I. Einleitung
Während der Corona-Pandemie war die Anzahl an zu behandelnden
Patientinnen und Patienten in gewissen medizinischen Einrichtungen so
gross, dass die vorhandenen Ressourcen dafür nicht ausreichten.
Insbesondere Beatmungsgeräte für Patientinnen und Patienten mit
einem schweren Krankheitsverlauf waren ein knappes Gut.[1]
An vielen Orten musste daher darüber entschieden werden, wer
lebensrettende Güter und Dienstleistungen erhält - und wer nicht.[2]
Aufgrund dieser Vorkommnisse haben verschiedene Institutionen Richtlinien
erlassen, die dem Medizinalpersonal dabei helfen sollen, knappe
medizinische Ressourcen während der Corona-Pandemie möglichst
zielführend und fair zuzuteilen.[3]
In der Medizin ist der richtige Umgang mit knappen Ressourcen jedoch nichts
Neues, da es beispielsweise regelmässig zu Versorgungsengpässen
bei lebenswichtigen Arzneimitteln kommt.[4]
Zudem stellt sich oft die Frage, wie mit begrenzten finanziellen Mitteln
und kostspieligen Behandlungen umgegangen werden soll.
Über die spezifischen Zuteilungsvorgaben während der
COVID-19-Pandemie hinaus zeigt der vorliegende Beitrag rechtliche und
medizinethische Prinzipien auf, die bei der Zuteilung knapper medizinischer
Güter und Dienstleistungen immer zu befolgen sind. Hierzu werden
fünf Grundsätze erläutert (II). Gestützt auf diese
Ausführungen werden Schlussfolgerungen mit weiterführenden
Implikationen für die Umsetzung in der medizinischen Praxis gezogen
(III.). Nicht Gegenstand dieses Beitrages sind konkrete Fragestellungen zur
Rationierung medizinischer Leistungen, also einem aufgrund von
Budgetüberlegungen fehlenden oder nicht finanzierten Angebot
medizinisch notwendiger Leistungen.[5]
Unbesehen der nachfolgend erläuterten Zuteilungsgrundsätze sind
die allgemeinen Regeln für ärztliches Handeln - etwa die
allgemeinen medizinethischen[6]
oder rechtlichen Prinzipien[7]
- weiterhin zu beachten. An dieser Stelle ist aber darauf hinzuweisen, dass
insbesondere der individuelle Patientenwille (vor allem ein Behandlungswille) in Situationen mit knappen Ressourcen nicht
immer respektiert werden kann. Es ist gerade das Dilemma der Zuteilung
knapper medizinischer Güter und Dienstleistungen, dass nicht alle
Patientinnen und Patienten, die behandelt werden möchten, behandelt
werden können. Diese Problematik lässt sich zumindest insofern
entschärfen, als Patientinnen und Patienten aufgrund ihres
Selbstbestimmungsrechts auch bewusst auf Behandlungen verzichten
können, womit Ressourcen für andere Personen frei werden. Wichtig
ist jedoch, dass Behandlungsverzichte immer freiwillig sowie ausreichend
informiert getroffen werden und dem Medizinalpersonal auch bekannt sind.[8]
Keinesfalls darf der Anschein entstehen, dass Individuen allein wegen
bestimmter Eigenschaften (beispielsweise des Alters) auf eine Behandlung
verzichten sollten.[9]
Einzelne Bevölkerungsgruppen unter Druck zu setzen, ist nicht das Ziel
informierter Behandlungsverzichte; es geht gerade darum, den
Patientenwillen - unabhängig davon, ob eine Behandlung angestrebt wird
oder nicht - zu respektieren.
