Die Prüfung von Teilrevisionsinitiativen auf die
Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts
Felix H. Thomann
Abstimmungen über Initiativen auf Teilrevision der BV werden
seit 45 Jahren immer häufiger, weil die nötige
Unterschriftenzahl längst zu niedrig ist und das Parlament nur
die Einhaltung von Art. 139 Abs. 3 BV prüft. Die Belastung von
Bundesbehörden und Stimmberechtigten durch die Behandlung
nicht verfassungswürdiger Volksbegehren, welche häufig in
erster Linie der politischen Propaganda dienen, und die
schleichende Verschiebung der verfassungsmässigen
Kompetenzordnung durch Initiativen mit unterstufigem Inhalt werden
zu einer Gefahr für das politische Leben der Schweiz. Abhilfe
schaffen könnte die Erweiterung der Prüfung von
Initiativen auf die Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts; sie
wäre nach Meinung des Verfassers gemäss Art. 139 BV
zulässig und geboten.
Zitiervorschlag: Felix H. Thomann, Die Prüfung von
Teilrevisionsinitiativen auf die Verfassungswürdigkeit ihres
Inhalts in: sui-generis 2015, S. 90
URL: sui-generis.ch/15
DOI:
https://doi.org/10.21257/sg.15
I. Einleitung
In den letzten 45 Jahren hat die Anzahl eingereichter Volksinitiativen auf
Bundesebene stetig zugenommen. Die Initiativenflut - so geht die Klage -
belaste Parlament, Regierung und Verwaltung über Gebühr und drohe
die Stimmberechtigten zu überfordern[1]. Die Hauptgründe
für diese Entwicklung liegen auf der Hand:
- Die für Initiativen nötige Unterschriftenzahl (100'000)
ist im Verhältnis zur Anzahl der Stimmberechtigten und in Anbetracht
der heutigen Möglichkeiten für die Unterschriftensammlung schon
lange zu tief[2], selbst wenn
man in Rechnung stellt, dass seit der Einführung der
Teilrevisionsinitiative die Bundeskompetenzen stark ausgedehnt wurden und
die Gesetzgebungstätigkeit auf Bundesebene dementsprechend zugenommen
hat[3].
-
Die Praxis der Bundesversammlung bei der Prüfung von
Volksbegehren war bisher zu locker.
Beide Faktoren erleichtern den Einsatz von Volksbegehren für
sachfremde Zwecke - insbesondere als Mittel der politischen Propaganda -
massiv.
Die Bundesversammlung hat seit jeher als gegeben angenommen, ihre Kompetenz
zur Prüfung von Volksbegehren sei auf die in der Verfassung
ausdrücklich als Ungültigkeitsgründe genannten Punkte (heute
in Art. 139 Abs. 3 BV: Einheit der Form, Einheit der Materie, Verletzung
zwingender Bestimmungen des Völkerrechts) beschränkt. Als Folge
dieser Praxis wurde die Bundesverfassung von 1874[4] im Laufe der Zeit von
unzähligen Normen überwuchert, deren Platz richtigerweise in
einem Gesetz oder in einzelnen Fällen sogar in einer Verordnung
gewesen wäre[5]. Die
Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 verfolgte u.a. den Zweck, das
Grundgesetz von derartigem Ballast zu befreien[6]. Dies gelang auch
einigermassen, doch die Entwicklung seit dem Inkrafttreten der revidierten
Verfassung lässt wieder den früheren Missstand erkennen: Allzu
viele Volksbegehren haben im Verfassungswald nicht Bäume, sondern
Unterholz und Unkraut wachsen lassen[7].
Die Einleitung einer Verfassungsrevision zur Erhöhung der
Unterschriftenzahlen oder zur Erweiterung der in der Bundesverfassung
ausdrücklich genannten Ungültigkeitsgründe ist politisch ein
heisses Eisen, und der Wille der politischen Behörden, dieses Eisen
anzufassen, hält sich zurzeit in engen Grenzen. Umso wichtiger
erscheint deshalb die Frage, ob es nach dem geltenden Recht, d.h. ohne
Verfassungsrevision zulässig wäre, die Initiativflut durch die
Erweiterung der Prüfung von Volksbegehren auf die
Verfassungswürdigkeit[8]
ihres Inhalts einzudämmen. Diese Frage wird im Folgenden untersucht.
II. Die Bestimmungen der Bundesverfassung über die
Teilrevisionsinitiative von 1891 bis heute
Die Bundesverfassung von 1874 sah in ihrem dritten Abschnitt
(Überschrift: Revision der Bundesverfassung) nur eine
Totalrevisionsinitiative vor (Art. 118-121 aBV). Die Einführung der
Initiative auf Teilrevision der Bundesverfassung wurde von Volk und
Ständen am 5. Juli 1891 beschlossen; die Absätze 1-4 des
revidierten Art. 121 aBV, welcher Teil des dritten Abschnitts
«Revision der Bundesverfassung» bildete, lauteten fortan wie
folgt[9]:
«Die Partialrevision kann sowohl auf dem Wege der Volksanregung
(Initiative) als der Bundesgesetzgebung vorgenommen werden.
Die Volksanregung umfasst das von 50'000 stimmberechtigten
Schweizerbürgern gestellte Begehren auf Erlass, Aufhebung oder
Abänderung bestimmter Artikel der Bundesverfassung.
Wenn auf dem Wege der Volksanregung mehrere verschiedene Materien zur
Revision oder zur Aufnahme in die Bundesverfassung vorgeschlagen
werden, so hat jede derselben den Gegenstand eines besonderen
Initiativbegehrens zu bilden.
Die Initiativbegehren können in der Form der allgemeinen Anregung
oder des ausgearbeiteten Entwurfes gestellt werden.»
Bis zum Inkrafttreten der Bundesverfassung vom 19. April 1999 erfuhr Art.
121 aBV nur eine einzige Änderung: Nach der Einführung des
Frauenstimmrechts beschlossen Volk und Stände am 25. September 1977,
die Unterschriftenzahl (Abs. 2) von 50'000 auf 100'000 zu erhöhen[10].
Der Verfassungsentwurf des Bundesrates vom 20. November 1996 enthielt die
Bestimmungen über die Teilrevisionsinitiative im 4. Titel
(Volk und Stände) in Art. 129[11]. Die Bestimmung trug
den Titel «Volksinitiative auf Teilrevision der
Bundesverfassung»; die Absätze 1-3 lauteten wie folgt:
«100'000 Stimmberechtigte können eine Teilrevision der
Bundesverfassung verlangen.
Die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung kann die Form
der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs haben.
Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie
oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so erklärt die
Bundesversammlung sie für ungültig.»
Der Text der Absätze 1-3 wurde in der parlamentarischen Beratung nur
durch die Hinzufügung der Worte «ganz oder teilweise» in
Abs. 3 abgeändert.
In der am 18. April 1999 angenommenen Bundesverfassung steht der Artikel
139, welcher die Volksinitiative auf Teilrevision regelt, im 4. Titel (Volk
und Stände)[12].
Am 9. Februar 2003 wurde Art. 139 BV im Zusammenhang mit der geplanten
Einführung der allgemeinen Volksinitiative (Art. 139a BV)
abgeändert: Der Titel lautete nunmehr «Formulierte
Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung»; der Abs. 2 der
Fassung von 1999 wurde gestrichen, und die Absätze 1-2 erhielten die
folgende Formulierung[13]:
«100'000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der
amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Teilrevision der
Bundesverfassung verlangen.
Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie
oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so erklärt die
Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise ungültig.»
Am 27. September 2009 wurden die nie in Kraft getretenen Bestimmungen
über die allgemeine Volksinitiative wieder aus der Verfassung
gestrichen, weil sich die Ausführungsgesetzgebung als «zu
komplex» erwiesen hatte[14]. Der Art. 139 BV
erhielt wieder die Form, die am 18. April 1999 beschlossen worden war[15].
Die Bundesverfassung sah somit von 1891 an bis heute Volksbegehren immer
ausdrücklich nur als Verfassungsinitiativen vor; auf die Bestrebungen
zur Einführung der Gesetzesinitiative ist unter III. näher
einzugehen.
III. Versuche zur Einführung der Gesetzesinitiative im Bund
Die Einführung der Gesetzesinitiative bzw. einer
«allgemeinen» Initiative auf Bundesebene war im Lauf der
Jahrzehnte wiederholt Gegenstand der politischen Diskussion[16]:
- Schon mit der Vorlage von 1872 zur Totalrevision der Bundesverfassung
von 1848 hatte die Bundesversammlung die Gesetzesinitiative einführen
wollen[17]. Volk und
Stände lehnten die Vorlage jedoch am 12. Mai 1872 ab[18]. In der
bundesrätlichen Totalrevisionsvorlage von 1873 war die
Gesetzesinitiative ebenfalls enthalten[19]; sie wurde aber durch
das Parlament gestrichen und bildete deshalb nicht Teil des
endgültigen Textes, der von Volk und Ständen angenommen wurde[20].
- 1906 kam die Einführung der Gesetzesinitiative erneut vor die
Bundesversammlung. Dem Projekt war jedoch kein Erfolg beschieden: Der
Nationalrat beschloss als Erstrat die Rückweisung der Vorlage an den
Bundesrat, was er nach dem damals geltenden Recht ohne Zustimmung des
Ständerates tun konnte[21], und der Sache wurde
keine weitere Folge mehr gegeben.
- Im Dezember 1958 reichte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ein
Volksbegehren auf Einführung der Gesetzesinitiative ein. Die
Initiative scheiterte jedoch in der Volksabstimmung vom 22. Oktober 1961
deutlich[22].
- Im Zusammenhang mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999
unterbreitete der Bundesrat den eidgenössischen Räten eine
separate Vorlage über die Reform der Volksrechte[23]. Dieses
«Paket» enthielt auch die Einführung einer allgemeinen
Volksinitiative; es wurde aber von National- und Ständerat durch
Nichteintretensbeschlüsse beiseitegeschoben[24]. Gleichzeitig mit
seinem Nichteintretensbeschluss hiess der Ständerat immerhin eine
parlamentarische Initiative gut, welche darauf abzielte, die Reform der
Volksrechte nachzuholen. Der Vorstoss führte zu einem Vorschlag auf
Einführung der allgemeinen Initiative durch Revision der Art. 138 ff.
BV vom 4. Oktober 2002[25];
dieser wurde in der Volksabstimmung vom 9. Februar 2003 mit grossem Mehr
angenommen[26]. Der
Bundesrat unterbreitete dem Parlament darauf am 31. Mai 2006 eine Botschaft
«über die Einführung der allgemeinen Volksinitiative und
über weitere Änderungen der Bundesgesetzgebung über die
politischen Rechte» mit Entwürfen zu einem BG über die
Einführung der allgemeinen Initiative, einem BB über das
vollständige Inkrafttreten der Änderung der Volksrechte vom 4.
Oktober 2002 sowie einem BG betreffend die Änderung der
Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte (Vote
électronique)[27].
National- und Ständerat traten auf die beiden ersten Entwürfe
nicht ein, weil die vorgeschlagene Regelung zu kompliziert sei[28]. In der Folge wurden
am 27. September 2009 die am 9. Februar 2003 angenommenen
Verfassungsänderungen wieder aufgehoben[29].
Das Bundesrecht hat somit, wie bereits unter II. dargelegt, das Institut
der Initiative seit jeher nur auf der obersten Ebene der Rechtsetzung, d.h.
als Verfassungsinitiative gekannt; die wiederholten Bemühungen um die
Einführung von Volksbegehren für untere Rechtsetzungsstufen waren
nie erfolgreich. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht
und unterstufigem Recht im Zusammenhang mit Volksbegehren war somit allen
Beteiligten - mit Einschluss von Volk und Ständen - seit jeher
bewusst.
