I. Einleitung
Nichts bereitet einem als Dozent mehr Freude als Studierende, die mit Interesse und Begeisterung einer Vorlesung folgen. Oft ergeben sich nach solchen Unterrichtsstunden angeregte Diskussionen, in welchen einem die Studierenden mit hartnäckigen, aber berechtigten Nachfragen konfrontieren. In seltenen Fällen führen solche Diskussionen dazu, dass auch die Dozierenden in ihrer Disziplin nochmals über die Bücher gehen müssen. Von einem solchen Fall handelt der vorliegende Beitrag.
Im Rahmen der Erstjahresvorlesung zum Massnahmenrecht der Universität Zürich haben wir im Frühjahr 2019 folgenden Fall diskutiert:[1] Am 12. Dezember 2008 um 12.45 Uhr hat ein 40-jähriger Mann am Weihnachtsmarkt im Hauptbahnhof Zürich einen Passanten unvermittelt ins Gesicht geschlagen. Am 11. Januar 2009 um 13.10 Uhr hat derselbe Mann im 13er-Tram in Zürich wiederum einen ihm unbekannten Fahrgast ohne erkennbaren Grund angegriffen. Mitfahrende haben interveniert und verhindert, dass das Opfer schwere Verletzung davongetragen hat. In beiden Fällen blieb es bei einfachen Körperverletzungen.
Bei den Einvernahmen machte der Mann geltend, die Opfer hätten ihn beschimpft und mit dem Tode bedroht. Die Opfer sagten übereinstimmend aus, dass sie in keiner Form mit dem Angreifer interagiert und ihn auch noch nie zuvor gesehen hätten. In der Folge liess die Staatsanwaltschaft die Schuldfähigkeit des Mannes gutachterlich abklären (Art. 20 StGB[2]). Es stellte sich heraus, dass er keine Vorstrafen hatte und bis zu jenem Zeitpunkt nicht durch aggressives Verhalten aufgefallen war. Hingegen hatte er schon seit seiner Jugend regelmässig Cannabis, Kokain und Alkohol konsumiert, was zum Abbruch seiner Lehre führte. Ferner ergab sich, dass er Psychiatrieaufenthalte und wiederholtes Absetzen von Medikamenten hinter sich hatte.
In der gutachterlichen Exploration stellte sich heraus, dass der Mann zwar im Allgemeinen orientiert und normal ansprechbar, sein Denken aber durch einen Verfolgungswahn geprägt war. So berichtete er, dass er seit rund acht Jahren «gemobbt» werde. Insbesondere in Menschenansammlungen wie am Bahnhof oder im Tram höre er Stimmen, welche sagten, dass er getötet («verschossen») werden solle. Nachdem er dies längere Zeit erduldet hätte, habe er sich nun entschlossen, sich zur Wehr zu setzen.
