Mutter
Von April bis August 2014 brachte der Vater einen Sohn nach dem anderen zu
sich und vereitelte den Kontakt zwischen ihnen und der Mutter.[23]
Die Beschwerdeführerin beklagte sich mehrfach erfolglos bei der
Polizei und anderen Behörden über diese Vorkommnisse, die
Befürchtung, dass der Vater die Kinder gegen sie aufhetze, sowie den
Umstand, dass er sich ihr gegenüber aggressiv verhalte und gedroht
habe, ihr die Kinder wegzunehmen.[24]
Beim Gericht beantragte sie im Juli 2014, diesmal erfolglos, ein weiteres
Kontaktverbot.[25]
Ihr Gesuch um Beschleunigung des Sorgerechtsverfahrens wurde abgelehnt.[26]
Zudem wurde der Fall an ein neues erstinstanzliches Gericht transferiert,
da sich bereits alle Richterinnen und Richter des ersten Gerichts mit dem
Fall befasst hatten.[27]
d) Psychologische Gutachten
Am 19. November 2014 erschien ein weiterer Bericht der
Familienschutzbehörde, der zum Ergebnis kam, dass das psychologische
Wohl der Kinder ernsthaft bedroht sei: Ihr ursprüngliches
Wohlwollen gegenüber beiden Eltern habe sich radikal
verändert.[28]
Die Behörde empfahl ein psychologisches Expertengutachten einzuholen
und die Kinder für einen Monat fremd zu platzieren, um sie, ohne
Einfluss der Eltern, psychologisch zu betreuen.[29]
Das Expertengutachten erschien Anfang Dezember 2014. Es kam zum Ergebnis,
dass die Kinder in den Elternkonflikt hineingezogen wurden, dass die
ursprünglich positive Haltung der Kinder gegenüber der Mutter
wegen der Beeinflussung durch den Vater schlecht geworden sei, die Verhinderung des Kontakts zur Mutter eine Form des emotionalen Missbrauchs darstelle und jegliche
Treffen mit der Mutter für die Kinder traumatisierend wären,
solange diese beim Vater lebten.[30]
Im Folgemonat präsentierte die Familienschutzbehörde weitere
Erkenntnisse, welche die bisherigen bestätigten.[31]
e) Entscheide im Sorgerechtsverfahren
Das neu zuständige Bezirksgericht lehnte die Empfehlung zur
Fremdplatzierung am 6. Februar 2015 ab und übertrug die elterliche
Sorge über die Zwillinge auf den Vater. Die zweite Instanz kassierte
den Entscheid am 24. Juni 2015 und übertrug das Sorgerecht auf die
Mutter. Das Urteil wurde am 11. November 2015 von der letzten Instanz
bestätigt und damit rechtskräftig.[32]
Trotz des Urteils vom 24. Juni 2015 verweigerte der Vater Kindern und
Mutter weiterhin den Kontakt. Die Mutter beklagte sich erfolglos bei der
Polizei und der Staatsanwaltschaft.[33]
Sie verlangte psychologische Hilfe für die Kinder, da diese am «Parental Alienation Syndrome» (PAS) leiden würden,
weil die Behörden zu nachlässig gewesen seien.[34]
Zudem reichte sie einen Strafantrag gegen den Vater ein.[35]
2. Versuche zur Vollstreckung des Urteils
Am 19. Januar 2016 verlangte die Beschwerdeführerin die Vollstreckung
des Sorgerechtsentscheids.[36]
Der zuständige Beamte lud den Vater sogleich ein, das Urteil zu
befolgen, blieb damit aber erfolglos.[37]
Ein Versuch vom 9. Februar 2016, die Kinder abzuholen, schlug fehl, da
diese sich weigerten mitzugehen.[38]
Darüber beklagte sich die Beschwerdeführerin bei mehreren
weiteren Behörden und verlangte eine Fremdplatzierung der Kinder.[39]
Der zuständige Beamte blieb danach ein ganzes Jahr lang untätig,
da er glaubte, dass für weitere Handlungen eine gerichtliche Erlaubnis
notwendig sei; erst im Januar 2017 stellte sich heraus, dass er sich
diesbezüglich geirrt hatte.[40]
Am 29. Februar 2016 leitete die Staatsanwaltschaft, auf Klage der Mutter
über häusliche Gewalt in Form emotionalen Kindsmissbrauchs, eine
Strafuntersuchung gegen den Vater ein.[41]
Der Fall wurde im Januar 2017 ans Gericht weitergeleitet und war bei
Abschluss der Parteianhörungen durch den EGMR im Jahre 2018 noch
hängig.[42]
Am 15. Dezember 2016 erwirkte die Staatsanwaltschaft abermals ein
dreimonatiges Kontaktverbot für den Vater.[43]
Am Folgetag versuchte die Beschwerdeführerin, in Begleitung von
Beamten, die Kinder von der Schule abzuholen und zu sich nach Hause zu
bringen.[44]
Der Versuch schlug jedoch fehl, da die Schule und die lokalen Behörden
dies verhinderten.[45]
Der zuständige Vertreter der Behörden ordnete schliesslich an,
dass die Kinder vorübergehend bei den Eltern des Vaters leben sollten.[46]
Vier Tage später misslang ein weiterer Vollstreckungsversuch.[47]
Am 27. Januar und am 3. Februar 2017 wiesen die Lokalbehörden die
Mutter an, mehr Interesse am psychologischen Befinden ihrer Kinder zu
zeigen und zu kooperieren, um wichtige Entscheidungen nicht zu vereiteln.[48]
Am 6. Februar 2017 präsentierte eine Psychologin ihren Befund, dass
die Trennung vom Vater allen drei Kindern ernsthaft zusetze und jegliche
Handlungen zur Wiedervereinigung der Mutter mit den Kindern verfrüht
seien.[49]
Die Kinder machten die Mutter für die Trennung von ihrem Vater
verantwortlich und seien ihr klar abgeneigt.[50]
Im Februar 2017 fanden im Hinblick auf die Urteilsvollstreckung mehrere
Schlichtungsverhandlungen zwischen der Beschwerdeführerin und dem
Vater statt.[51]
Im Juni scheiterte ein weiterer Durchsetzungsversuch, obwohl der Vater die
Kinder dazu ermutigte, mit der Mutter mitzugehen.[52]
Im Juni und September 2017 kam es zu weiteren Treffen der Behörden, um
Möglichkeiten zu finden, um die Beziehung zwischen der Mutter und
ihren Kindern wiederherzustellen.[53]
III. Rechtliche Würdigung durch den EGMR
Der EGMR trat auf die Beschwerde ein.[54]
Nachfolgend werden die Parteianträge (III.1), die allgemein
herangezogenen Prinzipien (III.2) sowie deren Anwendung auf den konkreten
Fall (III.3) beschrieben.