IV. Die Praxis der Bundesversammlung bei der Prüfung von
Volksbegehren
A. Prüfung nach Art. 121 aBV (bis 1999)
Art. 121 Abs. 3 und 4 aBV normierten die Grundsätze der Einheit der
Materie und der Form; die Kompetenz zur Prüfung von Volksbegehren
wurde jedoch auf Gesetzesebene geregelt: Gemäss dem BG über das
Verfahren bei Volksbegehren auf Revision der Bundesverfassung
(Initiativgesetz) vom 23. März 1962[30] (Art. 3) wie nach dem
BG über die politischen Rechte (BPR) vom 17. Dezember 1976[31] (Art. 75) hatte die
Bundesversammlung Volksinitiativen, welche gegen Art. 121 Abs. 3 und 4 aBV
verstiessen, ungültig zu erklären. Als weiterer -
selbstverständlicher und deshalb ungeschriebener -
Ungültigkeitsgrund wurde die praktische Undurchführbarkeit einer
Initiative anerkannt[32].
Unter der aBV erklärte die Bundesversammlung insgesamt vier
Volksbegehren als ungültig, nämlich
- die Volksinitiative «Vorübergehende Herabsetzung der
militärischen Ausgaben (Rüstungspause)» vom 2. Dezember 1954
am 15. Dezember 1955 wegen objektiver Undurchführbarkeit[33];
- die Volksinitiative «gegen Teuerung und Inflation» vom 29. Mai
1975 am 17. Dezember 1977 und diejenige «für weniger
Militärausgaben und mehr Friedenspolitik» vom 24. September 1992
am 20. Juni 1995, weil sie das Erfordernis der Einheit der Materie nicht
erfüllten[34];
- die Volksinitiative «für eine vernünftige
Asylpolitik» vom 6. Juli 1992 am 14. März 1996 wegen Verletzung
zwingender Bestimmungen des Völkerrechts[35].
Die Verfassungswürdigkeit des Inhalts von Initiativen gab in den
ersten 63 Jahren nach Einführung der Teilrevisionsinitiative immer
wieder zu reden:
- Das Parlament stellte bereits im Zusammenhang mit dem allerersten
Volksbegehren «für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige
Betäubung» (Schächtverbot) die Frage, ob eine Materie, die
wie das Verfahren bei der Tötung von Schlachttieren «bloss
polizeilich reglementarischer Natur» sei, in die Verfassung
gehöre[36].
- Auch in den folgenden 60 Jahren wurde das Problem der
Verfassungswürdigkeit des Inhalts von Volksbegehren mehrmals
aufgegriffen[37]; zu einer
vertieften Diskussion kam es jedoch nie, und die Frage, ob sich die
Zulässigkeit einer Prüfung von Volksbegehren auf die
Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts nicht als selbstverständlich
aus Art. 121 Abs. 2 aBV ergebe, wurde vom Bundesrat und von der
Bundesversammlung nie ernsthaft gestellt.
- Erst die am 24. Februar 1953 eingereichte Volksinitiative «Schutz
der Stromlandschaft und Verleihung Rheinau» (Rheinau-Initiative)
veranlasste den Bundesrat, die Frage der Verfassungswürdigkeit von
Volksbegehren ausführlich zu behandeln[38]. Die
Rheinau-Initiative verlangte eine rechtlich nicht kontroverse
Ergänzung von Art. 24bis Abs. 2 BV (Schonung und Erhaltung von
Naturschönheiten) und - im Sinne einer Übergangsbestimmung - die
Aufhebung der bereits 1944 erteilten Konzession für den Bau des
Kraftwerks Rheinau. Der Bundesrat hielt in seinem Bericht mit Bezug auf den
zweiten, rechtlich höchst umstrittenen Teil der Initiative
zusammenfassend fest, die Bundesverfassung habe
«weder ausdrücklich noch stillschweigend materielle
Schranken der Revision … aufgestellt»,
und es stehe
«ausser Zweifel, dass in der Eidgenossenschaft nur dem Volk und
den Ständen die Befugnis zustehen kann, darüber zu
entscheiden, was in die Verfassung aufgenommen werden kann und
was nicht»[39].
Den entgegengesetzten Meinungen hielt der Bundesrat entgegen, sie
erklärten sich
«aus der Befürchtung, dass Volk und Stände demagogischen
Einflüssen unterliegen und einen Entscheid treffen könnten,
der den Staat und seine demokratischen Einrichtungen in ihren
Grundlagen erschüttern könnte».
Wenn aber diese Befürchtungen begründet wären,
«hätte es wohl wenig Sinn, die Demokratie dadurch retten zu
wollen, dass Volk und Ständen das Recht zur Willensäusserung
in einer wichtigen Verfassungsfrage entzogen wird. Denn die Demokratie
ist die Staatsform des Vertrauens in die Einsicht und den guten Willen
des Volkes»[40].
Die Stellungnahme des Bundesrates zur Gültigkeit der
Rheinau-Initiative war offensichtlich vom Glauben an die Allmacht des
Volkes geprägt; dies zeigt sich in einigen aus heutiger Sicht
erstaunlichen Formulierungen, wie insbesondere, aus der
Entstehungsgeschichte der aBV gehe hervor,
«dass man dem Volk und den Ständen die unbeschränkte
Macht geben wollte, welche früher einem absoluten Monarchen
zustand»[41].
Die Auffassung der Landesregierung setzte sich auch im Parlament durch[42]: Die
Rheinau-Initiative wurde Volk und Ständen im Dezember 1954 vorgelegt,
scheiterte aber deutlich[43].
In der Folge wurde unter der aBV die vom Bundesrat im Zusammenhang mit der
Rheinau-Initiative vertretene Meinung nicht mehr ernsthaft in Frage
gestellt, sondern mehrmals ausdrücklich bestätigt[44].
B. Prüfung nach Art. 139 BV (ab 2000)
Im Zuge der BV-Totalrevision von 1999 befasste sich der Bundesrat in seiner
Botschaft unter dem Titel «Entwicklung und Stand des
Verfassungsrechts» mit der Frage der Verfassungswürdigkeit[45]; die Frage der
inhaltlichen Prüfung von Volksinitiativen spielte jedoch nur mit Bezug
auf das Völkerrecht eine wesentliche Rolle. Im Zusammenhang mit der
Frage weiterer Revisionsschranken befasste sich die Botschaft nur mit der
faktischen Undurchführbarkeit und mit Rückwirkungsklauseln; im
Übrigen verwies sie auf die herrschende Meinung[46].
Im geltenden Recht ist die Prüfungskompetenz der Bundesversammlung mit
Bezug auf Einheit der Form und der Materie sowie Verletzung zwingender
Bestimmungen des Völkerrechts auf Verfassungsstufe (Art. 139 Abs. 3
i.V.m. Art. 194 BV) geregelt. Das BPR[47] wiederholt in Art. 75
Abs. 1 die Regel von Art. 139 Abs. 3 BV und konkretisiert in Abs. 2 und 3
die Begriffe «Einheit der Materie» und «Einheit der
Form».
Seit dem Inkrafttreten der geltenden Bundesverfassung am 1. Januar 2000
erklärte die Bundesversammlung einmal eine Volksinitiative wegen
Verletzung zwingender Grundsätze des Völkerrechts als
teilweise ungültig[48]; die Ungültigerklärung eines Volksbegehrens mit unterstufigem
Inhalt betrachten Bundesrat und Bundesversammlung nach wie vor als
unzulässig[49].
C. Fazit
Die Praxis des Parlaments läuft auf eine sehr einfache Formel für
die Prüfung von Volksbegehren hinaus: Jede gültig zustande
gekommene Initiative, die weder wegen Verletzung von Art. 139 Abs. 3 BV
ungültig noch objektiv undurchführbar ist, kommt ungeachtet ihres
Inhalts zur Abstimmung und wird im Falle der Annahme durch Volk und
Stände Bestandteil der Verfassung. Anders ausgedrückt wird
Verfassungsrecht alles, was im Verfahren der Verfassungsrevision zustande
gekommen, d.h. nach der herkömmlichen Auffassung formelles
Verfassungsrecht ist. Ob der Inhalt eines Volksbegehrens auch materiell als
Verfassungsrecht, d.h. als der staatlichen Grundordnung zugehörig und
damit verfassungswürdig zu qualifizieren ist, spielt keine Rolle.
V. Die Konsequenzen der bisherigen Prüfungspraxis in neuerer Zeit
Der Zweck der Bestimmungen über die Teilrevisionsinitiative ist es,
den Stimmberechtigten zu ermöglichen, unmittelbar (d.h. unter
Ausschaltung des ordentlichen Rechtsetzungsverfahrens auf der
Verfassungsstufe) einen Entscheid von Volk und Ständen über den
Inhalt der Verfassung herbeizuführen. Der Bundesrat führte dazu
in seiner Botschaft von 1891 zur Einführung der
Teilrevisionsinitiative Folgendes aus:
«Eine … Erfahrung aller Kantone, in welchen Partialrevision
auf dem Wege der Volksinitiative angebahnt werden kann, beweist
…, dass diese demokratische Institution in praxi keineswegs zu
zahlreichen, hastigen und unüberlegten Revisionsanregungen
führt, und es ist kein Grund, anzunehmen, dass sie im Bunde in
ihren Wirkungen sich anders gestalten werde»[50].
Die Entwicklung seit dem Inkrafttreten des damaligen Art. 121 aBV zeigt,
dass die vorstehend zitierte Annahme heute keinesfalls mehr zutrifft:
- In den ersten 78 Jahren nach der Einführung der
Teilrevisionsinitiative blieb die Anzahl der Abstimmungen über solche
Volksbegehren relativ stabil; das Total von 48 verteilte sich ziemlich
regelmässig (eine Ausnahme bildete nur das Jahrzehnt 1921-1930 mit 13
Abstimmungen). Von 1971-2010 war jedoch ein dramatischer Anstieg mit 23,
34, 39 und 37 Abstimmungen pro Jahrzehnt zu verzeichnen[51], und im laufenden
Jahrzehnt haben bis Mitte 2015 bereits nicht weniger als 30 Abstimmungen
stattgefunden.
Der Anteil der Abstimmungen über Volksbegehren an der Gesamtzahl der
Abstimmungen betrug für die Jahrzehnte von 1971-2010 28.4, 53.1, 36.8
und 46.3%; für die ersten 4½ Jahre des laufenden Jahrzehnts stieg
dieser Faktor auf 71.4%[52].
- Betrachtet man die Anzahl der eingereichten Initiativen, so ergibt sich
folgendes Bild[53]:
- Von 1892-1930 wurden total 27 Initiativen eingereicht; zwei
Volksbegehren wurden zugunsten von Gegenentwürfen zurückgezogen.
In den folgenden vier Jahrzehnten (1931-1970) waren es bereits 71
Volksbegehren, von denen aber nicht weniger als 36 zurückgezogen
wurden (6 zugunsten von Gegenentwürfen, 30 aus anderen Gründen);
eine Initiative wurde ungültig erklärt.
- Von 1971-2000 wurden 144 Initiativen eingereicht; in 39 Fällen
kam es zu Rückzügen (11 zugunsten eines Gegenentwurfs, 28 aus
anderen Gründen), und drei Initiativen wurden ungültig
erklärt. Seit 2001 war die Einreichung von rund 90 Initiativen zu
verzeichnen[54].
- Ende Juni 2015 waren 14 Volksbegehren im Sammelstadium, 3 beim
Bundesrat, 7 bei der Bundesversammlung hängig und 4 abstimmungsreif[55].
Die Initiativflut ist zu einem wesentlichen Teil[56] darauf
zurückzuführen, dass Parteien und andere Interessengruppen in
vielen Fällen durch Volksbegehren gar nicht Verfassungsrecht schaffen
wollen, sondern die Initiative zum Instrument der Rechtsetzung auf der
Gesetzesstufe entfremden oder zum reinen Propagandawerkzeug pervertieren.
Die Erfolgsaussichten sind besonders im letzteren Fall
häufig Nebensache, wenn die Initianten nur ein möglichst grosses
Medienecho (z.B. im Hinblick auf Wahlen) erzielen[57].
Die zeitliche Belastung von Verwaltung, Bundesrat und Bundesversammlung
durch die verwaltungsinterne und parlamentarische Behandlung nicht
verfassungswürdiger und z.T. geradezu absurder Volksbegehren[58], die personelle und
finanzielle Inanspruchnahme von Bund und Kantonen durch Vorbereitung und
Durchführung der Abstimmungen sowie die Strapazierung der
Stimmbürger durch die häufigen Urnengänge drohen zu einer
Gefahr für das politische Leben der Schweiz zu werden: Die politische
Hauptarbeit der Behörden leidet[59], und die
Staatsverdrossenheit der Stimmberechtigten steigt - eine auf die Dauer
unheilvolle Entwicklung[60].