Bei dem Mann wurde eine paranoide Schizophrenie (F20.0) nach ICD-10 diagnostiziert. Seine Kriminalprognose wurde als ausgesprochen ungünstig eingestuft. Aufgrund fehlender Krankheitseinsicht zeigte er sich zwar als massnahmeunwillig, wurde jedoch als grundsätzlich massnahmefähig und eindeutig therapiebedürftig eingestuft.[3] Am 14. April 2010 stellte das Bezirksgericht Zürich im Verfahren gegen Schuldunfähige gemäss §§ 285b ff. StPO/ZH[4] fest, dass der Mann unter anderem die objektiven Tatbestände der mehrfachen Körperverletzung und Sachbeschädigung erfüllt habe, wobei er für die Taten nicht schuldfähig gewesen sei.[5] Es ordnete deshalb eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB (Behandlung von psychischen Störungen) an.[6]
Dieser Fall hat Hannes Mohr, einen damaligen Erstjahresstudenten der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich, ins Grübeln gebracht. Er hat uns mit folgender Frage konfrontiert: Wenn sich ein Schizophrener angegriffen wähnt und in dieser Situation gegen den vermeintlichen Angriff zur Wehr setzt, dann handle er doch in Putativnotwehr. Wenn der Irrtum über den Angriff für ihn nicht vermeidbar war, führe dies zur Rechtfertigung. Wenn er aber gerechtfertigt sei, fehle es an der zentralen Massnahmenvoraussetzung einer tatbestandsmässigen und rechtswidrigen Tat. Therapeutische Massnahmen könnten zwar gegen Schuldunfähige, nicht aber gegen Täter ausgefällt werden, die kein Unrecht verwirklicht haben. Konsequenterweise könne gegen den Mann weder eine Strafe noch eine Massnahme verhängt werden.[7]
Dieser a priori überraschende Befund gibt Anlass, den Fall genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass es sich hierbei um eine relevante Frage handelt, hat sich jüngst auch im sog. Schaffhauser Kettensägen-Fall gezeigt.[8] In der Praxis wird in aller Regel als erstes die Schuldunfähigkeit[9] des Täters abgeklärt (II.). Weiter muss beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 StGB erfüllt waren (III.) und falls nicht, wie mit Schizophrenen verfahren werden kann, die in Wahnabwehr Personen verletzen (IV.).
II. Schuldunfähigkeit
Art. 19 Abs. 1 StGB bestimmt unter dem Titel der Schuldunfähigkeit, dass ein Täter nicht strafbar ist, wenn er zur Zeit der Tat nicht fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen (fehlende Einsichtsfähigkeit) oder gemäss dieser Einsicht zu handeln (aufgehobene Steuerungsfähigkeit).
Die Schwierigkeiten der Beurteilung beginnen schon beim Gesetzestext, der von einer harten Alternativstruktur des Schuldausschlusses auszugehen scheint (fehlende Einsichtsfähigkeit «oder» fehlende Steuerungsfähigkeit). Bei Wahntätern gehen Defizienzen in der Einsicht und Steuerung indessen oft fliessend ineinander über, weshalb zutreffender von Einsichtssteuerung gesprochen werden sollte (1.). Gleichwohl wird nachfolgend der Formulierung des Gesetzestextes Rechnung getragen und zwischen Einsichts- (2.) und Steuerungsfähigkeit (3.) unterschieden.
1. Einsichtssteuerung?
Die Unterscheidung zwischen der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit ist wesentlich komplexer als es auf den ersten Blick scheint. Zugehörige Schwierigkeiten wurden von Janzarik ausführlich erörtert. Für ihn sind Auswirkungen einer Störung auf Einsicht und Steuerung in der Mehrzahl der Fälle nicht auseinanderzuhalten, weshalb besser von Einsichtssteuerung zu sprechen wäre.[10]
Da die Vorgaben des Gesetzestextes jedoch eine Unterscheidung fordern, schlug Janzarik vor, gedanklich-reflexive Prozesse, die spätere Handlungen begründen bzw. ihnen vorgeschaltet sind, der Einsichtsfähigkeit zuzuschlagen. Hierzu zählen für ihn auch in die seelische Struktur aufgenommene soziale Normen und Erwartungen, die gewissermassen die Basis des «Unrechtsbewusstseins» bilden und im Idealfall in einer Weise verinnerlicht sind, dass sie ohne grösseres Nachdenken, quasi intuitiv berücksichtigt werden. Demgegenüber sind der Steuerungsfähigkeit diejenigen Prozesse zuzuordnen, die mit der Annäherung an eine Handlung konkrete Auswirkungen haben. Janzarik trennte also zwischen einer kognitiven (Einsichts-) und voluntativen (Steuerungs-) Funktion.