1. Die Parteianträge
Die Beschwerdeführerin rügte einerseits das Versagen der
moldawischen Behörden, das Urteil vom 24. Juni 2015, welches ihr die
elterliche Sorge über die beiden jüngeren Kinder übertrug,
zu vollstrecken.[55]
Andererseits bemängelte sie, dass die Behörden es nicht geschafft
hatten, ihrer positiven Pflicht aus Art. 8 EMRK[56]
nachzukommen, den durch die Alienation verursachten emotionalen Missbrauch
der Kinder zu verhindern.[57]
Die moldawische Regierung machte diesbezüglich geltend, dass sie
sämtliche verhältnismässige Massnahmen getroffen habe, um
das Urteil vom 24. Juni 2015 durchzusetzen.[58]
Die Verzögerung bis im Januar 2016 sei darauf
zurückzuführen, dass das Urteil zuvor noch nicht
rechtskräftig gewesen sei.[59]
Zudem sei die Pflicht der Wiedervereinigung der Eltern mit den Kindern
nicht absolut.[60]
Das Misslingen der Wiedervereinigung sei primär auf die Weigerung der
Kinder und das mangelhafte Engagement der Mutter, die Beziehung zu den
Kindern wieder aufzubauen, zurückzuführen.[61]
Der Vater habe sie am Wiederaufbau der Beziehung nicht gehindert und die
Kinder sogar ermutigt, mit ihr mitzugehen.[62]
2. Allgemeine Grundsätze
In seinen allgemeinen Erwägungen erinnert der EGMR an den
Geltungsbereich des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens (III.2.a), die
Bedeutung des Kindeswohls und des Kindeswillens (III.2.b) sowie besondere
Pflichten zum Schutze der Beziehung zwischen Eltern und Kindern (III.2.c).
a) Geltungsbereich des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens
Art. 8 EMRK
schützt Individuen in erster Linie vor willkürlichen Eingriffen
durch staatliche Behörden. Aus dem Anspruch erwachsen für den
Staat aber auch positive Pflichten, die ein effektives Familienleben erst
ermöglichen. In Fällen, die elterliche Kontaktrechte betreffen,
ist ein Staat prinzipiell verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, die darauf
abzielen, die Eltern mit ihren Kindern zu vereinigen sowie Treffen zu
ermöglichen, sofern das Kindeswohl dies erfordert.[63]
Diese Verpflichtung ist begrenzt, da die Zusammenführung eines
Elternteils und eines Kindes, das während einer gewissen Zeit mit
anderen Personen gelebt hat, unter Umständen nicht sofort erfolgen und
vorbereitende Handlungen erfordern kann. Entscheidend ist, ob die
Behörden alle notwendigen Massnahmen treffen, um den Kontakt zu
ermöglichen, die aufgrund der spezifischen Umstände im Einzelfall
vernünftigerweise erwartet werden dürfen.[64]
b) Bedeutung des Kindeswohls und des Kindeswillens
Gegenwärtig existiert ein breiter Konsens bezüglich der
«Idee», dass in allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das
Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Das Kindeswohl kann, je
nach Art und Umständen eines Falles, elterlichen Interessen vorgehen.
Insbesondere kann ein Elternteil aus Art. 8 EMRK kein Recht auf
Massnahmen ableiten, welche die Gesundheit oder Entwicklung des Kindes
gefährden.[65]
Allerdings ist auch der Wille des Kindes, der stets berücksichtigt
werden muss, nicht unantastbar. Einwänden von Kindern ist in
angemessener Weise Rechnung zu tragen, doch überwiegen sie nicht
notwendigerweise elterlichen Interessen - vor allem nicht dem Interesse,
regelmässige Kontakte mit dem Kind zu pflegen. Das Recht des Kindes,
seine Wünsche zu äussern, sollte insbesondere nicht als ein
bedingungsloses Vetorecht verstanden werden, das die Berücksichtigung
anderer Faktoren und die Ermittlung des Kindeswohls automatisch
ausschliesst.[66]
c) Besondere Sorgfaltspflicht bei dringendem Schutzbedarf für
Beziehungen
In Fällen, welche die Beziehung einer Person zu ihrem Kind betreffen,
sind Staaten verpflichtet, im Hinblick auf das Risiko, dass bei
verstrichener Zeit entscheidende Fakten geschaffen werden, äusserst
sorgfältig zu handeln.[67]
3. Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall
Zu prüfen blieb letztlich die Frage, ob die lokalen Behörden
ihren positiven Pflichten aus Art. 8 EMRK nachgekommen sind oder
nicht.[68]
Dafür berücksichtigte der EGMR die massgebenden Elemente des
gesamten Verfahrens, also nicht lediglich diejenigen des
Durchsetzungsverfahrens.[69]
Die für den Entscheid des EGMR massgebenden Erwägungen und
Folgerungen sind hiernach zusammengefasst.