Im Folgenden wird aufgezeigt, dass sich die Zuteilung knapper medizinischer
Ressourcen am Ziel der Nutzenmaximierung orientiert (1.) und dabei eine
relative Betrachtungsweise eingenommen werden muss (2.). Des Weiteren
müssen Zuteilungsentscheide legitim sein (3.) und diskriminierungsfrei
getroffen werden (4.). Schliesslich ist darauf zu achten, dass bei den
Entscheiden eine Ausgleichs- und eine Kontrollfunktion gewährleistet
wird (5.).
Im medizinischen Alltag werden üblicherweise diejenigen medizinischen
Massnahmen durchgeführt, die indiziert, also medizinisch notwendig,
sind.[10]
Die vorhandenen Mittel werden insbesondere so eingesetzt, dass alle
Personen in einem lebensbedrohlichen Zustand am Leben gehalten werden.[11]
In bestimmten Situationen reichen die vorhandenen Ressourcen jedoch nicht
mehr aus, um alle Patientinnen und Patienten behandeln zu können. In
diesen Situationen wird versucht, mit den knappen Ressourcen den
grösstmöglichen Nutzen zu erzielen.[12]
Doch worum handelt es sich bei diesem «grösstmöglichen
Nutzen»? Diese Frage lässt sich je nach Aspekten, die man
berücksichtigt, unterschiedlich beantworten.[13]
Um sich der Antwort auf diese Frage anzunähern, ist vorab auf den
Begriff des Nutzens einzugehen (a). Danach werden die gängigsten
Ansätze möglicher Nutzenziele vorgestellt (b). Am Ende wird
sodann verdeutlicht, dass die Zielsetzungen der Zuteilungsentscheide im
Voraus festzuhalten sind (c).
a) Allgemeines zum Nutzenbegriff
Der Nutzen einer Massnahme, verstanden als die Vorteile bzw. positiven
Auswirkungen der Massnahme, ist durch verschiedene Aspekte geprägt.
Von besonderer Bedeutung sind die vom Nutzen betroffenen Personen
(Nutzentragende) sowie der Lebensbereich, in dem sich der Nutzen
niederschlägt (Nutzensphäre). Des Weiteren können auch der
Zeitpunkt, zu dem der Nutzen eintritt (Nutzenhorizont), sowie die Bewertung
des Nutzens (Nutzenbeurteilung) von Relevanz sein.
Der Kreis der Nutzentragenden ist grundsätzlich dreigeteilt: Es gibt
einen Individualnutzen, d.h. Vorteile für die von der Massnahme direkt
betroffene Person, einen Drittnutzen, d.h. Vorteile für Drittpersonen
und einen Gesellschaftsnutzen, d.h. Vorteile für die Gesellschaft als
solche. Eine medizinische Intervention kann beispielsweise den
Gesundheitszustand des Patienten verbessern (Individualnutzen); dieser kann
sich dadurch weiterhin um seine Kinder kümmern (Drittnutzen) und
gleichzeitig wieder seinem Job nachgehen, wodurch er nicht mehr auf
staatliche Hilfeleistungen angewiesen ist und zur Wirtschaftsleistung
beiträgt (Gesellschaftsnutzen). Eine Massnahme kann also Auswirkungen
auf mehrere Nutzentragende haben.
Des Weiteren kann man zwischen verschiedenen Nutzensphären als
Lebensbereiche, in denen Vorteile erzielt werden, unterscheiden.
Hierfür kann der Nutzen in grobe Sphären eingeteilt
(beispielsweise ökonomischer, sozialer, medizinischer,
ökologischer Nutzen) oder auch sehr fein differenziert werden
(medizinischer Nutzen aufgegliedert in präventiven, diagnostischen und
therapeutischen Nutzen). Im vorliegenden Kontext ist insbesondere zwischen
dem medizinischen, dem sozialen und dem ökonomischen Nutzen zu
unterscheiden: Der medizinische Nutzen hat Einfluss auf die physische oder
psychische Gesundheit, wohingegen der soziale Nutzen Aspekte betrifft, die
Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen (Familie, Freunde usw.) haben.