2. Einsichtsfähigkeit
Entsprechend gingen Habermeyer und Hoff davon aus, dass die Einsichtsfähigkeit tangiert ist, wenn Krankheitssymptome kognitive Voraussetzungen der Willensbildung beeinträchtigen.[11] So können Gedächtniseinbussen, Orientierungsstörungen, formale Denkstörungen und Störungen der Informationsverarbeitung und Urteilskraft in Abhängigkeit von ihrem Ausprägungsgrad die kognitiven Fähigkeiten zur Realitätserkenntnis erheblich vermindern oder sogar ausschliessen.
Die Einsichtsfähigkeit kann aber auch fehlen, wenn motivationale Voraussetzungen der Willensbildung verändert werden, indem der Zugang zu Wertvorstellungen durch Krankheitssymptome verstellt bzw. das Wertgefüge verformt wird. Da Wahnphänomene die persönlichen Grundlagen der Entscheidungsbildung durch Fehlinterpretation der Realität verzerren und krankhaft veränderte Bewertungen des Selbst zur Folge haben, ist von relevanten, den Realitätsbezug störenden Einflüssen auf die Willensbildung auszugehen.
Für die vorliegende Symptomatik eines Verfolgungswahns bedeutet dies, dass sich ein wahnhafter Irrtum für Betroffene nicht vermeiden lässt. Schliesslich ist ein Charakteristikum des Wahns seine Unkorrigierbarkeit.[12] Der Explorand war daher, konsequent zu Ende gedacht, nicht in der Lage, sich für ein rechtmässiges Vorgehen zu entscheiden. Seine innenweltlichen Entscheidungsstränge wurden durch die psychotische Erkrankung massiv verformt. Mit Janzarik gesprochen, hat die psychotische Strukturverformung zwar das zur Gewinnung von Einsicht erforderliche intellektuelle Werkzeug verschont. Der Täter war sich grundsätzlich darüber im Klaren, dass es ein Unrecht ist, jemanden körperlich zu attackieren. Seinem Handeln in der konkreten Tatsituation wurden jedoch durch den Verfolgungswahn abwegige Einschätzungen (drohender Angriff) und Ziele (Verteidigung) vorgegeben, die er aufgrund der für den Wahn charakteristischen erfahrungsunabhängigen Evidenz[13] nicht mehr kritisch hinterfragen konnte. Somit wurde die Wertorientierung in eine mit den Grundnormen menschlichen Zusammenlebens inkompatible Richtung gelenkt, was die Unrechtseinsicht verhindert hat.
3. Steuerungsfähigkeit
Die Steuerungsfähigkeit betrifft demgegenüber das Vermögen, Handlungsimpulse zu hemmen bzw. Handlungen gemäss dem gebildeten Willen umzusetzen, also ihn gemäss vorhandener Unrechtseinsicht zu bestimmen.[14]
Dass diese Fähigkeit im geschilderten Fall ebenfalls gefehlt hat, liegt anhand der plötzlich-unvermittelten Tatbegehung in der Öffentlichkeit nahe. Zusätzlich bedeutsam sind die krankheitsbedingte ängstliche Unruhe des Exploranden und seine unruhig-misstrauische Verfassung angesichts des drohenden Angriffs, was wiederum deutlich macht, dass Einsichtsvermögen und Steuerungsfähigkeit enger miteinander verknüpft bzw. stärker miteinander verwoben sind, als es gemäss dem Gesetzestext scheint.
III. Stationäre Massnahme
Durfte das Gericht in casu eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB gegen den schizophrenen Mann anordnen? Dies ist zulässig, wenn der Täter erstens psychisch schwer gestört ist (Abs. 1 Ingress),[15] er zweitens ein mit dieser Störung in Zusammenhang stehendes Verbrechen oder Vergehen begangen hat (lit. a) und drittens zu erwarten ist, dass sich dadurch seine Legalprognose verbessern lasse (lit. b).[16] Rechtlich umstritten kann vorliegend nur die zweite Voraussetzung sein, d.h. die Frage, ob eine hinreichende Anlasstat vorliegt.