a) Kenntnis der Gefahr durch die Behörden
Während des Sorgerechtsverfahrens hat sich die Mutter zwischen Juli
2013 und November 2015 neun Mal bei den Behörden über das
Verhalten des Vaters beklagt. Sie teilte mit, dass sie glaube, dass der
Vater Handlungen vornehme, die darauf abzielten, die Kinder von ihr zu
entfremden, indem er diese manipuliere und gegen sie aufbringe. Dabei
klagte sie auf verschiedene Weisen. Folglich mussten die Behörden ihre
Vorwürfe kennen.[70]
Aufgrund der Beschwerden wussten die Behörden auch, dass die Kinder
gegen den Willen der Mutter bei ihrem Vater waren. Damit hatte er die
Möglichkeit, die Kinder zu beeinflussen. Zu erwähnen ist dabei
der Umstand, dass die Kinder während der ersten psychologischen
Untersuchung im Frühjahr 2014 beide Eltern noch gleichermassen
liebten. Bis zum November 2014 hatte sich ihre Haltung aber geändert:
Die Kinder lehnten ihre Mutter ab. Aufgrund der Klagen der
Beschwerdeführerin und der psychologischen Gutachten, welche die
Richtigkeit ihrer Aussagen bestätigten, mussten die Behörden
wissen, dass die Handlungen des Vaters die künftigen Beziehungen
zwischen der Beschwerdeführerin und den Kindern ernsthaft
gefährden.[71]
b) Fehlende Massnahmen
Nach der ersten psychologischen Untersuchung der Kinder im Januar 2014
fanden während fast zehn Monaten keine Nachuntersuchungen statt,
obwohl sich die Beschwerdeführerin bei zahlreichen Gelegenheiten
über das Verhalten des Vaters beklagt hatte. Als im November 2014 eine
neue Untersuchung aufdeckte, dass die Kinder ihre Mutter ablehnten, empfahl
die Familienschutzbehörde die Kinder vorübergehend von beiden
Eltern zu trennen, um ihnen, ohne Einfluss der Eltern, psychologische
Unterstützung zu bieten. Der Empfehlung wurde nie Folge geleistet,
obwohl eine weitere Untersuchung im Dezember 2014 ergab, dass die
Alienation der Kinder von ihrer Mutter, das Ergebnis der Handlungen des
Vaters, eine emotionale Misshandlung der Kinder sei.[72]
In Anbetracht der fehlenden Massnahmen zum Schutze der Kinder vor dem emotionalen Missbrauch hatte die Beschwerdeführerin die ihr
verfügbaren Mittel ausgeschöpft. Dies waren namentlich Klagen an
die Behörden und Gesuche um Schutzanordnungen, welche dem Vater den
Kontakt zu den Kindern untersagten. Obwohl zwar Kontaktverbote erlassen
wurden, konnte der Vater seine Kinder weiterhin kontaktieren und zu sich
nach Hause nehmen. Dabei fällt auf, dass der Staatsanwalt, als er im
Jahre 2016 endlich eine strafrechtliche Untersuchung gegen den Vater
einleitete, neun frühere Entscheide annullierte, die genau dies
abgelehnt hatten.[73]
Beachtlich ist schliesslich, dass der von der Familienschutzbehörde
empfohlene Zeitplan für Kontakte, der vorsah, dass sich die Kinder
alternierend bei beiden Eltern aufhielten, vom Vater, der die Kinder bei
sich behielt, nicht eingehalten wurde.[74]
c) Sorgfaltspflichtverletzung wegen langer Verfahrensdauer trotz
Dringlichkeit
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Entfremdung der Kinder von der Mutter
verlangte diese seit Juli 2013, dass das Gericht das Sorgerechtsverfahren
rasch entscheide. Trotzdem brauchte das erstinstanzliche Gericht eineinhalb
Jahre für sein Urteil. Dies verlängerte die Zeitspanne,
während der die Beschwerdeführerin keine bedeutsamen Kontakte mit
ihren beiden Kindern pflegen konnte, währenddem es dem Vater weiterhin
möglich war, die Kinder von ihr zu alienieren. Diese Verzögerung
widerspricht dem Prinzip der äussersten Sorgfalt, auf welches
in Randnummer 66 hingewiesen wurde.[75]
d) Mangelhafte Durchsetzung des Sorgerechtsentscheids
Bei der Durchsetzung des Entscheids blieben die Behörden «nicht
mehr total passiv» und tätigten mehrere relevante Massnahmen.[76]
Insbesondere setzte der für die Durchsetzung des Entscheids
zuständige Beamte dem Vater sofort eine Frist, um das Urteil
freiwillig zu befolgen, als die Beschwerdeführerin dies beantragte.