Der steile Anstieg der Anzahl von Abstimmungen über Volksinitiativen
ist jedoch nicht die einzige negative Konsequenz der bisherigen
Prüfungspraxis. Noch weit gefährlicher ist ein Aspekt, welcher
der Öffentlichkeit bis vor Kurzem kaum bewusst geworden ist. Auf diese
Entwicklung ist im Folgenden näher einzugehen.
VI. Die Verschiebung der verfassungsmässigen Kompetenzordnung
A. Der Stand der Diskussion über die Bedeutung der
Verfassungswürdigkeit
Der heutige Stand der Diskussion über die Bedeutung der
Verfassungswürdigkeit und des Begriffs der materiellen Verfassung
lässt sich wie folgt zusammenfassen:
- In der Lehre wird nach wie vor zwischen der Verfassung im materiellen
und im formellen Sinn unterschieden, jedoch die Auffassung vertreten, die
Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Verfassungsrecht sei
«entbehrlich» bzw. «juristisch ganz und gar
überflüssig»[61]. Dass die Verfassung
nur Bestimmungen enthalten sollte, welche im formellen und im materiellen
Sinn Verfassungsrecht, d.h. vom Verfassungsgeber erlassen worden und
inhaltlich der staatlichen Grundordnung zugehörig sind, wird zwar kaum
bestritten[62], aber als
rein rechtspolitisches oder gar «verfassungsästhetisches»
Postulat abgetan[63]. Eine
Mehrheit der Lehre teilt somit im Wesentlichen die von Bundesrat und
Bundesversammlung unter Berufung auf die Volkssouveränität
vertretene Auffassung, einzig Volk und Stände hätten zu
bestimmen, was Bestandteil der BV werden könne[64]. Am weitesten geht
wohl die 2014 erschienene dritte Auflage des St. Galler Kommentars zur BV
(Hervorhebungen mit Ausnahme der ersten durch den Verfasser):
«Im Rahmen der Schrankennorm von Abs. 3 können die Initianten
eine beliebige Revision der BV vorschlagen. Das schweizerische
Verfassungsrecht kennt keinen materiellen Verfassungsbegriff (…). Das
Kriterium der Verfassungswürdigkeit hat somit keine rechtliche
Bedeutung, sondern ist vielmehr ein rechtspolitisches Postulat. Eine
Volksinitiative darf auch Bestimmungen zum Gegenstand eines
obligatorischen Referendums machen, die weniger wichtig sind und eher
in ein Gesetz oder eine VO gehören würden.
Daran hat auch die mehrfache explizite Ablehnung der
Einführung einer Gesetzesinitiative nichts geändert
(…). … Durch das Fehlen eines materiellen
Verfassungsbegriffs entfällt zudem auch grundsätzlich der
Rechtssatz als Kriterium für die Verfassungsgebung. Nicht nur
generell-abstrakte Normen,
auch Einzelakte können Gegenstand einer Volksinitiative sein
…»[65].
- Die gegenteilige Auffassung, wonach die Gültigkeit einer
Volksinitiative die Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts voraussetze,
wird insbesondere von É. Grisel vertreten, welcher in diesem
Zusammenhang den Begriff «unité de rang» verwendet und ihn
gleichberechtigt der «unité de forme» sowie der
«unité de matière» an die Seite stellt:
«Le principe de l'unité de rang est implicite, mais ressort
clairement du système établi par la Constitution. L'article
139 entraîne deux corollaires: l'initiative populaire doit d'abord
viser la Constitution et non un texte normatif de niveau
inférieur; ensuite, elle ne saurait comporter à la fois des
dispositions constitutionnelles et législatives. Ces limites, qui
dépendent l'une de l'autre, se justifient à trois
égards. Avant tout, l'article 195, combiné avec l'article
141, implique que la démocratie semi-directe avance en deux
étapes: lorsqu'un projet exige une révision
constitutionnelle, puis l'adoption d'une loi, ces opérations ne
peuvent pas coïncider, elles doivent se dérouler
successivement. L'unité de rang complète aussi celle de la
matière: puisque l'ordre juridique distingue deux degrés de
normes, il serait abusif de mélanger les genres, car le peuple a
le droit de se prononcer séparément sur les différents
textes. Enfin et surtout, le régime semidirect suppose que le
législateur ait son mot à dire après le vote du
constituant; il serait déjoué, si la Constitution posait
elle-même des règles légales.»[66]
B. Die Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes für die
Prüfung von Volksbegehren
Die vorherrschende Meinung (VI. A. hievor) geht auf die im
bundesrätlichen Rheinau-Bericht enthaltene Auslegung von Art. 118 aBV
zurück[67]. Diese
konzentriert sich auf die (auch in Art. 192 Abs. 1 BV enthaltene) Aussage,
die BV könne «jederzeit ganz oder teilweise revidiert
werden» und kommt zum Schluss, die BV enthalte weder ausdrücklich
noch stillschweigend inhaltliche Schranken der Verfassungsrevision[68]. Ob diese
Schlussfolgerung auch heute noch zutrifft, kann und muss im Rahmen der
vorliegenden Untersuchung offen bleiben. Festzuhalten ist, dass die
bundesrätliche Analyse in einem wesentlichen Punkt zu kurz greift:
Der Rheinau-Bericht wirft die Frage, ob der Begriff
«Bundesverfassung» in Art. 118 aBV bzw. in Art. 192 Abs. 1 BV
nicht impliziere, dass eine Verfassungsvorlage keine unterstufigen
Rechtsnormen enthalten darf, ohne eingehende Begründung in den
gleichen Topf wie die Frage nach den inhaltlichen Schranken der
Verfassungsrevision und verneint sie[69]. Die beiden Fragen
sind aber strikte zu trennen: Die Frage der Verfassungswürdigkeit
einer Vorlage hat mit deren rechtlich-politischem Inhalt nichts zu tun; es
geht nicht darum, wie ein bestimmtes Problem materiell geregelt werden
soll, sondern um die Frage, ob die anvisierte Regelung auf der obersten
Rechtsetzungsstufe zu treffen ist. Diese Frage steht in engem Zusammenhang
mit der Einhaltung der verfassungsmässigen, gewaltenteiligen
Zuständigkeitsordnung:
Gemäss der BV ist für den Erlass von Verfassungsnormen eine
andere Instanz zuständig als für die Schaffung von unterstufigem
Recht: Die Verfassungsgebung fällt in die Kompetenz von Volk und
Ständen, während die Gesetzgebung unter Vorbehalt des
fakultativen Referendums der Bundesversammlung obliegt; Bundesrat und
Bundesverwaltung schliesslich sind zum Erlass von Verordnungsrecht
zuständig (Art. 163-165 bzw. 182 BV)[70]. Damit setzt die BV
den Grundsatz der Gewaltenteilung[71] um; dieser muss in
einem Staat, dessen Rechtsordnung je nach Erlassstufe die Mitwirkung
unterschiedlicher Organe an der Rechtsetzung vorsieht, nicht nur auf das
Verhältnis zwischen den drei Grundgewalten Legislative, Exekutive und
Gerichtsbarkeit, sondern auch auf die Beziehung zwischen den
unterschiedlichen rechtsetzenden Organen Anwendung finden[72].
Die Verteilung der rechtsetzenden Gewalt auf den beiden obersten Stufen hat
zur Folge, dass, wenn eine Verfassungsvorlage in Frage steht, die
Rechtsetzung i.d.R. in zwei Phasen abzulaufen hat[73]:
- Auf der Verfassungsstufe haben Volk und Stände über eine
Vorlage zu entscheiden, welche
-
entweder vom Parlament ausgegangen und durch dieses beraten worden
ist;
- oder auf einem Volksbegehren beruht und vom Parlament nicht
verändert, sondern nur durch einen Gegenvorschlag ergänzt werden
darf.
- Auf der Gesetzesstufe erfolgt die Konkretisierung der
Verfassungsbestimmung durch das Parlament, dem unter Vorbehalt des
fakultativen Referendums das Gesetzgebungsmonopol zusteht.
Das Verfahren der Rechtsetzung auf dem Weg der Volksinitiative ist
grundlegend verschieden vom ordentlichen Rechtsetzungsverfahren[74]:
- Am Anfang des ordentlichen Rechtsetzungsverfahrens steht in den meisten
Fällen ein Erlassentwurf des Bundesrates, welcher zunächst in das
Vernehmlassungsverfahren geht (Art. 3-5 VlG[75]). Nach Ablauf der
Vernehmlassungsfrist werden die Stellungnahmen gewichtet und ausgewertet
(Art. 8 VlG), und der Bundesrat verfasst seine Botschaft an das Parlament
(Art. 141 ParlG[76]). Es
folgt die Behandlung in den Kommissionen (soweit vorgesehen, Art. 42 ff.
ParlG) und in den Plena von National- und Ständerat (Art. 71 ff.
ParlG); untersteht die Vorlage dem obligatorischen Referendum oder kommt
ein fakultatives Referendum zustande, so schliesst sich die Volksabstimmung
an (Art. 140-142 BV).
- Im Falle der Volksinitiative wird der gemäss Art. 69 BPR durch die
Bundeskanzlei vorgeprüfte Initiativtext nach dem Zustandekommen des
Volksbegehrens (Art. 72 BPR) durch den Bundesrat mit einer Botschaft der
Bundesversammlung unterbreitet (bei einer Initiative in Form des
ausgearbeiteten Entwurfs gegebenenfalls zusammen mit einem Gegenentwurf,
Art. 97 ParlG). Das Parlament kann und muss die Initiative bei Vorliegen
der Voraussetzungen ganz oder teilweise ungültig erklären (Art.
98 ParlG); ist die Initiative gültig, so hat die Bundesversammlung bei
einer Initiative in Form des ausgearbeiteten Entwurfs zu beschliessen, ob
sie das Volksbegehren zur Annahme oder Ablehnung empfiehlt (Art. 100
ParlG). Die Abänderung eines gültigen Initiativtextes ist dem
Parlament nicht gestattet (Art. 99 ParlG); es kann jedoch gleichzeitig mit
der Initiative einen Gegenvorschlag zur Abstimmung unterbreiten (Art. 101
ParlG).
Der Unterschied zwischen den beiden Verfahren ist offensichtlich:
- Das ordentliche Rechtsetzungsverfahren ist darauf angelegt, die
Meinungen der interessierten Kreise schon vor Beginn der parlamentarischen
Beratung kennenzulernen und zu berücksichtigen
(Vernehmlassungsverfahren) sowie im parlamentarischen Verfahren
Interessengegensätze durch das Zusammenwirken der beiden Kammern
auszugleichen oder zu verringern.
- Bei dem durch ein Volksbegehren eingeleiteten Rechtsetzungsverfahren
muss die Initiative, soweit sie gültig ist, Volk und Ständen ohne
jede Änderung unterbreitet werden (Art. 99 ParlG). Das
Vernehmlassungsverfahren und, soweit nicht die Gültigkeit der
Initiative betroffen ist, eine materielle Beratung durch National- und
Ständerat entfallen.
Das Rechtsetzungsverfahren, das durch eine Initiative eingeleitet wird,
schafft offensichtlich eine gewichtige Ausnahme zum ordentlichen Verfahren
und liegt deshalb quer in der politischen Landschaft[77]. Das ist von der
Verfassung gewollt, aber nur für Volksbegehren, welche auf eine
Abänderung der Verfassung gerichtet sind. Die direkte Einflussnahme
der Stimmberechtigten auf die unterstufige Rechtsetzung ist gemäss der
Verfassung auf das Korrektiv des Gesetzesreferendums (Art. 141 f. BV)
beschränkt[78].
Eine Verfassungsvorlage, welche neben verfassungsrechtlichen auch
unterstufige Normen oder ausschliesslich unterstufige Bestimmungen
enthält, unterläuft die verfassungsmässige Kompetenzordnung
gleich doppelt: Sie schränkt das Parlament in der Ausübung seiner
Gesetzgebungskompetenz ein, und sie entzieht den Stimmberechtigten die
Möglichkeit, auf dem Wege des fakultativen Referendums zum Resultat
des Gesetzgebungsverfahrens Stellung zu nehmen. Die Konsequenz ist eine
schleichende Verschiebung der verfassungsmässigen Zuständigkeiten
durch eine Teilentmachtung des Parlaments und der Stimmberechtigten als
Gesetzgeber.