1. Anlasstat
Jede strafrechtliche Sanktion setzt eine Straftat voraus. Vorausgesetzt ist in jedem Fall eine tatbestandsmässige und rechtswidrige sowie in aller Regel auch schuldhafte Tat. Erfüllt das Täterverhalten nicht den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Strafnorm oder ist es - etwa aufgrund von Notwehr (Art. 15 StGB ), Notstand (Art. 17 StGB) oder Wahrung berechtigter Interessen[17] - gerechtfertigt, scheiden strafrechtliche Sanktionen, also Strafen und Massnahmen, von vornherein aus. Das Gleiche gilt, wenn Schuldausschlussgründe wie ein unvermeidbarer Verbotsirrtum (Art. 21 Satz 1 StGB), ein entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB) oder ein entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB) vorliegen. Schliesslich kann die Strafbarkeit auch aus anderen Gründen ausgeschlossen sein, etwa wegen eines grob unverständigen Versuchs (Art. 22 Abs. 2 StGB).[18]
Bei der Schuldfähigkeit ist zu differenzieren: Während Strafen nur gegen Schuldfähige verhängt werden können, dürfen Massnahmen auch und gerade gegen Schuldunfähige ausgefällt werden (Art. 19 Abs. 3 StGB).[19] Das liegt daran, dass die Strafe eine Übelszufügung darstellt, die mit einem sozialethischen Unwerturteil verbunden wird. Adressaten solchen Tadels können nur Personen sein, welche im Zeitpunkt der Tat das Unrecht ihres Verhaltens hätten erkennen und sich nach dieser Einsicht richten können (Art. 19 Abs. 1 StGB). Massnahmen hingegen sollen nicht tadeln, sondern haben die Heilung von Störungen und vor allem die öffentliche Sicherheit im Blick.[20]
Übertragen auf unseren Fall ergibt sich folgender Zwischenbefund: Die Übergriffe auf den Passanten im Bahnhof und den Fahrgast im Tram erfüllen den Tatbestand der einfachen Körperverletzung. Ein Erfolgsunwert ist insoweit gegeben. Objektiv liegen keine Rechtfertigungsgründe vor. Aufgrund seiner Schizophrenie fehlte dem Täter gemäss Gutachten die Einsichtsfähigkeit.[21] Eine mit einem Schuldvorwurf verbundene Strafe war somit ausgeschlossen, eine Massnahme auf den ersten Blick hingegen möglich. Die Kernfrage ist nun, wie die (subjektive) Verkennung der Angriffssituation rechtlich zu werten ist.
2. Putativnotwehr
Wer ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht wird, ist berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren (Art. 15 StGB). Das Handeln in Notwehr führt zur Rechtfertigung; eine Massnahme ist dann ausgeschlossen. Fehlt es hingegen - wie im vorliegenden Fall - objektiv an einer Angriffssituation, geht der Täter aber subjektiv davon aus, dass ein Angriff im Gang ist oder droht, dann liegt eine Situation der Putativnotwehr vor.[22] Man spricht auch von einem Erlaubnistatbestandsirrtum.[23] Im juristischen Sprachgebrauch wird der Irrtum als falsche oder fehlende Vorstellung über die Wirklichkeit definiert.[24] Der Täter nimmt irrtümlich an, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vorliegen.