Nachdem der Vater der Aufforderung nicht nachkam, begleitete der Beamte die
Beschwerdeführerin mit einer Psychologin und spezialisierten
Behörden am 9. Februar 2016 zum Haus des Vaters, um das Urteil zu
vollstrecken. Dies gelang darum nicht, weil sich die Kinder dagegen
wehrten, das Haus des Vaters zu verlassen. Schliesslich wurde auf Antrag
der Beschwerdeführerin am 29. Februar 2016 eine Strafuntersuchung
wegen emotionalen Missbrauchs der Kinder gegen den Vater eingeleitet.[77]
Allerdings blieben die Behörden nach dem ersten Versuch, das Urteil
durchzusetzen, inaktiv. Die Ausnahme bildete derjenige Beamte, der für
die Durchsetzung des Urteils zuständig war und beim Gericht
beantragte, Zugang zum Hause des Vaters zu erzwingen, obwohl ihm dieses
Recht bereits zustand. Bis zur nächsten Massnahme dauerte es 10 Monate
(bis Dezember 2016), als ein Gericht eine Schutzanordnung ausstellte,
welche dem Vater den Kontakt zu den Kindern untersagte.[78]
e) Fehlende Überprüfung staatlicher Handlungen
Kurz darauf kam es in der Schule der Kinder zu einem weiteren Versuch, die
Kinder davon zu überzeugen, zu ihrer Mutter zu gehen. Aufgrund des
mangelnden direkten Kontakts mit allen Involvierten konnte der EGMR nicht
beurteilen, welche Auswirkungen die einzelnen Handlungen der involvierten
Behörden hatten - z.B. dass die Eltern des Vaters kommen und die
Kinder beeinflussen durften, wie es die Beschwerdeführerin schilderte.
Allerdings scheint keine nationale Behörde die Situation an diesem Tag
analysiert zu haben, um zu ermitteln, ob die fehlgeschlagene Vereinigung
der Beschwerdeführerin mit ihren Kindern zumindest teilweise auf die
Handlungen der Involvierten und nicht nur der Verweigerung der Kinder zu
kooperieren zurückzuführen ist.[79]
Danach erfolgten zwei weitere Versuche, die Kinder zur Mutter zu bringen,
aber die Kinder weigerten sich in beiden Fällen, mit der Mutter
mitzugehen.[80]
f) Fehlende Beweise für Bemühungen der Behörden
Der EGMR akzeptierte, dass die Weigerung der Kinder, bei der Mutter zu
bleiben, eine schwierige Situation darstellte, die einer Vielzahl komplexer
Massnahmen bedurfte, um die Kinder mit der Beschwerdeführerin zu
vereinen. Die Implementierung solcher Massnahmen hätte gewiss Zeit in
Anspruch genommen. Doch im Gegensatz zu den ernsthaften Bemühungen, im
Jahr 2017 eine Lösung zu finden, gibt es keine Belege dafür, dass
solche Massnahmen im Jahr 2016 getroffen wurden. Für diese scheinbar
fehlende Aktivität der Behörden lieferte die Regierung keine
Erklärung.[81]
g) Folgerungen des EGMR
Der EGMR vertrat die Ansicht, dass die Alienation der Kinder der
Beschwerdeführerin, worüber sich letztere bereits vor Erlass
aller Sorgerechtsentscheide beklagt hatte, ein massgeblicher Grund
dafür war, dass das Urteil vom 24. Juni 2015 nicht durchgesetzt werden
konnte. Das behördliche Versagen, auf die Klagen der
Beschwerdeführerin einzugehen und das Sorgerechtsverfahren rasch zu
entscheiden, habe substanziell zu den späteren Schwierigkeiten, das
Urteil durchzusetzen, beigetragen.[82]
Darüber hinaus versuchten die Behörden im ersten Jahr des
Durchsetzungsverfahrens lediglich zweimal, das Urteil durchzusetzen. Noch
wichtiger ist, dass diese Versuche im Jahr 2016 ohne psychologische
Vorbereitung der Kinder oder Eltern stattfanden, obwohl dies notwendig
gewesen wäre, da «klare Anzeichen dafür bestanden, dass die
Kinder psychologisch von ihrer Mutter alieniert» wurden.[83]
Im Lichte dieser Erwägungen kam der EGMR zum Schluss, dass die
nationalen Behörden im vorliegenden Fall nicht mit der erforderlichen
besonderen Sorgfalt gehandelt haben oder den positiven Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK nachgekommen sind.
Darum wurde im vorliegenden Fall gegen Art. 8 EMRK verstossen.[84]
IV. Analyse
Nachfolgend wird die Bedeutung der Entscheidung des EGMR auf den Umgang mit
Fällen von «parental alienation» in der Rechtspraxis
aufgezeigt.
1. Bekenntnis zu «Parental Alienation»
Der EGMR spricht in seinen Erwägungen wie auch in der Regeste explizit
vom von seiner Mutter «alienierten Kind (alienated child)».[85]
Zudem erwähnt das Gericht sowohl in den Erwägungen als auch in
seiner Medienmitteilung, dass der Vater die Kinder von ihrer Mutter durch
sein Verhalten alienierte (parental alienation behaviour).[86]
Es führte aus, dass die Alienation der Kinder die Durchsetzung des
Urteils massgeblich behinderte und dass das Versagen, auf die Klagen der
Mutter zeitnah zu reagieren, zum Problem beigetragen habe.[87]
Zudem kritisierten die Richterinnen und Richter, dass vor der Durchsetzung
des Urteils keine vorbereitenden Massnahmen getroffen wurden, obwohl klare
Anzeichen dafür bestanden, dass die Kinder «psychologisch von ihrer Mutter alieniert wurden».[88]
Damit anerkennt das Gericht im besprochenen Urteil zum einen das
Phänomen des «alienierten Kindes» und zum anderen, dass ein
Elternteil durch sein Verhalten Kinder alienieren kann (alienierendes
Verhalten).