Im Falle einer Volksinitiative mit unterstufigem Inhalt setzt letztlich
eine durch das Initiativkomitee vertretene Interessengruppe mit der
Formulierung des Initiativtextes die erwähnte Verschiebung der
verfassungsmässigen Kompetenzen in Gang. Die Problematik dieser
Entwicklung konnte der Bundesrat bei der Behandlung der Rheinau-Initiative
vor rund 60 Jahren noch nicht voraussehen und würdigen; sie ist aber
heute hoch aktuell, weil sich in neuester Zeit Volksbegehren häufen,
welche
- durch extrem detaillierte Formulierung die
Ausführungsgesetzgebung vorwegnehmen und dadurch in den
Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers eingreifen[79];
- die «strikte» Umsetzung von angenommenen Volksbegehren
verlangen, bevor die nach der Verfassung für die Umsetzung
zuständige Behörde (i.d.R. die Bundesversammlung) ihre Arbeit
abgeschlossen und gegebenenfalls das Volk über ein Referendum
entschieden hat[80].
Diese Entwicklung lässt sich nach der hier vertretenen Auffassung
nicht einfach durch die Berufung auf die Volkssouveränität
rechtfertigen; sie zeigt vielmehr, dass die vom Bundesrat im
Rheinau-Bericht vertretene Auffassung, nur Volk und Stände hätten
zu entscheiden, was in die Verfassung aufgenommen werden kann[81], zumindest aus
heutiger Sicht nicht mehr haltbar ist. Bereits unter der aBV hat Wildhaber
1988 festgehalten, der Glaube an die Allmacht des Volkes widerspreche
«dem Mindestmass an Skepsis», das man «im liberalen
Verfassungsstaat jeder Manifestation öffentlicher Gewalt
entgegenbringen» sollte[82]. In neuester Zeit
weisen J.P. Müller/ G. Biaggini mit Recht darauf hin, dass die BV
nirgends von Volkssouveränität oder davon spreche, dass «das
Volk» souverän sei; Gewaltenteilung und Schutz individueller
Freiheit setzten auch der Verfügungsgewalt des Volkes klare Grenzen[83].
C. Der materielle Gehalt des Begriffs «Bundesverfassung»
Die bisherige Praxis der Prüfung von Volksinitiativen läuft
darauf hinaus, dem Begriff «Bundesverfassung», wie er in Art. 139
und 194 BV verwendet wird, jeden materiellen Gehalt und damit dem Kriterium
der Verfassungswürdigkeit von Volksbegehren jede rechtliche Bedeutung
abzusprechen. Nach der hier vertretenen Auffassung hat jedoch bei jeder
Interpretation einer Rechtsnorm deren materieller Gehalt im Vordergrund zu
stehen. Warum dies ausgerechnet für grundlegende Verfassungsnormen wie
diejenigen über die Verfassungsrevision nicht gelten sollte, ist nicht
einzusehen; gerade hier dürfen sich die zuständigen Behörden
der Verpflichtung nicht entziehen, den materiellen Gehalt des
Begriffs «Bundesverfassung» zu ermitteln. Dass dies mit
Schwierigkeiten verbunden sein kann, ändert an der Verpflichtung
nichts.
Behörden und Lehre haben sich seit langem - und auch in neuerer Zeit -
immer wieder intensiv mit dem materiellen Begriff der Verfassung
auseinandergesetzt:
- In der Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung vom 20. November
1996 hat der Bundesrat unter dem Titel «Verfassungsrang» die
Grundzüge der Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und
unterstufigem Recht wie folgt formuliert[84]:
«Verfassungswürdig sind zweifellos Bestimmungen, die in
allgemeiner Weise das Wesen der Schweizerischen Eidgenossenschaft
umschreiben. Verfassungswürdig sind sodann Bestimmungen, die die
grundlegenden Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger
nennen. Zu den verfassungswürdigen Bestimmungen gehören im
weiteren namentlich solche, die die wesentlichen Ziele und Aufgaben des
Staates festlegen. Unentbehrlich sind dabei in unserem
föderalistisch organisierten Staatswesen die Bestimmungen
über die Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bund und den
Kantonen. Verfassungswürdigkeit kommt schliesslich vor allem auch
den Bestimmungen über das institutionelle Grundgerüst des
Staates und die wichtigsten Entscheidungsverfahren zu.»
Im Folgenden hat der Bundesrat jedoch die «Zeitbezogenheit» und
die «politische Vereinbarung» der Verfassungsmaterie zum Anlass
genommen, dem Kriterium der Verfassungswürdigkeit die rechtliche
Bedeutung abzusprechen[85].
- Die Ansichten der Lehre über den materiellen Begriff und die
Funktionen der Verfassung stimmen untereinander und mit den unter 1.
zitierten Ausführungen des Bundesrates in den grossen Zügen
überein[86]:
Die Verfassung ist der
«Inbegriff der Rechtsnormen …, die als Grundlage der
rechtsstaatlichen und demokratischen Staatsordnung in die Verfassung
gehören; sie umfasst insbesondere die Grundsätze der
gewaltenteiligen Staatsorganisation, die Grundrechte und die
politischen Rechte, andere rechtsstaatliche Garantien und
Grundsätze über die Staatsaufgaben»[87].
Zur Verfassung zählt man
«alle Rechtssätze, die wegen ihres Gehalts als die Grundlage
eines freiheitlichen, demokratischen und sozialen Bundesstaats
angesprochen werden können»[88].
Die Verfassung regelt
«im Wesentlichen die Grundlagen und Grundzüge der politischen
Ordnung, weist den Staatsbehörden ihre Aufgaben zu, sorgt für
Machtbegrenzung und enthält die bestimmenden grundlegenden Werte
für die Rechtsgemeinschaft»[89].
Die Verfassung ist
«l'ensemble des règles juridiques relatives à l'Etat.
Mais même cette formule est trop large, il faut encore la raboter
à l'aide d'une délimitation supplémentaire …
Toutes les règles juridiques relatives à l'Etat ne font pas
partie de la Constitution, mais seulement celles qui sont importantes.
Tel détail du droit électoral, telle précision sur le
calcul de l'impôt peuvent bien se rapporter à l'Etat, mais on
ne peut pas les rattacher à la Constitution; ce serait donner
à ce terme une extension contraire au langage courant. Il faudra
donc le réduire par l'usage d'un adjectif additionnel. On a dit
les règles importantes; pour réduire encore davantage, on
pourrait dire les règles fondamentales.»[90]
Die Bundesverfassung im materiellen Sinn kann somit definiert werden als
Inbegriff der Rechtsnormen, welche die Grundlage der demokratischen,
freiheitlichen, rechts-, bundes- und sozialstaatlichen Staatsordnung
bilden, d.h. insbesondere die Bestimmungen, welche
- die wesentlichen Ziele, Aufgaben und Behörden des Staates sowie
die grundlegenden Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger
umschreiben;
- im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen die Verteilung der
Zuständigkeiten und die Verfahren für die Auflösung von
Kompetenzkonflikten festlegen;
- die Verfahren für die Einsetzung der wesentlichen staatlichen
Behörden bestimmen.
Verfassungswürdig und als Inhalt einer Teilrevisionsinitiative
zulässig wären somit nur Bestimmungen, welche der vorstehenden
Umschreibung entsprechen. Dass die Umschreibung unbestimmte Rechtsbegriffe
verwendet, welche die Entscheidungsinstanz im Einzelfall zu konkretisieren
hat, ist normal und kein Grund, der Entscheidung auszuweichen[91].
D. Fazit
Die Realität der Initiativpraxis hat sich seit der Einführung der
Teilrevisionsinitiative vor rund 125 Jahren grundlegend verändert.
Wenn das Ziel der Verfassungsauslegung die Ermittlung des «aktuell
gültigen, situations- und wirklichkeitsbezogenen» Rechts sein
soll[92], so sind die
zuständigen Behörden verpflichtet, der Zweckentfremdung und
Pervertierung des Initiativrechts entgegenzuwirken, soweit dies im Rahmen
des geltenden Rechts möglich ist. Ein Mittel dazu ist die Anpassung
der bisherigen Prüfungspraxis an die Anforderungen der Wirklichkeit
durch die Anerkennung der Verfassungswürdigkeit als Kriterium für
die Gültigkeit von Volksinitiativen[93].
VII. Einwände gegen die Prüfung auf
Verfassungswürdigkeit
Gegenüber der Prüfung von Verfassungsvorlagen auf die
Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts wurden und werden Einwände
erhoben, auf welche im Folgenden einzugehen ist.
A. Das Fehlen eines Begriffs der materiellen Verfassung
Dass kein Begriff des materiellen Verfassungsrechts existiert[94], trifft nur insoweit
zu, als eine positivrechtliche Umschreibung des Begriffs in der
Bundesverfassung gemeint ist. Das Fehlen einer Legaldefinition ändert
aber nichts an der Tatsache, dass - wie in VI. B. hievor gezeigt - die
Unterscheidung zwischen materiell verfassungsstufigem und materiell
unterstufigem Recht für die schweizerische Rechtsordnung von
grundlegender Bedeutung ist.
Der Einwand, eine Umschreibung der materiellen Verfassung bzw. des
verfassungswürdigen Verfassungsinhalts sei untauglich, weil sie
notwendigerweise unbestimmte Rechtsbegriffe enthalte, schlägt nicht
durch:
Einmal gehört die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe zu den
alltäglichen Aufgaben jeder mit der Anwendung von Rechtsnormen
befassten Behörde. Ausserdem sind der BV unbestimmte Rechtsbegriffe
gerade im Zusammenhang mit der Abgrenzung zwischen verschiedenen
Rechtsetzungsstufen keineswegs fremd[95]. Schliesslich
enthält insbesondere Art. 139 BV noch andere Begriffe, deren
Auslegungsbedürftigkeit nicht in Frage steht[96].
B. Der Wandel der materiellen Verfassung
Es steht ausser Zweifel, dass der Begriff der materiellen Verfassung nicht
ein- für allemal festgeschrieben ist, sondern sich im Laufe der Zeit
wandelt[97]. Dies kann aber
kein Argument gegen die Prüfung von Volksinitiativen auf die
Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts sein: Die Behörde, welche die
Prüfung durchzuführen hat[98], kann und muss ihre
Prüfungspraxis veränderten Verhältnissen und Auffassungen
ebenso anpassen, wie dies andere Behörden (Gerichte,
Verwaltungsbehörden) zu tun haben. Dies gilt nicht nur für die
Prüfung auf Verfassungswürdigkeit, sondern ebenso für die in
Art. 139 Abs. 3 BV genannten Prüfungskriterien: Auch die Begriffe
«Einheit der Form», «Einheit der Materie» und
«zwingende Vorschriften des Völkerrechts» können sich
wandeln, und sie sind, wie bereits erwähnt, ebenso
auslegungsbedürftig wie der Begriff der materiellen Verfassung[99].
C. Das Fehlen der Gesetzesinitiative
Im Lauf der Jahrzehnte ist ein Argument gegen die Prüfung des Inhalts
von Volksbegehren auf seine Verfassungswürdigkeit unzählige Male
wiederholt worden: Weil die Rechtsordnung die Gesetzesinitiative nicht
vorsehe, seien Initianten in vielen Fällen gezwungen, unterstufiges
Recht in das Gewand einer Verfassungsinitiative zu kleiden[100]. Ein Mitglied des
Nationalrates hat dies 2009 bei der Beratung der Volksinitiative
«Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz - Ja!)»
wie folgt formuliert[101]:
«Man kann nun … allenfalls Recht geben, dass es eigentlich
nicht etwas sei, was auf der Verfassungsstufe gelöst werden
müsse. Wenn man aber wirklich findet, dass das nicht auf der
Verfassungsstufe gelöst werden soll, dann hätte man zu einer
vernünftigen Regelung im Rahmen der Strafprozessordnung oder im
Rahmen des Tierschutzgesetzes Hand bieten müssen. Das haben Sie
nicht gemacht, und von daher finde ich den Vorwurf von … an die
Vertreter des Tierschutzes eigentlich absurd, wenn sie das einzige
Mittel ergreifen, das ihnen noch bleibt, nämlich eine
eidgenössische Volksinitiative.»