Dieser Irrtum beurteilt sich nach Art. 13 StGB[25]: Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zugunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat (Abs. 1). Die blosse Vorstellung von der Möglichkeit eines Angriffes soll nach ständiger Rechtsprechung nicht zur Annahme von Putativnotwehr genügen.[26] Über den Gesetzeswortlaut («irrigen Vorstellung») hinaus verlangt das Bundesgericht, dass der vermeintlich Angegriffene Umstände nachweist, die bei ihm den Glauben erwecken konnten, er befinde sich in einer Notwehrlage.[27]
Unter der Voraussetzung, dass die Abwehrhandlung des vermeintlich Bedrohten die Grenzen der Notwehr wahrt (Art. 15 StGB), hat die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 StGB zur Folge, dass der Täter straflos bleibt. Zwar hat er einen Tatbestandsvorsatz - er greift sein Gegenüber ja wissentlich und willentlich an - doch fehlt ihm der «Rechtswidrigkeitsvorsatz»[28]. Unbestritten ist deshalb, dass der Erlaubnistatbestandsirrtum eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Deliktsbegehung ausschliesst.[29] Der im Tatbestandsvorsatz liegende Handlungsunwert wird durch den im Rettungswillen liegenden Handlungswert wieder aufgewogen.[30]
In Bezug auf die dogmatische Einordnung wird in der Schweiz[31] teilweise vertreten, dass die Putativnotwehr erst auf der «Ebene der Schuld» zu prüfen sei.[32] Unseres Erachtens führt das Handeln in Putativnotwehr zur Rechtfertigung.[33] Das lässt sich bereits dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 StGB entnehmen: Der Täter wird nach dem Sachverhalt beurteilt, den er sich vorgestellt hat. Irrt der Täter bei einem gewöhnlichen Tatbestandsirrtum über ein objektives Tatbestandsmerkmal, nimmt er z.B. an, sein 15-jähriger Sexualpartner sei 18 Jahre alt, wird er so beurteilt, wie wenn der Sexualpartner tatsächlich 18 Jahre alt gewesen wäre. Eine Bestrafung wegen Art. 187 Ziff. 1 StGB fällt ausser Betracht, weil der Sachverhalt, den der Täter sich vorstellte, diesen Straftatbestand nicht erfüllt.[34] Irrt der Täter bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum über das Vorliegen einer Angriffssituation, ist er wiederum nach Art. 13 Abs. 1 StGB so zu stellen, wie wenn er angegriffen worden wäre. Genügen der vorgestellte Angriff und die ausgeübte Abwehrhandlung den Anforderungen von Art. 15 StGB, so ist der Täter gerechtfertigt.
Dass ein Teil der Lehre nicht von Rechtfertigung sprechen möchte, hängt wohl mit der naheliegenden Befürchtung zusammen, dass eine rechtfertigende Putativnotwehr dem zu Unrecht Angegriffenen seinerseits das Abwehrrecht abschneide.[35] Dem ist zu entgegnen, dass immer noch ein zivilrechtswidriger Angriff vorliegt,[36] der zur Notwehr berechtigt.[37] Wer selbst Letzteres verneint, wird dem objektiv zu Unrecht Angegriffenen allenfalls auch Putativnotwehr[38] oder zumindest einen Defensivnotstand zugestehen müssen.[39] War der Wahn des Angreifers offenkundig, ist das Abwehrrecht eingeschränkt.[40]
Zu den Ursachen des Irrtums trifft der Gesetzestext keine Aussagen. Das bedeutet im vorliegenden Kontext, dass ein rechtlich relevanter Irrtum jedenfalls nicht a priori deshalb ausscheidet, weil er seine Grundlage in einer wahnhaften Vorstellung des Täters findet.[41]
Sind die Ursachen des Irrtums unerheblich, bedeutet dies für den vorliegenden Fall, dass der schizophrene Mann zunächst nach Absatz 1 zu seinen Gunsten so gestellt wird, wie wenn eine Angriffssituation vorgelegen hätte. Unter der Voraussetzung, dass die Abwehrhandlung des vermeintlich Bedrohten die Grenzen der Notwehr wahrt (Art. 15 StGB),[42] hat die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 StGB nach der hier vertretenen Auffassung zur Folge, dass der Wahntäter gerechtfertigt und vom Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung freizusprechen ist.