Schliesslich betrifft der ökonomische Nutzen Faktoren, die sich auf
die Wirtschaft oder Finanzen auswirken wie eine gesteigerte Kaufkraft oder
eine niedrigere Abhängigkeit von staatlichen Hilfeleistungen. Um das
Beispiel aus Rz. 9 erneut aufzugreifen: Die dort beschriebene medizinische
Intervention führt zu einem medizinischen (besserer
Gesundheitszustand), einem sozialen (bessere Eltern-Kind-Beziehung) und
einem ökonomischen Nutzen (höhere Wirtschaftsleistung und
Entlastung der Sozialwerke).
Nutzen kann ausserdem nach dem zeitlichen Horizont, in dem die Vorteile
eintreten, differenziert werden. Es bietet sich eine Unterteilung in lang-
bzw. kurzfristigen Nutzen an, der sich mittels einer genauen Zeitspanne
konkretisieren lässt. Zuletzt ist auch die Beurteilung des Nutzens
wichtig, um Nutzenziele festlegen zu können. So ist es möglich,
Vorteile einer Massnahme etwa aus relativer oder absoluter[14]
sowie aus objektiver oder subjektiver Perspektive[15]
zu bewerten. Ebenfalls sind standardisierte Bewertungsraster oder
unstrukturierte Beurteilungen möglich.[16]
b) Ansätze zur Beurteilung der Nutzenmaximierung
Bei der Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen sollte der individuelle
medizinische Nutzen massgebend sein. Die Zuteilung sollte nicht davon
abhängen, welcher ökonomische oder soziale Nutzen für den
Patienten oder die Gesellschaft an sich entsteht.[17]
Andernfalls würde dies dazu führen, dass der soziale oder
gesellschaftliche Status darüber entscheiden kann, ob jemand - ggf.
lebensnotwendige - Ressourcen erhält oder nicht.[18]
An dieser Stelle werden daher die bedeutendsten Ansätze zur
Beurteilung des grösstmöglichen individuellen medizinischen
Nutzens, also Ansätze zur Beurteilung der medizinischen
Nutzenmaximierung, vorgestellt:
In der Literatur finden sich weitere Ansätze zur Nutzenmaximierung;
etwa eine Verteilung knapper Güter und Dienstleistungen nach
Dringlichkeit.[27]
Das Kriterium der Dringlichkeit allein sagt jedoch nichts über den
angestrebten medizinischen Nutzen aus. So stellt sich bei einer Zuteilung
nach Dringlichkeit immer die Frage, welche Zustände dringlich sind,
also prioritär versorgt werden müssen. Es muss daher vorab klar
sein, welche Faktoren zu einer Priorisierung führen. Denkbar ist die
Annahme der Dringlichkeit bei der Rettung von Leben (Überlebenschance)[28]
oder bereits bei jeglichen Zuständen, die ohne Behandlung medizinische
Nachteile mit sich bringen (Lebenszeit oder Lebensqualität). Ein
Dringlichkeitsansatz setzt somit ein zugrundeliegendes Nutzenziel voraus.
Auch bei teilweise empfohlenen «first come -
first serve»-Ansätzen[29]
stellen sich verschiedene Probleme: Werden die Patienten zuerst versorgt,
die sich als Erstes in einer medizinischen Einrichtung befinden, erfolgt
die Zuteilung der knappen Ressourcen zufällig und inhaltsleer, d.h.