Unverhohlener kann man das Pferd kaum am Schwanz aufzäumen: Die
Teilrevisionsinitiative ist nicht dazu geschaffen worden, eine Vorlage der
Gesetzesstufe, die im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit findet, unter
Umgehung des Parlaments als Verfassungsänderung durchzudrücken.
Richtig ist vielmehr das Gegenteil: Gerade weil das geltende Recht die
Gesetzesinitiative nicht vorsieht, ist es unzulässig, sie in Gestalt
der Verfassungsinitiative durch die Hintertüre zu praktizieren. Dies
sollte eigentlich allerspätestens seit dem 27. September 2009 klar
sein, als Volk und Stände die am 9. Februar 2003 gutgeheissene, aber
nie in Kraft getretene Verfassungsänderung über die
Einführung der allgemeinen Initiative wieder aufhoben[102].
D. Die Allmacht des Volkes
Die vom Bundesrat in seinem Bericht vom 4. Mai 1954 zur Rheinau-Initiative
vertretene Auffassung, nur Volk und Stände könnten entscheiden,
was in die Verfassung aufgenommen werden kann (vgl. Fn. 38 ff.)[103], ist aus heutiger
Sicht nicht mehr haltbar. Auf die Äusserung von Wildhaber, der
Glaube an die Allmacht des Volkes widerspreche «dem Mindestmass an
Skepsis», das man «im liberalen Verfassungsstaat jeder
Manifestation öffentlicher Gewalt entgegenbringen» sollte, wurde
bereits hingewiesen[104].
J.P. Müller/G. Biaggini warnen in neuester Zeit, dass die einzigartige
Befugnis, über welche Volk und Stände mit der
Verfassungsinitiative verfügen, in «eine neue Art von
Absolutismus» abgleiten könne, und sie weisen zu Recht darauf
hin, dass die neuen Möglichkeiten der Kommunikation nicht nur das
Sammeln von Unterschriften erleichtert, sondern auch eine Intensivierung
der Werbung und anderer Formen der Mobilisierung von Abstimmenden mit sich
gebracht haben[105].
E. Fazit
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Einwände, welche gegenüber
dem Kriterium der Verfassungswürdigkeit als Massstab für die
Prüfung von Volksbegehren erhoben werden, nicht schlüssig sind.
Dies gilt insbesondere für das nach der hier vertretenen Auffassung
eher axiomatische Argument, die BV kenne keinen materiellen
Verfassungsbegriff, und das Kriterium der Verfassungswürdigkeit habe
deshalb keine rechtliche Bedeutung.
VIII.Derogierendes Gewohnheitsrecht durch langjährige
Prüfungspraxis?
Die unter IV.-V. beschriebene Praxis der Bundesversammlung, Volksbegehren
nicht auf die Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts zu prüfen, war
während mehr als 120 Jahren konstant. Wäre deshalb ein Festhalten
an dieser Praxis mit der Begründung zu rechtfertigen, sie habe sich
zum Gewohnheitsrecht verdichtet?
Die Bildung von Gewohnheitsrecht setzt zweierlei voraus: Eine
langjährige, ununterbrochene und einheitliche Übung und eine
durch sie geschaffene Rechtsüberzeugung (opinio necessitatis) bei den
rechtsanwendenden Behörden und bei den betroffenen Bürgern[106]. Das erste
Erfordernis ist im vorliegenden Fall zweifellos erfüllt. Von einer
Rechtsüberzeugung kann jedoch nicht die Rede sein, denn allzu
zahlreich sind die Anzeichen dafür, dass den politischen Behörden
die Fragwürdigkeit ihrer Prüfungspraxis von Anfang an sehr wohl
bewusst war:
- Bereits im Zusammenhang mit der allerersten Teilrevisionsinitiative
(Schächtverbot) wurde 1893 in der Bundesversammlung die Frage
aufgeworfen, ob die polizeiliche Regelung des Schächtens
verfassungswürdig sei[107].
- In der Botschaft des Bundesrates betreffend Einführung der
Volksinitiative für die Bundesgesetzgebung vom 6. März 1906 wird
ausgeführt[108]:
«Es soll … dem Volke die Möglichkeit gegeben werden,
seinem Willen in geeigneter korrekter Form Ausdruck zu
geben. Dass dies notwendig ist, beweist das Beispiel der
Schächtinitiative. Es gibt keine andere Verfassung, die eine so
eigenartige "Verfassungsbestimmung" wie den Schächtartikel (Art.
25 bis) der Bundesverfassung kennt» (Hervorhebung durch den
Verfasser).
- Im Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung «über ein
Volksbegehren für die Einführung der Gesetzesinitiative im
Bund» vom 29. Dezember 1959 steht unter dem Titel «Schutz der
Reinheit der Verfassung durch die Gesetzesinitiative?» zu lesen[109]:
«Initiantengruppen, die es anerkanntermassen gar nicht auf eine
Verfassungsrevision … absehen, sondern auf Erlass oder
Änderung von Bestimmungen der Gesetzesstufe, greifen heute
bisweilen zum Mittel der Verfassungsinitiative auf Partialrevision,
indem sie sich darauf berufen, dass eben das passende Mittel, die
Gesetzesinitiative, nicht zur Verfügung stehe. Hat eine solche
Verfassungsinitiative Erfolg, so wird die Bundesverfassung mit
Vorschriften belastet, die
mit der Idee der Verfassung als Grundgesetz der Eidgenossenschaft
nichts zu schaffen haben, sondern von Rechts wegen in ein einfaches
Bundesgesetz gehören würden» (Hervorhebung durch den Verfasser).
- In der nach Einführung des Frauenstimmrechts erstatteten Botschaft
des Bundesrates «über eine Erhöhung der Unterschriftenzahlen
für Initiative und Referendum» vom 9. Juni 1975 steht unter dem
Titel «Materielle Schranken der Verfassungsinitiative» zu lesen[110]:
«Im Vordergrund steht die Frage, ob schlechthin alles zum
Gegenstand einer Verfassungsinitiative gemacht werden könne oder
ob dieser inhaltliche (materielle) Schranken gesetzt seien.
Während die politischen Bundesbehörden bisher solche
Schranken verneint haben, gehen die Meinungen im schweizerischen
Schrifttum weit auseinander: Namhafte Staatsrechtler lehnen materielle
Schranken vorbehaltlos ab, ebenso namhafte bekennen sich zur These,
dass
die Verfassung jedenfalls stillschweigende Schranken enthalte» (Hervorhebung durch den Verfasser).
- Der Bericht des Bundesrates zur Totalrevision der Bundesverfassung
(Motionen Obrecht und Dürrenmatt) vom 6. November 1996 hält fest[111]:
«Die Verfassung enthält Normen, die nach verbreiteter
Überzeugung der Verankerung in einem Staatsgrundgesetz nicht
würdig sind und ihrer Bedeutung und Tragweite nach auf
Gesetzes- oder gar Verordnungsstufe zu erlassen gewesen wären.
Zu nennen sind etwa das Ordensverbot (Art. 12), das Absinthverbot (Art.
32ter) und der Spielbankenartikel (Art. 35). Zahlreich sind sodann die
Bestimmungen, die - als Ergebnisse längst verglühter tages-
und interessenpolitischer Hitzeschlachten - durch kaum erträgliche
Weitschweifigkeit, Kompliziertheit, Unklarheit und Detaillierung
auffallen» (Hervorhebung durch den Verfasser).
- In der Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung vom 20. November
1996 weist der Bundesrat wiederholt auf die Überwucherung der
Verfassung durch inhaltlich nicht verfassungswürdige
Teilrevisionsinitiativen hin[112]:
«Eine wesentliche Lücke im System der Volksrechte ist das
Fehlen der Gesetzesinitiative. Mehr als die Hälfte der
gegenwärtig hängigen oder angekündigten
Verfassungsinitiativen könnte auf Gesetzesebene realisiert
werden.
Zwar wurde der Grossteil dieser Verfassungsinitiativen, die materiell
Gesetzescharakter haben, verworfen, doch arbeitete die
Bundesversammlung häufig Gegenentwürfe dazu
aus,
die in die Verfassung Eingang fanden, ohne dorthin zu gehören.
Dadurch wurde die Verfassung von Details der Gesetzesstufe
überwuchert. Und vor allem führt dies dazu, dass der
Verfassungsgeber veranlasst wird, über normative Inhalte zu
entscheiden, für die der Gesetzgeber - und zum Teil sogar der
Verordnungsgeber - rein funktionell betrachtet geeigneter wäre. Mit der Einführung der allgemeinen Volksinitiative könnte
diese Lücke geschlossen werden» (Hervorhebung mit Ausnahme
des ersten Satzes durch den Verfasser).
- Im Zusammenhang mit der parlamentarischen Initiative «Beseitigung
von Mängeln der Volksrechte», welche zur Verfassungsänderung
von 2003 führte (vgl. II. hievor), äusserte sich die
Staatspolitische Kommission des Ständerates in ihrem Bericht vom 2.
April 2001 wie folgt[113]:
«Volksbegehren, die auf Rechtsetzungsakte unterhalb der
Verfassungsstufe oder auf Einzelakte abzielen, können heute nur auf dem Umweg über Verfassungsinitiativen
eingebracht werden. Die allgemeine Volksinitiative oder das
Einzelaktreferendum würden zweckmässigere Verfahren
schaffen» (Hervorhebung durch den Verfasser).
Die Kommission bezeichnete die allgemeine Volksinitiative als
«Instrument, mit dem stufengerecht gesteuert werden kann»[114], und Abs. 3 des in
der Folge von Volk und Ständen angenommenen Art. 139a BV betreffend
die allgemeine Volksinitiative hätte der Bundesversammlung denn auch
ermöglicht, die für die Umsetzung der Initiative angemessene
Rechtsstufe zu bestimmen[115]. Mit der Aufhebung
der Verfassungsbestimmungen über die allgemeine Volksinitiative im
September 2009 (vgl. II. hievor) fiel die Möglichkeit zur
«stufengerechten Steuerung» der Rechtsetzung wieder dahin, ohne
je in Kraft getreten zu sein.
Die vorstehenden beispielhaften Ausführungen[116] liessen sich durch
zahlreiche Äusserungen von Mitgliedern der Bundesversammlung
ergänzen; sie zeigen, dass im Laufe der Jahrzehnte die
Verfassungswürdigkeit des Inhalts von Teilrevisionsinitiativen immer
wieder diskutiert und die Schaffung von unterstufigem Recht durch solche
Volksbegehren kritisiert wurde. Dazu kommt, dass die Einführung der
Gesetzes- bzw. der allgemeinen Initiative mehrmals versucht und verworfen
wurde[117] Eine für
die Bildung von Gewohnheitsrecht notwendige Rechtsüberzeugung konnte
sich so nicht entwickeln[118].
IX. Neueste Entwicklungen
Bis vor relativ kurzer Zeit sahen Politik, Lehre und Medien die Probleme
des Initiativrechts vor allem im Missverhältnis zwischen
Unterschriftenzahl und Anzahl der Stimmberechtigten sowie in der
Entfremdung der Volksbegehren zum Mittel der politischen Propaganda. Die
z.T. fragwürdigen Initiativen der letzten Jahre scheinen der
Öffentlichkeit nun auch die Gefahr bewusst gemacht zu haben, welche
eine schleichende Verschiebung der verfassungsgemässen
Kompetenzordnung durch Initiativen mit unterstufigem Inhalt nach sich
zieht. Demgemäss zeichnet sich in Lehre und Praxis ein Umdenken mit
Bezug auf die hier untersuchte Frage ab:
- Nachdem der Ständerat in der Sommersession 2014 die Initiative
«Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV
(Erbschaftssteuerreform)» zur Prüfung der Gültigkeit an
seine Kommission zurückgewiesen hatte[119], begannen sich
Politiker und Medien vermehrt zur Frage zu äussern[120].