3. Fahrlässigkeit
Soweit der Täter nach Art. 13 Abs. 1 StGB für die Vorsatztat gerechtfertigt war, ist weiter zu prüfen, ob er den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht hätte vermeiden können und sich damit eines Fahrlässigkeitsdelikts strafbar gemacht hat (Art. 13 Abs. 2 StGB). Vorausgesetzt ist hier zunächst, dass es einen entsprechenden Fahrlässigkeitstatbestand gibt. Vorliegend wäre die fahrlässige Körperverletzung nach Art. 125 StGB einschlägig.
Bei schizophrenen Straftätern liegt es nahe zu fragen, ob der Irrtum etwa durch gewissenhafte Einnahme von Medikamenten zur Behandlung der Schizophrenie (Neuroleptika) hätte vermieden werden können. Diesbezüglich bleibt zunächst unklar, ob und inwiefern die Nichteinnahme von Medikamenten überhaupt vorwerfbar ist. Schizophrene zeichnen sich nämlich - wie im vorliegenden Fall auch - störungsbedingt oft durch eine fehlende bzw. im Verlauf unterschiedlich ausgeprägte Krankheitseinsicht aus.[43] Ferner gehen Neuroleptika bekanntermassen mit gravierenden Nebenwirkungen (wie etwa Parkinsonoid, Gewichtszunahme, Müdigkeit) einher.[44] Ausserdem führt die Behandlung selbst bei ausgeprägter Psychopharmaka-Compliance nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Vollremission. Vielmehr muss in 20-30% der Fälle von einem unzureichenden Ansprechen auf die initial verordnete Medikation ausgegangen werden.[45] Soweit man dem Täter keine anderen, zumutbaren Strategien aufzeigen kann, mit denen er den wahninduzierten Irrtum hätte vermeiden können, wird man keinen Fahrlässigkeitsvorwurf erheben können.
Wer die Zumutbarkeit und Vermeidbarkeit strenger beurteilt, wird erläutern müssen, inwiefern es verhältnismässig ist, bei blossem Fahrlässigkeitsunrecht eine stationäre Massnahme auszufällen.[46] Wenn man hingegen davon ausgeht, dass der Wahntäter weder Vorsatz- noch Fahrlässigkeitsunrecht verwirklicht hat, dann wird erklärungsbedürftig, inwiefern eine Massnahme noch legitim ist. Es fehlt dann nämlich an einer tatbestandsmässigen und rechtswidrigen Anlasstat.
4. Tatenlose Massnahme?
Darf eine Massnahme auch ohne rechtswidrige Anlasstaten angeordnet werden? Die kategorische Antwort kann zunächst einmal nur «Nein» lauten. Die stationäre therapeutische Massnahme zur Behandlung schwerer psychischer Störungen nach Art. 59 StGB ist eine Sanktion des Strafgesetzbuches. Sanktionen sind die Rechtsfolgen, welche die Strafgesetzgebung an Straftaten knüpft. Strafrechtliche Sanktionen setzen deshalb immer die Verletzung einer Strafnorm voraus. Genauso wenig wie anlasstatenlose Einziehungen zulässig sind,[47] können therapeutische Massnahmen ohne Anlasstaten verhängt werden. Strafrechtliche Sanktionen knüpfen an das Unrecht von Straftaten an. Das unterscheidet sie kategorial von rein präventiven, polizeilichen Massnahmen.[48]