das Ziel des grösstmöglichen medizinischen Nutzens wird dabei
nicht verfolgt. Eine zufällige Zuteilung knapper Ressourcen mag auf
den ersten Blick als fairste Lösung erscheinen, da das
Medizinalpersonal so keine Wertungen und darauf basierende
Zuteilungsentscheide vornehmen muss. Bei einer vertieften Betrachtung sind
zufällige Ressourcenverteilungen aber nicht nur willkürlich,[30]
sondern potenziell auch ungerecht.[31]
Gerade Patientinnen mit grösseren gesundheitlichen
Einschränkungen - beispielsweise einer Behinderung - oder aus
wirtschaftlich schwächeren Verhältnissen könnten
benachteiligt werden.[32]
Je nach Richtlinie oder wissenschaftlicher Abhandlung wird ein anderer der
vorgestellten Ansätze verfolgt oder zumindest empfohlen.[33]
Nach der hier vertretenen Auffassung sollte die Zuteilung knapper
medizinischer Ressourcen das primäre Ziel verfolgen, möglichst
viele Leben zu retten. Die Frage, wer behandelt werden soll, basiert nach
diesem Ansatz nicht auf einer heiklen Wertung menschlichen Lebens. Diese
Zielsetzung ermöglicht es somit, die Gleichheit und den Wert jedes
Individuums zu respektieren. Der Ansatz, möglichst viele Leben zu
retten, reicht in einer absoluten Form jedoch nicht aus, um der
Komplexität möglicher Zuteilungsentscheide gerecht zu werden. Wie
soll beispielsweise vorgegangen werden, wenn zwei Patienten mit
vergleichbarer Überlebenschance zur gleichen Zeit behandelt werden
müssen, die Ressourcen jedoch nur für einen Patienten ausreichen?
Diese Frage zeigt die Grenzen einzelner Ansätze zur Nutzenmaximierung
auf. Es erscheint daher sinnvoll, den Ansatz, möglichst viele Leben zu
retten, mit anderen Ansätzen zu kombinieren. Welche Ansätze
für eine Kombination am erfolgversprechendsten sind, sollte nicht
allein durch Expertinnen und Experten beantwortet werden. Vielmehr ist es
in Anbetracht der Meinungsvielfalt hinsichtlich der verschiedenen
Ansätze notwendig, eine bisher fehlende öffentliche Debatte zu
führen, um das verfolgte Nutzenziel breiter abzustützen.[34]
Schliesslich kann die Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen auch in
Situationen eine Rolle spielen, in denen es nicht um Leben oder Tod geht,
beispielsweise, wenn die verfügbare Menge eines Medikaments nicht
für die Behandlung aller Patientinnen ausreicht. Dies muss zwar nicht
lebensbedrohlich sein, kann aber dennoch gesundheitliche Langzeitfolgen
nach sich ziehen. In solchen Situationen kann es notwendig sein, die
Lebensqualität[35]
zu beurteilen und gestützt darauf die knappen Ressourcen zuzuteilen.
Neben der Zuteilung therapeutischer Ressourcen ist auch an die Zuteilung
präventiver Ressourcen zu denken, also zum Beispiel an Impfstoffe. Bei
der Maximierung des präventivmedizinischen Nutzens können auch
Aspekte wie etwa der Schutz besonders gefährdeter Personengruppen oder
die Eindämmung der Krankheitsverbreitung eine bedeutende Rolle
spielen.[36]
Auch in diesen Fällen ist es wichtig, dass im Voraus Überlegungen
zur Nutzenmaximierung angestellt werden.
c) Klare Zielsetzung
Um mit knappen Ressourcen tatsächlich den grösstmöglichen
medizinischen Nutzen erzielen zu können, müssen die massgebenden
Ziele bzw. Ansätze konkret festgehalten und kommuniziert werden; denn
nur mit einer klaren Zielsetzung ist es möglich, den
grösstmöglichen Nutzen in der gewünschten Form zu erreichen
oder zumindest konsequent bei allen Patientinnen und Patienten anzustreben.
Der gewählte Ansatz zur Nutzenmaximierung muss daher ausdrücklich
in Richtlinien, Checklisten oder Ähnlichem erwähnt werden. Sodann
sollte das gesamte Medizinalpersonal für die Zuteilung knapper
medizinischer Ressourcen sowie die damit verbundenen Fragestellungen und
Entscheidungsgrundlagen sensibilisiert werden.