- J.P. Müller/G. Biaggini[121] machen die
Möglichkeit von Konflikten zwischen Volkssouveränität
und Gewaltenteilung deutlich[122] und sprechen sich
für die «Einbettung der Verfassungsinitiative in
fundamentale Grundsätze eines demokratischen Staatsrechts» aus[123]. Besonderes Gewicht
messen sie der Gewaltenteilung als Schranke der Volkssouveränität
zu[124].
- R. Rhinow[125]
verweist unter dem Eindruck der neuesten Entwicklungen u.a. auf
- die programmhafte, unsorgfältige und überschiessende
Formulierung vieler Initiativen, die mehr auf die Funktionen eines
permanenten Wahlkampfs als auf eine seriöse Einbettung neuere Normen
in die BV zugeschnitten seien[126];
- die Unsitte, Bestimmungen mit Gesetzescharakter auf die Stufe der
Verfassung zu heben und dadurch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zu
umgehen[127];
- die seines Erachtens in der Wissenschaft unbestrittene Tatsache,
dass es der Bundesversammlung nicht verwehrt ist, neue ungeschriebene
Schranken des Initiativrechts zu anerkennen[128].
Rhinow ruft die Bundesversammlung auf, ungeachtet allfälliger Reformen
«von ihren verfassungsmässigen Kompetenzen klar und deutlich
Gebrauch zu machen»; diese Äusserung könnte als Aufforderung
zur Verschärfung der Praxis bei der Prüfung von Volksinitiativen
verstanden werden[129].
- P. Uebersax[130] nimmt
die sog. Durchsetzungsinitiative[131] zum Anlass, die
Funktion von Verfassung und Gesetz sowie die von der BV festgelegten
Organzuständigkeiten aufzuzeigen. Er kommt zum Schluss, dass der
Bundesversammlung unter Vorbehalt des fakultativen Referendums ein
verfassungsrechtliches Monopol auf die Gesetzgebung zusteht, und dass
dieses Monopol durch Volksinitiativen verletzt wird, welche dem Parlament
den Erlass der Ausführungsgesetzgebung zu einer bereits in der
Verfassung als Gesetzgebungsauftrag geregelten Materie entreissen wollen[132]. Uebersax
betrachtet es als fraglich, ob die Zulassung von verkappten
Gesetzesinitiativen trotz dem Ausschluss dieser Initiativart auf
Bundesebene mit der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung
vereinbar ist, und er warnt vor der Gefahr, dass sich «aus einer
vorerst selektiven Aufweichung der Zuständigkeitsordnung nach und nach
eine neue Gewichtung der Kompetenzverteilung und damit der politischen
Machtverhältnisse entwickeln könnte»[133].
Es ist zu hoffen, dass sich diese Entwicklung nicht als Strohfeuer erweist,
sondern die nötigen politischen Aktionen auslöst. Vor allem die
Bundesversammlung sollte sich gegen ihre Entmachtung mit Nachdruck zur Wehr
setzen.
X. Zuständigkeit zur Prüfung von Volksbegehren
Gemäss Art. 139 Abs. 3 BV ist die Bundesversammlung für die
Ungültigerklärung von Volksbegehren wegen Verletzung der in der
Verfassung ausdrücklich genannten Grundsätze und Normen
(Einheit der Form und der Materie sowie zwingende Bestimmungen des
Völkerrechts) zuständig. Wenn Art. 139 BV, wie gezeigt wurde, die
Prüfung von Volksinitiativen auch auf die Verfassungswürdigkeit
ihres Inhalts zulässt, so kann keinem Zweifel unterliegen, dass
für diese Prüfung ebenfalls die Zuständigkeit der
eidgenössischen Räte gilt[134].
Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu beantworten, ob es richtig sei,
wenn gerade die Bundesversammlung über die Verfassungswürdigkeit
des Inhalts von Volksbegehren entscheidet[135]. Nach dem geltenden
Recht ist die Zuständigkeit des Parlaments unzweifelhaft, und es liegt
in seiner Verantwortung, die Prüfung so zu organisieren und
durchzuführen, dass sie rechtlich solid und politisch
glaubwürdig ausfällt[136]. Es wäre
bedenklich, wenn die Bundesversammlung eine Ausweitung der Prüfung von
Volksbegehren auf die Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts nur
umsetzte, um politisch missliebige Initiativen besser zu Fall bringen zu
können.
XI. Zusammenfassung und Ausblick
Nach der hier vertretenen Auffassung ist das Kriterium der
Verfassungswürdigkeit keineswegs ein rein rechtspolitisches Postulat
ohne rechtliche Bedeutung[137] oder gar ein
blosses Postulat der Verfassungsästhetik[138], sondern eine
Schranke gegen die Überforderung der politischen Behörden mit
Einschluss von Volk und Ständen durch die stetig wachsende Anzahl von
Volksbegehren und insbesondere gegen die gefährliche schleichende
Verschiebung der verfassungsmässigen Kompetenzordnung durch
Volksinitiativen mit unterstufigem Inhalt. Deshalb ist es an der Zeit, dass
die Bundesversammlung ihre bisherige Prüfungspraxis ändert und
tut, wozu sie gemäss Art. 139 BV de lege lata befugt und verpflichtet
ist: Volksinitiativen auf die Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts
prüfen und, wenn diese Prüfung negativ ausfällt,
ungültig erklären.
Die Prüfung auf Verfassungswürdigkeit würde
- der staatspolitisch gefährlichen Entmachtung des Gesetzgebers
durch materielles Gesetzesrecht steuern, das auf dem Weg der
Verfassungsinitiative - d.h. unter Umgehung des ordentlichen
Gesetzgebungsverfahrens - geschaffen worden ist;
- die bisher durch Teilrevisionsinitiativen geschaffene unterstufige
Spreu vom Weizen der Verfassungsstufe trennen und damit die
übermässige Belastung von politischen Behörden und
Stimmberechtigten durch nicht verfassungswürdige Volksbegehren
reduzieren;
- längerfristig präventiv wirken, weil potentielle
Initianten sich gut überlegen müssten, ob sie die mit der
Lancierung eines Volksbegehrens verbundenen Kosten und Mühen auf sich
nehmen wollen, wenn sie die Ungültigerklärung eines Begehrens mit
unterstufigem Inhalt riskieren[139].
Die Vermischung von materiellem Verfassungs- und Gesetzesrecht durch
Teilrevisionsinitiativen hat die Nachführung und Bereinigung der BV
durch die Totalrevision von 1999 weitgehend zunichte gemacht und dem
Respekt von Behörden und Stimmberechtigten vor dem höchsten
Gesetz der Eidgenossenschaft geschadet. Die konsequente Trennung von
Verfassungsrecht und unterstufigen Rechtsnormen durch die Erweiterung der
Prüfung von Teilrevisionsinitiativen auf die
Verfassungswürdigkeit ihres Inhalts würde auch dazu beitragen,
die Achtung vor der Bundesverfassung, mit der es in den letzten Jahren
nicht immer weit her gewesen ist[140],
wiederherzustellen.
[1]
Die Klage ist keineswegs neu (vgl. z.B. Botschaft vom 9. Juni 1975
über eine Erhöhung der Unterschriftenzahlen für
Initiative und Referendum, BBl 1975 II 129 ff., 134, 137, zit.
Botschaft Erhöhung; Botschaft vom 20. November 1996 über
eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1 ff., 436 ff., zit.
Botschaft BV); sie war aber noch nie so berechtigt wie heute.
[2]
Die bei Einführung der Initiative auf Teilrevision im Jahre
1891 gültige Unterschriftenzahl von 50'000 machte damals rund
7,8% der Stimmberechtigten aus; sie wurde seither einmal (nach der
Einführung des Frauenstimmrechts) erhöht und entsprach
Ende 2014 nur noch rund 1,9% der Stimmberechtigten.
[3]
Die Ausweitung der Bundeskompetenzen und die davon herrührende
Zunahme der Bundesgesetzgebung wären im Falle einer
Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Initiative und
Referendum angemessen zu berücksichtigen (vgl. dazu Botschaft
BV 448 ff.; Stellungnahme BR vom 15. Juni 2001 zur
Parlamentarischen Initiative (Kommission 96.091 SR) Beseitigung von
Mängeln der Volksrechte, BBl 2001 6080). A.M. Ch. Hofer:
Überlegungen zu Möglichkeiten einer Optimierung der
Volksinitiative, in: Jusletter 26. April 2010, Rz 49, der für
eine proportionale Anhebung der Unterschriftenzahl eintritt.
[4]
Die Bundesverfassung von 1874 wird im Folgenden auch mit
«aBV» bezeichnet.
[5]
Vgl. dazu Botschaft BV 439.
[6]
Botschaft BV 42 ff.; Zusammenfassung der Resultate der Beratungen
(Bundesversammlung, Link:
Zusammenfassung).
[7]
A. Kley weist in Biaggini et al., Staatsrecht, 2011 (zit. Biaggini
et al.), § 24 Rz 65 darauf hin, dass die Anreicherung der BV
mit Details auch noch andere Gründe hat als Volksbegehren mit
nicht verfassungswürdigem Inhalt.
[8]
L. Wildhaber, in: J.-F. Aubert et al. (Hrsg.), Kommentar zur
Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, 1987-1996
(zit. Komm. aBV), Rz 90 zu Art. 118 aBV, verwendet den Terminus
«Verfassungswesentlichkeit».
[9]
Botschaft vom 13. Juni 1890 über die Revision des III.
Abschnittes der Bundesverfassung, handelnd von der Revision dieser
letzteren, BBl 1890 III 455 ff., zit. Botschaft 1890; BBl 1891 IV 1
ff. Zur Geschichte der Revision vgl. A. Kölz: Neuere
Schweizerische Verfassungsgeschichte - Ihre Grundlinien in Bund und
Kantonen seit 1848, 2004, 637 ff. (zit. Kölz, NSVG II).
[10]
Botschaft Erhöhung 129 ff.; BBl 1977 III 842, 847.
[12]
AS 1999 2556 ff.; Bestimmungen über die Volksinitiative
enthalten auch die Art. 193 und 194 BV im 6. Titel «Revision
der Bundesverfassung und Übergangsbestimmungen».
[13]
BBl 2002 6485; 2003 3111.
[14]
U. Häfelin, W. Haller, H. Keller: Schweizerisches
Bundesstaatsrecht, 8. Auflage 2012 Rz 1798-1799, zit.
Häfelin/Haller/Keller. Auf den Ablauf der
Verfassungsänderungen von 2003 und 2009 wird unter III. noch
zurückzukommen sein.
[16]
Die folgenden Ausführungen gehen nicht auf persönliche
Vorstösse von Parlamentariern und auf parlamentarische
Initiativen ein (vgl. dazu insbesondere BBl 1960 I 362 f. und L.
Wildhaber, Komm. aBV, Rz 101 zu Art. 118).
[17]
Im Entwurf des Bundesrates war die Gesetzesinitiative noch nicht
enthalten gewesen (BBl 1870 II 708).
Art. 89 des Verfassungsentwurfs vom 5. März 1872 lautete:
«Wenn 50'000 stimmberechtigte Bürger oder fünf
Kantone die Abänderung oder Aufhebung eines bestehenden
Bundesgesetzes oder eines Bundesbeschlusses, oder über
eine bestimmte Materie die Erlassung eines neuen Bundesgesetzes
oder Bundesbeschlusses anbegehren, und diesem Begehren nicht
vertragsrechtliche Verpflichtungen des Bundes entgegenstehen,
so haben die beiden Räthe, wenn sie dem Begehren
zustimmen, den einschlägigen neuen Gesetz- oder
Beschlussvorschlag zu vereinbaren und dem Volke zur Annahme
oder Verwerfung vorzulegen.
Stimmen nicht beide Räthe dem Begehren zu, so ist dasselbe
der Abstimmung des Volkes zu unterstellen, und wenn die
Mehrheit der stimmenden Bürger sich dafür ausspricht,
so haben die Räthe einen entsprechenden Gesetz- oder
Beschlussvorschlag aufzustellen und dem Volke zur Annahme oder
Verwerfung vorzulegen.»
Der Text der Verfassungsvorlage vom 5. März 1872 wurde dem
Bundesblatt vom 16. März 1872 beigelegt (BBl 1872 I 504, 858),
ist jedoch über das Internet nicht greifbar.