2. «Parental Alienation» als Form emotionalen
Kindesmissbrauchs
Der EGMR verweist in seinen Erwägungen auf ein Gutachten, welches zum
Schluss kam, dass die Alienation der Kinder von ihrer Mutter emotionaler Missbrauch sei.[89]
In der Folgeerwägung führt er aus, dass die
Beschwerdeführerin vor dem Hintergrund, dass keine Massnahmen
existierten, um
«die Kinder vor dem sich gegenwärtig abspielenden emotionalen
Missbrauch zu schützen», die ihr verfügbaren Massnahmen getroffen habe.[90]
Das Gericht bezieht sich in seiner Aussage auf die Alienation der Kinder
und bezeichnet sie als emotionalen Missbrauch, womit es «Parental
Alienation» als Form emotionalen Missbrauchs anerkennt.
3. Fremdplatzierung als vertretbare Massnahme
Der EGMR verweist explizit auf die Empfehlung der
Familienschutzbehörde, die Kinder vorübergehend von beiden Eltern
zu trennen, um sie psychologisch zu betreuen, und bemängelt, dass
diese Empfehlung, trotz eines weiteren Gutachtens, welches die Alienation
der Kinder als emotionalen Missbrauch qualifizierte, nie befolgt wurde.[91]
Dass der EGMR explizit auf diese Empfehlung verweist und sie nicht zugleich
als falsch kritisiert, dürfte bedeuten, dass der EGMR, im vorliegenden
Fall, die Fremdplatzierung für eine vertretbare Massnahme erachtete.
Eine Fremdplatzierung ist somit, im Lichte dieses Urteils, eine in
Erwägung zu ziehende aktive Interventionsmassnahme zum Kinderschutz.
Das Gericht weist im vorliegenden Urteil ausserdem explizit darauf hin,
dass die mit der Durchsetzung des Sorgerechtsentscheids verbundene
Obhutsübertragung vom Vater an die Mutter wegen klarer Anzeichen einer
Alienation komplexe Vorbereitungshandlungen erfordert hätte und
bemängelt, dass keine solchen vorgenommen wurden.[92]
Dies dürfte zum einen bedeuten, dass der EGMR davon ausgeht, dass eine
Obhutsübertragung unter diesen Umständen komplexer
Vorbereitungshandlungen bedarf, zum anderen, dass er solche gegebenenfalls
auch erwartet.
4. Besondere Pflicht zur sorgfältigen Handhabung
Die urteilenden Richterinnen und Richter vertreten die Ansicht, dass die
moldawischen Behörden den vorliegenden Fall zu unsorgfältig und
zu langsam behandelt haben.[93]
Sie erwogen, dass das Versagen, rasch zu handeln, massgeblich zu den
Problemen beigetragen habe[94]
und erachteten das Verhalten der Behörden vor dem
Durchsetzungsverfahren für «total passiv».[95]
Schliesslich bemängelte das Gericht, dass die Regierung weder
dargelegt noch erklärt hat, wieso namentlich im Jahre 2016 zu wenig
Massnahmen getroffen wurden.[96]
Nach dem vorliegenden Urteil müssen Behörden erstens handeln, sie müssen zweitens rasch handeln und
drittens belegen können, dass sie die notwendigen Massnahmen
getroffen haben.
5. Betroffene, die PAS-Vorwürfe erheben, ernst nehmen
Der EGMR geht davon aus, dass die Behörden die Vorwürfe der
Mutter kannten und spätestens seit Ende 2014 (Erscheinen der
Gutachten) wussten, dass diese der Wahrheit entsprachen.[97]
Er bemängelt, dass die moldawischen Gerichte trotzdem untätig
blieben und eineinhalb Jahre brauchten, um die Sorgerechtsstreitigkeiten zu
entscheiden, obwohl sie die Gefahren kennen mussten.[98]
Er machte das Versagen, den Klagen der Mutter genügend Beachtung zu
schenken, für die Probleme bei der Durchsetzung des
Sorgerechtsentscheids verantwortlich.[99]
Diese Kritik erfolgte, obwohl die Mutter die Befürchtung
geäussert hat, dass der andere Elternteil die Kinder von ihr alieniere
und den Begriff «Parental Alienation Syndrome» verwendete.[100]
Dies müsste bedeuten, dass die Verwendung der Begriffe «Parental
Alienation» oder «Parental Alienation Syndrome» in der
Praxis nicht dazu führen darf, dass Betroffene (oder Fachkräfte)
ignoriert oder zurückgewiesen werden. Im Gegenteil: Sie müssen
auch dann (gerade dann) ernst genommen werden.
6. Kindeswohl steht über Kindeswillen
Der EGMR legt in seiner Rechtsprechung besonderen Wert auf das Kindeswohl.