Wie oben bereits ausgeführt, gibt es nur eine gesetzliche Einschränkung des Anlasstatenerfordernisses: Nach Art. 19 Abs. 3 StGB können Massnahmen auch gegen Schuldunfähige ausgesprochen werden.[49] Wurde die Tat aus anderen Gründen nicht schuldhaft begangen oder fehlt es - wie im vorliegenden Fall - gar an einer rechtswidrigen Vorsatz- oder Fahrlässigkeitstat, muss eine Massnahme nach herkömmlichem Verständnis ausscheiden.[50] Dies führt zum dogmatisch zwar überzeugenden, unter Sicherheitsgesichtspunkten praktisch aber kaum hinnehmbaren Ergebnis, dass der Mann nicht nur von Schuld und Strafe hätte freigesprochen werden müssen,[51] sondern auch die Anordnung einer therapeutischen Massnahme nach Strafgesetzbuch ausgeschlossen wäre.[52]
IV. Lösungsmöglichkeiten
Der Explorand hätte somit unbehandelt in die vermeintliche «Freiheit der Psychose» entlassen werden müssen, ein aus ärztlicher Sicht klar kontraindiziertes und aus gesellschaftlicher Sicht hochriskantes Vorgehen. Aus diesem Dilemma führen drei Auswege:
1. Compliance
De lege lata könnte man erstens die Fahrlässigkeit streng handhaben und dem schizophrenen Straftäter vorhalten, dass krankheitsbedingte Fehleinschätzungen für ihn vorhersehbar und bei entsprechender Compliance auch vermeidbar sind. Gegen diese Lösung spricht, dass der Wahn dem Wahnkranken - definitionsgemäss - nicht vorwerfbar ist, da er eigenständig nicht kritisch hinterfragt, geschweige denn beseitigt werden kann. Dieser Sachverhalt trennt Wahnideen von der überwertigen Idee eines Gesinnungstäters und gibt dem Wahn eine spezifische Qualität.
Hinzu kommt, dass sich Fehleinschätzungen selbst bei tadelloser Compliance nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschliessen lassen. Die medikamentöse Behandlung einer Schizophrenie führt nämlich nicht stets zu einer langfristigen Symptomfreiheit, d.h. Heilung. Viele Betroffene weisen auch unter Medikamenten noch Restsymptome auf.
Selbst wenn eine Heilung im Grossteil der Fälle möglich wäre, würde die strengere Regelung der Fahrlässigkeit nicht für (erst-) erkrankte Personen gelten, denen es aufgrund ihrer Störung nicht möglich ist, von sich aus eine Krankheitseinsicht zu entwickeln und etwas gegen ihre Symptomatik zu unternehmen. Der Vorwurf der Vermeidbarkeit könnte höchstens gegen Betroffene erhoben werden, die bereits vorbehandelt, d.h. über ihre Erkrankung ausreichend informiert waren und dann wider besseres Wissen (u.U. zum wiederholten Male) ihre Medikamente abgesetzt haben. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass aus juristischer Perspektive die ununterbrochene Neuroleptika-Einnahme wohl bereits aufgrund der Nebenwirkungen unzumutbar ist. Allein dieser Punkt verhindert, dass dem Betroffenen aufgrund des Absetzens eines Medikamentes ein Schuldvorwurf gemacht werden kann.[53]
2. Krankheitsbedingte Irrtümer
Denkbar wäre zweitens, sich der deutschen Rechtsprechung anzuschliessen. Diese hat entschieden, dass Irrtümer, die ihren Grund in der für die Schuldfähigkeit relevanten Pathologie haben, nicht zugunsten des Täters zu berücksichtigen sind.[54] Die Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern bleibe etwa dann « geboten, wenn ein unter krankhaftem Verfolgungswahn Leidender harmlose Personen völlig unbegründet für Angreifer hält und sie in vermeintlicher Notwehr tötet oder verletzt »[55].