[20]
Bundesbeschluss vom 31. Januar 1974; Botschaft vom 20. Mai 1974
betreffend die Abstimmung vom 9. April 1874 über die
abgeänderte Bundesverfassung, BBl 1874 I 699. Der Text der
Verfassungsvorlage vom 31. Januar 1874 wurde dem Bundesblatt vom
14. Februar 1874 beigelegt (BBl 1874 I 1231), ist jedoch über
das Internet nicht greifbar.
[21]
Vgl. Botschaft vom 6. März 1906 betreffend Einführung der
Volksinitiative für die Bundesgesetzgebung, BBl 1906 III 4
ff.; StenBull N 1906 1330, StenBull S 1907 I 170.
[22]
BBl 1960 I 361; BBl 1961 I 1172.
[23]
Botschaft BV 35 f., 436 ff., 635 ff.
[24]
AB N 1999 1021 f.; AB S 1999 609, 398 ff.
[27]
BBl 2006 5261, 5331, 5341, 5343.
[28]
AB N 2006 1979; AB S 2006 225.
[29]
Häfelin/Haller/Keller Rz 1798-1799; Bericht der
Staatspolitischen Kommission des NR vom 21. Februar 2008 (BBl 2008
2891); Stellungnahme BR vom 16. April 2008 (BBl 2008 2907); BB
über den Verzicht auf die Einführung der allgemeinen
Volksinitiative vom 19. Dezember 2008 (BBl 2009 13); BRB vom 1.
Dezember 2009 über das Ergebnis der Volksabstimmung vom 27.
September 2009 (BBl 2009 8719).
[31]
SR 161.1; das BPR hob das Initiativgesetz auf den 1. Juli 1978 auf
(Art. 89 lit. c).
[32]
Botschaft BV 433, 438, 445; L. Wildhaber, Komm. aBV, Rz 111-118 zu
Art. 118; A. Lombardi, a.a.O., Rz 9-10 zu Vorbem. zu Art. 138-142;
Häfelin/Haller/Keller, Rz 1758-1759; É.
Grisel, in: D. Thürer, J.-F. Aubert, J.P. Müller (Hrsg.),
Verfassungsrecht der Schweiz, 2001 (zit. Grisel, Verfassungsrecht),
§ 24 Rz 24; ders., Initiative et référendum
populaires, Traité de la démocratie directe en Suisse,
2004 (zit. Grisel, Initiative), Rz 647-654.
[34]
BBl 1977 III 919; BBl 1995 III 570.
[36]
StenBull N 27. März 1893 420.
[37]
So hielt der Bundesrat z.B. in seiner Botschaft betreffend
Einführung der Volksinitiative für die Bundesgesetzgebung
vom 6. März 1906 fest, es sei «rechtlich möglich,
auf dem Wege der Partialrevision Bestimmungen, die zweifellos in
Gesetze oder Verordnungen gehören würden, in die
Bundesverfassung hineinzubringen» (BBl 1906 III 4).
[38]
Bericht BR an die Bundesversammlung über das Volksbegehren zum
Schutze der Stromlandschaft Rheinfall-Rheinau vom 4. Mai 1954, BBl
1954 I 721 ff. (zit. Rheinau-Bericht).
[39]
Rheinau-Bericht 750.
[40]
Rheinau-Bericht 750 f. Die zitierte Passage wird neuestens von J.P.
Müller/G. Biaggini (Die Verfassungsidee angesichts der Gefahr
eines Demokratieabsolutismus, ZBl 116/2015 235) zitiert und mit dem
Satz ergänzt: «Hoffen wir, dass solches Vertrauen auch
heute gerechtfertigt sei» (250).
[41]
Rheinau-Bericht 747.
[42]
StenBull N 1954 126, 157, 173, 301; StenBull S 1954 116, 144, 187.
[44]
Vgl. z.B. den Zweiten Bericht des BR an die Bundesversammlung vom
8. August 1955 über das Volksbegehren für eine
vorübergehende Herabsetzung der Militärausgaben
(Volksinitiative für eine Rüstungspause), BBl 1955
II 325, 340 («Initiative Chevallier»).
[46]
Botschaft BV 361 f., 445 ff. Die Ausführungen waren Teil des
Abschnitts «Reformbereich Volksrechte», welchen die
eidgenössischen Räte in der Folge zunächst durch
Nichteintretensentscheide beiseite schoben (vgl. III. hievor); B.
Ehrenzeller/ A. Lombardi in B. Ehrenzeller (Hrsg.) et al.: Die
schweizerische Bundesverfassung: Kommentar, 2002, Rz 8-10 Vorbem.
zu Art. 136-142.
[48]
Vgl. Botschaft vom 20. November 2013 zur Volksinitiative «Zur
Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer
(Durchsetzungsinitiative)» (BBl 2013 9459 ff.) 9467 ff. und BB
vom 20. März 2015 über diese Initiative (BBl 2015 2701
ff.).
[49]
Vgl. dazu z.B. die Botschaft vom 7. Juni 2004 über die
Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz
(Tierschutz - Ja!)» BBl 2004 3283 (3293 ff.);
«Voraussetzungen für die Gültigkeit von
Volksinitiativen und die materiellen Schranken der
Verfassungsrevision», Bericht des Bundesrates vom 5. März
2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und
Landesrecht (BBl 2010 2263) und Zusatzbericht vom 30. März
2011 (BBl 2011 3613); Bericht des Bundesamtes für Justiz
zuhanden der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom
28. Dezember 2006 (VPB 1/2012 55).
[51]
Vgl. Kölz, NSVG II 916 f.
[52]
BA für Statistik (Link:
BAS 1). Abstimmungen über eine Initiative und über einen
Gegenvorschlag dazu sind nur einmal (als Initiativabstimmung)
gezählt.
[54]
Das Bundesamt für Statistik führt seine genaue
Zählung seit 2003 nicht mehr weiter.
[55]
BA für Statistik (Link:
BAS 3
und Folgeseiten 2-4).
[56]
Dass auch die Ausweitung der Bundeskompetenzen und die durch sie
verursachte Zunahme der Gesetzgebungstätigkeit auf Bundesebene
zum Anschwellen der Initiativflut beigetragen haben, wurde bereits
eingangs gesagt.
[57]
Vgl. R. Stark: Initiativen vom Wühltisch, Basler Zeitung 28.
November 2013 9, wo ein Mitglied des Ständerates im
Zusammenhang mit der am 24. November 2013 abgelehnten Initiative
«1:12 - für gerechte Löhne» wie folgt zitiert
wird: «Es ist doch normal, dass man eine Initiative macht, um
ein Thema auf die politische und mediale Agenda zu setzen. Das ist
gelungen. Jetzt ist der Fall aber auch erledigt. Nun geht es wieder
um die konkrete politische Arbeit».
[58]
Vgl. beispielsweise die z.Z. im Sammelstadium befindlichen
Initiativen «Höchstgeschwindigkeit 140 km/h auf
Autobahnen» und «Für die Würde der
landwirtschaftlichen Nutztiere (Hornkuh-Initiative)» sowie die
weiteren Beispiele bei Biaggini in: BV Kommentar, Bundesverfassung
der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2007 (zit. Biaggini BV
Komm.) Rz 4 zu Art. 139; Wildhaber, Komm. aBV, Rz 100 zu Art. 118.
[59]
Die Behandlung von Volksbegehren und Gegenvorschlägen belegte
z.B. im Amtlichen Bulletin der Bundesversammlung 1996 noch rund
6,6% der Protokollseiten; 2013 waren es rund 12,2%.
[60]
Vgl. dazu schon die Botschaft Erhöhung 134 f.: «Es steht
ausser Zweifel, dass die gegenwärtige Massierung hängiger
Volksinitiativen den politischen Entscheidungsprozess
überfordert. Eine Überbeanspruchung der politischen
Behörden und der Verwaltung, aber auch weiterer Beteiligter am
Rechtsetzungsprozess, vor allem der Stimmbürger, ist
unverkennbar. … Ein Blick auf den Abstimmungskalender
für die nächsten Monate und Jahre verstärkt den
Eindruck, dass wir erst am Anfang einer Intensivierung der
Beanspruchung insbesondere der Stimmbürger stehen, die bereits
heute Anzeichen der Ermüdung zeigen. Die zunehmende politische
Abstinenz bei wichtigen Vorlagen wird als Alarmzeichen
gedeutet.»
[61]
R. Rhinow/M. Schefer: Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl.
(zit. Rhinow/Schefer) Rz 25 ff.; P. Tschannen, Staatsrecht der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2011 (zit. Tschannen) § 3
Rz 7 ff.; bedeutend weniger weit gehen
Häfelin/Haller/Keller Rz 1761.
[62]
Rhinow/Schefer Rz 30; Häfelin/Haller/Keller Rz 22 f.; Biaggini
in Biaggini et al., S. 72, Rz 5; Tschannen § 3 Rz 16.
[63]
Tschannen § 3 Rz 16.
[64]
Vgl. insbesondere Wildhaber, a.a.O., Rz 90 ff. zu Art. 118; J.-F.
Aubert: Traité de droit constitutionnel suisse, 1967, Rz 333;
Lombardi, a.a.O., Rz 5 f. Vorbem. zu Art. 138-142; Biaggini, in
Biaggini BV Komm. Rz 4 zu Art. 139; Häfelin/Haller/Keller Rz
1755, 1761; Tschannen Rz 7, 16; Rhinow/ Schefer Rz 30, 117, 467.
[65]
B. Ehrenzeller/R. Nobs: St. Galler Kommentar zur Bundesverfassung,
3. Aufl. (zit. SG Komm. BV), Art. 139, Rz 19.
[66]
Grisel, Initiative, Rz 622-623; vgl. auch Grisel, Verfassungsrecht,
Rz 10, 18; M. Luchsinger: Die Prinzipien des Rechtsstaates
als materielle Schranken der Verfassungsrevision, 1960, 44, 72,
121; P. Uebersax: Zur Zulässigkeit der Durchsetzungsinitiative
- eine Einladung zur Reflexion, ZBl 115/2014 600 (609).
Ehrenzeller/Nobs betrachten die Auffassung von Grisel ohne
nähere Begründung als «mit der geltenden Ordnung
nicht vereinbar» (a.a.O., Art. 139, Rz 19).
[67]
Vgl. dazu IV. A. hievor.
[68]
Rheinau-Bericht 740 ff.
[69]
Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass es bei der
Rheinau-Initiative nicht um das Zusammentreffen von Normen der
Verfassungs- und der Gesetzesstufe, sondern um die Gültigkeit
einer Übergangsbestimmung in Form eines Konzessionswiderrufs
ging.
[70]
Die Ausnahmen von dieser Regelung (z.B. Art. 159 Abs. 4, 163 Abs. 1
und 173 Abs. 1 lit. c BV) sind für die vorliegend angestellten
Überlegungen nicht von Belang, weil sie das Verhältnis
Bundesversammlung-Bundesrat betreffen. Im Folgenden ist
der Einfachheit halber nur von Verfassungs- und Gesetzesrecht die
Rede. Vgl. zur Frage der Gewaltenteilung insb. Uebersax (Fn. 66).
[71]
Häfelin/Haller/Keller Rz 1410 ff.
[72]
Gl. M. P. Uebersax (Fn. 66) 608.
[73]
Ausgenommen sind die - seltenen - Fälle, wo es möglich
ist, eine Materie abschliessend auf der Verfassungsstufe zu regeln.
[74]
So wird im Folgenden das Rechtsetzungsverfahren bezeichnet, das vom
Bundesrat oder von der Bundesversammlung in Gang gesetzt wird (Art.
71 ff. ParlG).
[77]
Kley in Biaggini et al. § 24 Rz 68 f.; D. Moeckli: Die
Teilungültigkeit und Aufspaltung von Volksinitiativen, ZBl
115/2014 598 (579).
[78]
C. Schoch: Hybris des Volks beschädigt die Demokratie, NZZ 30.
September 2014 11 a.E.
[79]
Ein Beispiel ist die Volksinitiative «gegen die
Abzockerei», die am 3. März 2013 angenommen wurde (BBl
2013 3129).