In seinen allgemeinen Erwägungen führt er aus, dass auch der
Wille des Kindes stets angemessen zu berücksichtigen sei. Die
geäusserte Ansicht des Kindes ist aber nicht das einzige massgebende
Kriterium. Das Kindeswohl wie auch andere Interessen müssen dennoch
ermittelt und berücksichtigt werden und können u.U. dem
Kindeswillen vorgehen.[101]
V. Ergänzende Anmerkungen
Alienierte Kinder (alienated children) gehören bereits
aufgrund der elterlichen Trennung einer Risikogruppe an. Die Alienation ist
ein zusätzlicher Belastungsfaktor.[102]
Einst Betroffene leiden noch im Erwachsenenalter unter den Folgen des
Phänomens. In einer retrospektiven qualitativen Studie von Amy Baker
gaben z.B. 70% der Betroffenen an, an signifikanten Depressionen gelitten
zu haben oder noch immer zu leiden, 33% hatten in ihrer Jugend ernsthafte
Drogen- und Alkoholprobleme, 66% waren selbst mindestens einmal geschieden
und 50% hatten ein Kind, das von ihnen alieniert wurde.[103]
Zudem äusserten die meisten von ihnen die Ansicht, dass sie zwar als
Kinder einen Elternteil verstiessen, aber insgeheim gehofft hatten, dass
jemand merkt, dass sie eigentlich gar nicht meinten, was sie sagten - ein
Ergebnis, das sich mit demjenigen einer Studie von Clawar und Rivlin deckt,
in der 80% der alienierten Kinder gewünscht hatten, dass die
Alienation bemerkt und gestoppt wird.[104]
Auch verstossene Eltern leiden unter der Trennung von ihren Kindern. Sie
leiden z.B. an Depressionen, traumatischen Stresssymptomen und
Suizidgedanken. Zwei neuere Studien mit Datenerhebungen in vier voneinander
unabhängigen Regionen Kanadas und der USA ergaben, dass jeweils mehr
als 30% der Eltern Opfer des alienierenden Verhaltens (alienating behaviour) des anderen Elternteils werden. Dies
übersteigt bisherige Schätzungen bei Weitem.[105]
Trotz dieser Probleme und obwohl Parental Alienation ein stark untersuchtes
Phänomen ist - allein die Parental Alienation Datenbank des Vanderbilt University Medical Centers umfasst gegenwärtig
1396 Bücher, Buchkapitel und Aufsätze aus Fachzeitschriften zum
Thema -, scheint es auch in der Schweiz Gerichte zu geben, welche keine
Massnahmen ergreifen, um betroffene Kinder und Eltern zu schützen -
selbst dann, wenn Sachverständige dies empfehlen.[106]
Eine mögliche Erklärung ist die Sorge, dass damit das Parental
Alienation Syndrome anerkannt würde, das in der Rechtslehre mitunter
als «pseudowissenschaftliche Theorie», mit welcher «das
Kindeswohl mit Füssen getreten wird», bezeichnet wurde.[107]
Der Begriff PAS wurde in den 1980er-Jahren von Richard Gardner[108]
geprägt, der damit, grob betrachtet, dasselbe Phänomen wie
Parental Alienation beschrieb, allerdings, genau wie seine wohl
grösste Kritikerin - die u.a. einst an der Universität Basel
unterrichtende Carol Bruch -[109]
zwischen den beiden Begriffen unterschied.[110]
PAS ist nicht offiziell als psychologisches Krankheitssyndrom
anerkannt, da es bisher nicht hinreichend empirisch oder klinisch belegt
werden konnte.[111]
Das allgemeiner gehaltene Konzept Parental Alienation wird hingegen oft als
logisch nachvollziehbare Dynamik in Familienkonstellationen betrachtet.[112]
Gardners PAS-Ansätze wurden stark kritisiert.[113]
Die Kritik stammt im Wesentlichen von zwei voneinander unabhängigen
Gruppierungen: Einer um die angesehenen Forscherinnen Joan B. Kelly und
Janet R. Johnston, welche im Jahre 2001 als Alternative das Konzept
«parental alienation» präsentierten,[114]
sowie einer, die sich als «Verteidigerin missbrauchter Frauen und
Kinder» betrachtet.[115]
Einige Vertretende dieser Gruppierung lehnen auch Parental Alienation ab
und erachten Klagen wegen Parental Alienation angeblich meist für von
gewalttätigen oder missbrauchenden Vätern fabriziert, um
Kontrolle über die Mütter auszuüben und Kontakt zu den
Kindern zu erlangen, welche ihre Väter zurecht ablehnen.[116]
Entscheidend für das vorliegende Urteil ist aber, dass nur wenige
wissenschaftliche Stimmen auch die Existenz des beschriebenen
Phänomens bestreiten.[117]
An einer Umfrage zu Parental Alienation an einer Konferenz der angesehenen Association of Family and Conciliation Courts (AFCC)[118]
im Jahre 2010 bejahten gar 98% von 300 Fachpersonen, dass es Kinder gibt,
die von einem Elternteil dazu manipuliert werden, den anderen Elternteil
irrational und ungerechtfertigt zu verstossen.[119]
Im Übrigen erachten auch PAS-kritische Kreise alienierendes Verhalten
für einen Kindsmissbrauch, der eine rasche staatliche Intervention
erfordert.[120]
Den Obhutsentzug oder die Fremdplatzierung bezeichnen sie als mögliche
Kindesschutzmassnahmen unter mehreren.[121]
Das Phänomen ist zudem geschlechtsneutral.[122]
Dabei ist unbestritten, dass Kontaktwiderstände verschiedene Ursachen
haben können. Insbesondere sind sie häufig das Ergebnis des
Zusammenspiels verschiedener Faktoren, deren Einfluss sorgfältig
abgeklärt werden muss.[123]
Folglich kann nicht allein aufgrund eines Kontaktwiderstandes darauf
geschlossen werden, dass ein Kind alieniert (oder missbraucht) wurde.