2. Relativität
Ob eine Patientin knappe medizinische Ressourcen erhält oder nicht,
sollte immer im Vergleich mit den anderen aktuell auf diese Ressourcen
angewiesenen Patientinnen und Patienten beurteilt werden. Es wird somit
eine relative Betrachtungsweise eingenommen, anstatt einen absoluten
Massstab anzusetzen.[37]
Um das Ziel des grösstmöglichen medizinischen Nutzens zu
erreichen, muss sich das Medizinalpersonal daher die Frage stellen, bei
welcher Patientin - im Vergleich zu allen anderen
behandlungsbedürftigen Patienten - die Ressourcen am
erfolgversprechendsten eingesetzt werden können.[38]
Aufgrund dieser Ausgangssituation können absolute Kriterien nicht zu
einem Behandlungsverzicht führen.
Ist bei grundsätzlich bestehender Ressourcenknappheit nur ein
einzelner Patient zu behandeln, darf insbesondere nicht aufgrund eines
absoluten Kriteriums vorsorglich auf eine Behandlung verzichtet werden, um
die vorhandenen Ressourcen zu schonen. Andernfalls könnte eine
Behandlung immer aufgeschoben werden, weil die knappen Ressourcen
später einen grösseren Nutzen generieren könnten. Solange es
möglich ist, müssen das Leben und der Wille aller Patientinnen
und Patienten respektiert werden.
Die relative Sichtweise bei der Zuteilung knapper Ressourcen wird insofern
von einem absoluten Kriterium beeinflusst, als dass klar aussichtslose
Therapien nicht durchgeführt werden sollten. Der Einsatz knapper
Güter und Dienstleistungen für eine im Vorhinein nicht
erfolgversprechende Behandlung wäre Verschwendung. Der richtige Umgang
mit aussichtslosen Therapien ist aber ohnehin für jegliches
ärztliche Handeln von Bedeutung.[39]
Neben der Relativität in sachlicher Hinsicht ist die Zuteilung knapper
medizinischer Güter und Dienstleistungen auch in zeitlicher Hinsicht
relativ. Ob eine medizinische Massnahme für den einzelnen Patienten im
Vergleich zu anderen Patientinnen den bestmöglichen Therapieerfolg
darstellt, ist je nach Zeitpunkt unterschiedlich zu beurteilen, da sich der
Zustand eines Patienten innert kürzester Zeit verschlechtern kann.
Ebenso können plötzlich andere Patientinnen
behandlungsbedürftig werden, bei denen die medizinischen Ressourcen
erfolgversprechender eingesetzt werden können. Es ist daher nicht nur
zum Zeitpunkt der Behandlungsaufnahme danach zu fragen, ob die knappen
Ressourcen optimal eingesetzt werden, sondern es muss stattdessen
regelmässig überprüft werden, ob die Zuteilung der
Güter und Dienstleistungen im weiteren Behandlungsverlauf
zielführend ist.[40]
3. Legitimität
Grundsätzlich besteht zwischen Medizinalpersonal und Patienten ein
durch den Patientenwillen geprägtes, gleichrangiges Verhältnis.[41]
Dennoch gibt es Situationen - wie die Zuteilung knapper medizinischer
Ressourcen - in denen der Patientenwillen nicht immer respektiert werden
kann.[42]
In diesen Situationen erfordern fremdbestimmte medizinische Massnahmen
Legitimität, um gerechtfertigt werden zu können.
Der Begriff der Legitimität ist dabei umfassend zu verstehen. Die
Zuteilung knapper medizinischer Güter und Dienstleistungen muss
deshalb aus rechtlicher (a), wissenschaftlicher (b) sowie
gesellschaftlicher Perspektive (c) legitim sein.
a) Rechtliche Perspektive
Zuteilungsentscheide, die den Behandlungswillen der Patientin nicht
respektieren können, lassen sich durch keine Einwilligung und keine
konkrete gesetzliche Ausnahme rechtfertigen. Solche Entscheide können
aber dennoch rechtlich legitim sein.