[80]
Vgl. die Volksinitiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung
krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)», welche
die Umsetzung der am 28. Oktober 2010 angenommenen und in Kraft
getretenen Initiative «für die Ausschaffung krimineller
Ausländer (Ausschaffungsinitiative)» anstrebt und von der
Bundesversammlung mit Ausnahme einer Bestimmung über das
zwingendeVölkerrecht für gültig befunden wurde (BBl
2015 2701).
[81]
Rheinau-Bericht 750.
[82]
A.a.O., Rz 121 zu Art. 118; vgl. auch J.P. Müller/ G. Biaggini
(Fn. 40); C. Schoch (Fn. 78); D. Binswanger: Falscher
Volksentscheid, Das Magazin 41/2014 6.
[84]
Botschaft BV 19; vgl. auch Rhinow/Schefer Rz 27, 471 f.
[86]
Die nachfolgenden Zitate sind als Beispiele zu verstehen.
[87]
Häfelin/Haller/Keller Rz 17.
[88]
Tschannen, § 3 Rz 11.
[89]
P. Uebersax (Fn. 66) 602.
[90]
J.-F. Aubert in D. Thürer, J.-F. Aubert, J.P. Müller
(Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz/Droit constitutionnel suisse,
2001, § 1 Rz 5.
[91]
Vgl. dazu VII. A. hienach.
[92]
Rhinow/Schefer Rz 490.
[93]
Dass in Politik und Lehre ein Umdenken begonnen hat, wird unter IX.
hienach ausgeführt.
[94]
Rheinau-Bericht 740 ff.; B. Ehrenzeller/R. Nobs in SG Komm. BV,
Art. 139, Rz 19; Rhinow/Schefer Rz 30.
[95]
Gemäss Art. 164 Abs. 1 BV sind «alle wichtigen
rechtsetzenden Bestimmungen … in der Form des Bundesgesetzes
zu erlassen», und dazu gehören «die grundlegenden
Bestimmungen» über die Ausübung der politischen
Rechte etc. Der Bundesrat vertritt in der Botschaft BV (19) die
Meinung, «mehr als die Hälfte der gegenwärtig
hängigen oder angekündigten Verfassungsinitiativen
könnte auf Gesetzesebene realisiert werden», woraus zu
schliessen ist, dass auch die Unterscheidung zwischen
verfassungsstufigem und unterstufigem Recht kein unlösbares
Problem sein kann.
[96]
Dies gilt für alle drei in Art. 139 Abs. 3 BV als
Ungültigkeitsgründe aufgeführten Begriffe. Vgl. dazu
auch M. Schefer/A. Zimmermann: Materielle Schranken der
Verfassungsgebung, LEGES 2011/3 343 (348). Im Übrigen war kein
Geringerer als M. Imboden der Überzeugung, dass es
möglich und richtig sei, die Verfassungswürdigkeit als
Kriterium für die Zulässigkeit von Verfassungsvorlagen
herbeizuziehen: Der 1958/59 unter seiner Leitung von Studenten der
juristischen Fakultät der Universität Basel erarbeitete
Verfassungsentwurf (Titel: «Die Bundesverfassung - wie sie
sein könnte», enthalten in M. Imboden, Staat und
Recht, 1971, 219 ff.) formulierte den Grundsatz in Art. 58 Abs. 3
lapidar wie folgt: «Es können nur Bestimmungen in die
Verfassung eingefügt werden, die sich auf die Grundordnung der
Eidgenossenschaft beziehen.»
[97]
Häfelin/Haller/Keller Rz 1755, 1760-1762; Rhinow/Schefer Rz
25-30, 467; L. Wildhaber formuliert, die BV sei «weniger
… ein geschlossenes System objektiver Normen» als
«ein in die Zeit offenes, mit der Zeit gehendes, elastisches
Ordnungssystem» (Komm. aBV, Rz 120 zu Art. 118).
[98]
Siehe dazu Abschnitt X. hienach.
[99]
Häfelin/Haller/Keller Rz 1790 weisen z.B. mit Recht darauf
hin, dass die Bundesversammlung 1995 ihre Praxis zum Grundsatz der
Einheit der Materie verschärft hat.
[100]
Botschaft vom 29. Januar 1997 zur Volksinitiative «für
die 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters» (BBl
1997 653 ff.) 657 ff. Von einer Umgehung des Fehlens der
Gesetzesinitiative spricht auch A. Kley in Biaggini et al. §
24 Rz 64.
[102]
Schon bald nach der Ablehnung einer Einführung der
Gesetzesinitiative am 22. Oktober 1961 stellte der Bundesrat die
Frage, ob Verfassungsinitiativen mit dem Inhalt von
Gesetzesinitiativen in Zukunft noch als gültig anerkannt
werden dürften (Bericht des Bundesrates vom 18. Juni 1962 an
die Bundesversammlung über das Volksbegehren für das
Entscheidungsrecht des Volkes über die Ausrüstung der
schweizerischen Armee mit Atomwaffen, BBl 1962 II 18, 19 f.). Die
Frage wurde jedoch offen gelassen, weil sich die Initiative nicht
im Begehren um Änderung von geltendem Gesetzesrecht
erschöpfte. Nicht nachvollziehbar ist für den Verfasser
die apodiktische Auffassung von Ehrenzeller/Nobs, wonach auch die
mehrfache explizite Ablehnung der Einführung einer
Gesetzesinitiative nichts daran geändert habe, dass eine
Volksinitiative auch Bestimmungen enthalten dürfe, die
eher in ein Gesetz oder eine VO gehören würden (SG Komm.
Art. 139 Rz 19). Vgl. dazu auch M. Schefer/A. Zimmermann (Fn. 96)
603 f.; Uebersax (Fn. 66) 609 f.
[103]
Rheinau-Bericht 750.
[104]
VI. B. hievor; Schoch (Fn. 78); Binswanger (Fn. 82).
[106]
Vgl. Häfelin/Haller/Keller Rz 12; BGE 81 I 34.
[107]
Vgl. z.B. StenBull N 1893 420.
[110]
Vgl. Botschaft Erhöhung 144, wo auch auf den Schlussbericht
der Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der
Bundesverfassung vom 29. September 1972, S. 670 verwiesen wird.
[112]
Botschaft BV 439; der Begriff der Verfassungswürdigkeit
erscheint in der Botschaft nicht weniger als 32-mal!
[115]
Vgl. Botschaft vom 31. Mai 2006 über die Einführung der
allgemeinen Volksinitiative und über weitere Änderungen
der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte, BBl 2006
5261 (5266).
[116]
Weitere Beispiele finden sich in den Botschaften vom 29. Januar
1997 zur Volksinitiative «für die 10. AHV-Revision ohne
Erhöhung des Rentenalters» (BBl 1997 653 ff.) 657 ff. und
vom 7. Juni 2004 über die Volksinitiative «Für einen
zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz - Ja!)» (BBl 2004
3283 ff.), wo der Bundesrat es als wesentlich erachtete, «die
eidgenössischen Räte auf die problematische
Regelungsstufe der … Initiative hinzuweisen» (3295).
[118]
Unter diesen Umständen kann die Frage, ob sich
Gewohnheitsrecht contra constitutionem überhaupt
bilden kann (durch das Bundesgericht verneint in BGE 91 I 266; vgl.
auch Häfelin/Haller/Keller Rz 12), offen gelassen werden.
[119]
BBl 2014 125; AB StR 3. Juni 2014, Votum V. Diener Lenz und
Beschluss StR vom 3. Juni 2014. Die Gültigkeit wurde in der
Folge bejaht (zu Recht, weil die Einführung einer neuen
Bundessteuer zweifellos eine Verfassungsmaterie ist). In der
Beratung wurde jedoch die Meinung vertreten, «dass aufgrund
der Häufung von Volksinitiativen, welche in Konflikt mit
Grundrechten und grundlegenden Prinzipien unseres Rechtsstaates
stehen, eine grundsätzliche Überprüfung der heute
geltenden Kriterien für die Ungültigkeitserklärung
von Volksinitiativen vorgenommen werden sollte» (AB StR 24.
September 2014, Votum V. Diener Lenz). Das Volksbegehren wurde in
der Abstimmung vom 14. Juni 2015 von Volk und Ständen
verworfen.
[120]
Vgl. z.B. R. Humbel, Das Parlament ist bei Initiativen zu
grosszügig, Aargauer Zeitung 14. Juni 2014; G. Huber, Ist eine
verschärfte Prüfung von Volksinitiativen nötig?
(Link:
Huber); K. Fontana, Immer dieser Ärger mit dem Volk, NZZ 14. Juni
2014 23; R. Zeller: Einstige Bundeskanzlerin will Initiativrecht
einschränken, NZZ 2. November 2014 7; B. Neff: Wie ist der
«Initiativflut» zu begegnen?, BaZ 4. November 2014 5;
ders.: Volksinitiativen als Zumutung, BaZ 5. März 2015 2; M.
Leuenberger: Demokratie als Ernüchterung, NZZ 9. März
2015 17; Sendung «Arena» des Fernsehens SRF «Darf
das Volk alles?» vom 27. März 2015 (Link:
Arena).
Das von Avenir Suisse publizierte Diskussionspapier «Die
Volksinitiative» (Verfasser: L. Rühli und T. Adler; Link:
Avenir Suisse), welches einen Katalog von Vorschlägen zur Modifikation des
Initiativrechts enthält, erwähnt auf S. 34 ff. die
vorliegend behandelte Frage, kommt aber zum Schluss, dass eine
Ungültigerklärung von Initiativen, die «zu sehr
Gesetzescharakter» haben, «kaum dem
(direkt‑)demokratischen Selbstbild der Schweiz
entsprechen» würde.
[125]
R. Rhinow: Das getriebene Parlament: Volksinitiativen als mehrfache
Herausforderung, Parlament, Parlement, Parlamento 1/15 25.
[129]
Der zitierte Artikel von Rhinow vollzieht eine erstaunliche
Kehrtwende gegenüber den vom Autor in Rhinow/Schefer (Rz 461
ff.) vertretenen Auffassungen; dies gilt in etwas geringerem
Ausmasse auch für den Artikel von Schefer/Zimmermann (Fn. 96).
[133]
A.a.O. 610 f.; die Warnung ist berechtigt, weil bereits eine
weitere «Durchsetzungsinitiative» angekündigt wurde.
[134]
In diesem Sinne auch Wildhaber, Komm. aBV, Rz 116 zu Art. 121/122.
[135]
Vgl. zu dieser Frage Ehrenzeller/Gertsch in SG Komm. zu Art. 139
BV, Rz 53; D. Moeckli (Fn. 77) 582; R. Rhinow (Fn. 125) 34 f.; M.
Schefer/A. Zimmermann (Fn. 96) 357 f.
[136]
In diesem Sinne der Bundesrat in der Botschaft BV 19 als Fazit der
Ausführungen zur Frage des Verfassungsrangs: Die
Verfassungswürdigkeit ist «nach einem möglichst
einheitlichen, kohärenten Massstab zu beurteilen.»;
vgl. auch Wildhaber, Komm. aBV, Art. 121/122 Rz 116.
[137]
Ehrenzeller/Nobs in SG Komm. zu Art. 139 BV, Rz 19.
[138]
Tschannen, § 3 Rz 16.
[139]
Es läge im Interesse aller Beteiligten,
möglichst früh zu erfahren, ob die
Verfassungswürdigkeit eines geplanten Volksbegehrens
zweifelhaft ist. Eine entsprechende (vorläufige) Beurteilung
durch die Bundeskanzlei im Rahmen ihrer Vorprüfung würde
eine Revision von Art. 69 BPR erfordern.
[140]
Als besonders krasses Beispiel sei hier die Kontroverse um das BG
über die Buchpreisbindung (BuPG) erwähnt: Einer
Interessengruppe, welche die Aufhebung der Buchpreisbindung durch
die Wettbewerbskommission vor allen Instanzen erfolglos angefochten
hatte, war es gelungen, die Bundesversammlung zum Erlass eines klar
verfassungswidrigen Gesetzes zu bringen, das wegen des Ausschlusses
der gerichtlichen Überprüfung von Bundesgesetzen (Art.
190 BV) verbindlich gewesen wäre. Das BuPG wurde jedoch in der
Referendumsabstimmung vom 11. März 2012 abgelehnt.