Sowohl die Umteilung in die Obhut einer Person, die das Kind missbraucht
hat, als auch das untätig bleiben, wenn der obhutsberechtigte
Elternteil das Kind vom anderen Elternteil alieniert, dürfte für
das Kind schwerwiegende Folgen haben.[124]
Kontaktabbrüche zu lebenden (leiblichen) Eltern führen ganz
allgemein (d.h. unabhängig ihrer Ursache) zu erheblichen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Kindern, die ein ganzes Leben
lang andauern können und Betroffene etwa doppelt so stark und dreimal
so lang belasten, wie der Tod eines leiblichen Elternteils.[125]
Darum gilt es (aus ärztlicher Sicht) Kontaktabbrüche, wenn
möglich, zu verhindern.[126]
Aus den erwähnten Gründen ist das vorliegende Urteil zu
begrüssen. Das Urteil schliesst eine differenzierte Betrachtungsweise
des Einzelfalles weder aus, noch schränkt es sie ein. Zweitrangig ist
auch, wie das Phänomen bezeichnet wird. Entscheidend ist, dass
Gerichte und Behörden Betroffene auch dann ernst nehmen, wenn sie von
Parental Alienation oder PAS sprechen, die Umstände umgehend
sorgfältig abklären und gegebenenfalls unverzüglich
intervenieren, um eine fortschreitende Alienation (bzw. Entfremdung) mit
drohendem Kontaktverlust zu verhindern.
Der EGMR hat bereits andere Fälle im Zusammenhang mit «parental
alienation» in diesem Sinne entschieden.[127]
Auch das Bundesgericht anerkennt, ohne damit PAS zu bejahen, die
Problematik von Entfremdungsprozessen und, zumindest implizit, die
Möglichkeit einer Fremdplatzierung oder Obhutsübertragung.[128]
Unlängst billigte es in einem Fall, in dem eine fortschreitende
Entfremdung mit Kontaktabbruch drohte, gegen den Willen der Obhutsinhaberin
die Anordnung
[7]
Die Begriffe gehen auf eine Expertengruppe um die angesehenen
Forscherinnen Joan B. Kelly und Janet R. Johnston zurück.
Ausführlich zu den Begriffen: Joan B. Kelly / Janet R.
Johnston, The Alienated Child, A Reformulation of Parental
Alienation Syndrome, Family Court Review 39/2001, S. 251 ff.
[56]
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom
4. November 1950 (EMRK; SR 0.101).
[95]
Pisică gegen Moldawien, N 74. Die Richterinnen und Richter des EGMR bezeichneten das
Verhalten im Durchsetzungsverfahren als «nicht mehr
total passiv», was impliziert, dass sie das Verhalten vor dem Durchsetzungsverfahren als «total
passiv» betrachteten.
[102]
Statt vieler: Janet R. Johnston, Children of Divorce Who Reject a
Parent and Refuse Visitation: Recent Research and Social Policy
Implications for the Alienated Child, Family Law Quarterly 2005, S.
771; Barbara Jo Fidler / Nicholas Bala, Children resisting
postseparation contact with a parent: concepts, controversies and
conundrums, Family Court Review 2010, S. 20 f.
[103]
Amy J. L. Baker, The Long-Term Effects of Parental Alienation on
Adult Children: A Qualitative Research Study, The American Journal
of Family Therapy 2005, S. 296 ff.
[104]
So: Liselotte Staub, Kontaktwiderstände des Kindes nach der
Trennung der Eltern: Ursache, Wirkung und Umgang, ZKE 2010, S. 360;
Fidler/Bala (Fn. 102), S. 21.
[105]
Z.G.: Jennifer J. Harman / Sadie Leder-Elder / Zeynep Biringen,
Prevalence of adults who are targets of parental alienation
behaviours and their impact, Children and Youth Services Review,
106, 2019, Kapitel 9; Jennifer J. Harman / Sadie Leder-Elder /
Zeynep Biringen, Prevalence of parental alienation drawn from a
representative poll, Children and Youth Services Review 2016, S.
65.
[106]
So scheint z.B. das Kantonsgericht St. Gallen ein Gutachten des
Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts des Kantons Zürich
darum für nicht überzeugend erachtet zu haben, weil es dem «Konzept der sog. Eltern-Entfremdung
(Parental Alienation Syndrome; PAS) folge» (Urteil des
Bundesgerichts 5A_354/2010
vom 6. April 2011 E. 4.1, Hervorhebung durch die Autoren).
[107]
Ingeborg Schwenzer, Die elterliche Sorge - die Sicht des Rechts von
aussen auf das Innen, FamPra 6 2005, S. 22.
[110]
Carol Bruch, Parental Alienation Syndrome and Parental Alienation:
Getting It Wrong in Child Custody Cases, Family Law Quarterly 2001,
S. 549; Richard Gardner, Commentary on Kelly and Johnston's
«the alienated child: a reformulation of parental alienation
syndrome», Family Court Review 2005, S. 613 f. (zit. Gardener
2005); Richard A. Gardner, Parental Alienation Syndrome vs.
Parental Alienation: Which Diagnosis Should Evaluators Use in
Child-Custody Disputes? The American Journal of Family Therapy
2002, S. 98 f.