Dass krankheitsbedingte Irrtümer nicht dazu führen dürfen, auf eine Massnahme zu verzichten, wird mit dem Schutzgedanken der Vorschrift begründet. Eine sichernde Massnahme müsse gerade in denjenigen Fällen angeordnet werden können, «in denen sich der abnorme Zustand des Täters als besonders gefährlich erweist, weil er ihm die Erkenntnis der Gemeinschädlichkeit seines Handelns verwehrt»[56]. Ohne den Begriff des krankheitsbedingten Irrtums zu verwenden, hat ihn die bundesgerichtliche Rechtsprechung in der Sache eingeführt, indem sie - ohne jegliche Begründung - rein subjektive Vorstellungen von Angriffen nicht genügen lässt.[57] Die deutsche[58] und die schweizerische Rechtsprechung sind somit beide rein ergebnisorientiert und erklären nicht, weshalb auf das Erfordernis einer rechtswidrigen Anlasstat soll verzichtet werden können.[59] Sie halten bloss fest, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
3. Gesetzesänderung
Die wohl sauberste Lösung bestünde daher drittens darin, de lege ferenda eine weitere Ausnahme vom Anlasstatenerfordernis zu schaffen, indem krankheitsbedingte Irrtümer zu unbeachtlichen Irrtümern deklariert und die Anlasstatenerfordernisse in Art. 56 StGB entsprechend genauer gefasst würden.[60] Die gesetzgeberische Unterteilung in krankheitsbedingte und normale Irrtümer wäre ein Novum, das der juristischen Intuition widerspricht. Aus rechtlicher Perspektive besteht kein Raum für unterschiedliche Irrtumsbegriffe. Bezugspunkt ist immer die Wirklichkeit, über die falsche oder fehlende Vorstellungen bestehen. Der Grund für diese Fehleinschätzungen ist juristisch irrelevant.
Für die Unterteilung streitet die psychiatrische Einsicht, dass wahnbedingte Fehlvorstellungen von Schizophrenen nicht einfach spezielle Unterformen «normaler» Irrtümer sind. Sie sind vielmehr ein Aliud. Der gesunde Irrende hat - gemäss der oben erwähnten Definition - eine Fehlvorstellung über die Wirklichkeit. Gemeint ist hier die «objektive», von allen gesunden Personen übereinstimmend wahrnehmbare Wirklichkeit,[61] z.B. dass die anderen Fahrgäste im Tram friedlich ihrem Alltag nachgehen. Für den Schizophrenen ist bereits diese «objektive Wirklichkeit» so nicht wahrnehmbar. Krankheitsbedingt hat er seine eigene, subjektive Wirklichkeit (Eigenweltlichkeit), die nicht mehr kritisch hinterfragt werden kann. Der Wahnkranke ist unfähig zur «kopernikanischen Wende»[62], für ihn bilden die Fahrgäste eine gegen ihn verschworene Gemeinschaft. Aus psychiatrischer Sicht ist die Rede vom Irrtum bei ihm deshalb bereits phänomenologisch verfehlt.
Letztlich handelt es sich um klar voneinander abgrenzbare Sachverhalte: Dabei fallen Erörterungen zu den Voraussetzungen des Art. 13 StGB eindeutig in den normativen Bereich, während die (leider nicht mehr explizit genannte, aber dennoch basale) Voraussetzung des Art. 19 StGB, nämlich das Vorliegen einer schweren psychischen Störung, vorwiegend psychiatrisch zu bestimmen ist. Das eine nicht mit dem anderen zu vermischen, wird sowohl den Bedingungen eines situativ nachvollziehbaren emotionalen Ausnahmezustands eines gesunden Menschen als auch der besonderen, eigenweltlichen Situation eines wahnkranken Menschen gerecht, indem bei Letzterem die psychiatrisch indizierten und für die öffentliche Sicherheit notwendigen Behandlungsmassnahmen angeordnet werden können.
Der Student Hannes Mohr hat die Frage aufgeworfen, ob es wirklich sein kann, dass wahninduzierte Irrtümer dazu führen, dass stationäre therapeutische Massnahmen ausgerechnet in denjenigen Fällen nicht angewendet werden können, für die sie ursprünglich geschaffen wurden, nämlich die Behandlung psychisch schwer gestörter Straftäter. Wir haben gezeigt, dass man dieses Resultat am besten verhindern kann, indem man de lege ferenda in Art. 56 StGB unmissverständlich festhält, dass wahnbedingte Irrtümer einer Massnahme nicht entgegenstehen.