[113]
Ausführlich zur Kritik, ihren Ursprüngen und Urhebern:
Deirdre C. Rand, Parental Alienation Critics and the Politics of
Science, The American Journal of Family Therapy 2010, S. 48 ff.
Allerdings erwiesen sich einige Kritikpunkte als unzutreffend, so
z.B. dass Gardners 19 Aufsätze ohne Peer-Review publiziert
worden seien (vgl. z.B. Bruch [Fn. 110], S. 535 sowie Gardner 2005
[Fn. 110], S. 613 und Richard Gardner,
Rebuttal to Carol S. Bruch's Article «Parental Alienation
Syndrome and Parental Alienation: Getting it Wrong in Child
Custody Cases», Family Law Quarterly 2001, S. 527 ff.). Auch heute noch sollen
irreführende Aussagen zum Thema verbreitet werden (siehe z.B.
William Bernet, Parental Alienation and Misinformation
Proliferation, Family Court Review 2020, S. 293 ff.).
[114]
Kelly/Johnston (Fn. 7), S. 251 ff.
[115]
Vgl. Z.B. Rand (Fn. 113), S. 49. Besonders hervorgehoben wird in
dieser Gruppierung regelmässig Carol Bruch, die im
deutschsprachigen Raum sehr einflussreich war (Christian Dum,
Parental Alienation Initiatives Around the World, in:
Demostenes/Bernet/Sauber [Hrsg.], Parental Alienation, The Handbook
for Mental Health and Legal Professionals, Springfield 2013, S. 428
f.).
[116]
Fidler/Bala (Fn. 102), S. 10, mit Verweis auf Carol Bruch (vgl.
dazu z.B.: Carol Bruch, Parental Alienation Syndrome: Junk Science
in Child Custody Determinations, European Journal of Law Reform
2001, S. 387), Jennifer Hoult und Joan Meier; Sue Whitcombe,
Psychopathology and the conceptualisation of mental disorder: The
debate around the inclusion of Parental Alienation in DSM-5,
Counselling Psychology Review 3/2013, S. 8; Rand (Fn. 113), S. 49;
Für Hintergründe dazu siehe: Janet R. Johnston / Matthew
J. Sullivan, Parental Alienation: In Search for Common Ground for a
More Differentiated Theory, Family Court Review 2020, S. 273 f.
[117]
Thomas Rauscher, Kommentar zu § 1684 BGB, in:
Coester/Rauscher/Salgo (Hrsg.), J. von Staudingers Kommentar zum
Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und
Nebengesetzen, Buch 4, Familienrecht, §§ 1684-1717
(Elterliche Sorge 3 - Umgangsrecht), Berlin 2014, N 39. Als
einziges Beispiel nennt er Carol Bruch.
[118]
Dabei trug die AFCC ganz
entscheidend zur Durchsetzung der Kritik am PAS bei (vgl. Rand [Fn.
113], S. 49).
[120]
Janet R. Johnston / Joan B. Kelly, Rejoinder to Gardner's
«commentary on Kelly and Johnston's ‹the alienated
child: a reformulation of parental alienation
syndrome›», Family Court Review 2004, S. 626; Michael
Saini / Janet R. Johnston / Barbara Jo Fidler / Nicholas Bala,
Empirical Studies of Alienation, in: Drozd/Saini/Olesen (Hrsg.),
Parenting Plan Evaluations: Applied Research for the Family Court,
2. Aufl., Oxford 2016, S. 425; Edward Kruk, Parental Alienation as
a Form of Emotional Child Abuse: Current State of Knowledge and
Future Directions for Research, Family Science Review 2018, S. 142.
Vgl. auch Wilfried von Boch-Galhau, Parental Alienation (Syndrome)
- Eine ernst zu nehmende Form von psychischer Kindesmisshandlung,
Neuropsychiatrie 2018, S. 136.
[121]
Johnston (Fn. 102), S. 760 und 770 f.
[122]
Saini et al. (Fn. 120), S. 381; Kruk (Fn. 120), S. 142.
[123]
Johnston/Sullivan (Fn. 116), S. 279 ff. Sowohl Gardner als auch
Schwenzer scheinen dem zuzustimmen (Gardner [2005] [Fn. 110], S.
613 f.; Schwenzer [Fn. 107], S. 22).
[124]
Johnston/Sullivan (Fn. 116), S. 272.
[125]
Anna Prinz / Ursula Gresser, Macht Kontaktabbruch zu den leiblichen
Eltern Kinder krank?, NZFam 2015, S. 993 f.
[127]
Vgl. z.B: Urteil des EGMR 57077/16
vom 4. Dezember 2018 (R.I. u.a. gegen Rumänien); Für eine
Besprechung mehrerer Urteile bis zum April 2012, siehe: Dum (Fn.
115), S. 441 ff.
[128]
Ausführlich dazu: Stephan Wolf / Deborah Schmuki, Die
privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2011:
Ehe- und Vormundschaftsrecht, ZBJV 11/2012, S. 848 m.w.H.
[129]
Urteil des Bundesgerichts 5A_306/2019 vom 29. Januar
2020 E. 4.4.4 ff. Vgl. auch: Urteil des Bundesgerichts 5A_140/2010 vom 11. Juni
2010.
[132]
Urteil des Bundesgerichts 5A_306/2019 vom 29. Januar
2020 E. 4.4; Urteil des Bundesgerichts 5A_200/2015 vom 22.
September 2015 E. 7.2.3.1; Urteil des Bundesgerichts 5A_932/2012 vom 5.
März 2013 E. 5.1.