Um diese rechtliche Legitimität zu gewährleisten, ist der
Anspruch auf eine medizinische Behandlung in Notfällen[43]
zu beachten:[44]
Ärztinnen und Ärzte haben in Notsituationen medizinischen
Beistand zu leisten (vgl. Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 40 lit. g MedBG sowie in
kantonalen Gesetzen, etwa § 32 Abs. 1 GesG-LU)[45]
. Gemäss Art. 41a KVG besteht
zudem eine Aufnahmepflicht der Listenspitäler für innerkantonale
Patientinnen (Abs. 1) sowie für ausserkantonale Patienten in
Notfällen oder wenn der Leistungsauftrag dies vorsieht (Abs. 2). Doch
der Anspruch auf medizinische Behandlung in Notfällen gilt nicht
uneingeschränkt: Beim Anspruch gegenüber Ärztinnen und
Ärzten erwähnen die einschlägigen Normen nur einen
ärztlichen «Beistand», der jedoch nicht weiter definiert
wird. Der Gesetzgeber spricht diesbezüglich von einer
«Hilfestellung in Notsituationen».[46]
Mit den gewählten Begriffen des Beistands bzw. der Hilfestellung wird
zum Ausdruck gebracht, dass die Behandlungsmöglichkeiten - etwa wegen
widriger Umstände oder fehlender Ressourcen - beschränkt sein
können. Gewisse Einschränkungen gelten auch für die
Aufnahmepflicht der Listenspitäler, die nämlich nur im Rahmen der
Leistungsaufträge und der vorhandenen Kapazitäten gilt (Art. 41a Abs. 1 KVG).
Auch wenn mögliche Einschränkungen durch Leistungsaufträge
in Notfällen keine Anwendung finden (vgl. Art. 41a Abs. 2 KVG),
können mangelnde Kapazitäten die Aufnahmepflicht
einschränken.[47]
Damit sind dem Anspruch auf medizinische Behandlung auch in Notfällen
gewisse Grenzen gesetzt.
Des Weiteren gelten auch für Notfallbehandlungen die ärztliche
Sorgfaltspflicht sowie die Regeln der ärztlichen Kunst[48]
(Art. 40 lit. a MedBG; Art. 394 Abs. 1 OR). Die
Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht sind jedoch nach den
Umständen des Einzelfalls zu beurteilen - «namentlich nach der
Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem
Beurteilungs- und Bewertungsspielraum, der dem Arzt zusteht, sowie den
Mitteln und der Dringlichkeit der medizinischen Massnahme».[49]
Die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt kann somit
insofern beschränkt sein, als je nach Situation eventuell nicht die
nötigen medizinischen Mittel zur Verfügung stehen.[50]
Muss das Medizinalpersonal knappe medizinische Güter und
Dienstleistungen Patienten zuteilen, ist dies somit in Anbetracht der
vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten sowie unter Einhaltung der nach
den Umständen gebotenen Sorgfalt vorzunehmen. Bei der Zuteilung sind
die einschlägigen Rechtsansprüche, die anerkannten Regeln der
ärztlichen Kunst, die Standesregeln[51]
sowie allfällige Vorgaben der medizinischen Institution, in der die
Behandlung stattfindet, zu beachten. Patientinnen und Patienten, die
benötigte medizinische Ressourcen nicht erhalten, ist zumindest
medizinischer Beistand zu leisten. Ein solcher Beistand umfasst unter
anderem palliative Massnahmen. Beachtet das Medizinalpersonal diese
Vorgaben, ist die fremdbestimmte Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen
aus rechtlicher Sicht zulässig und legitim.
b) Wissenschaftliche Perspektive
Um Zuteilungsentscheide zu legitimieren, sind nicht allein rechtliche
Normen einzuhalten. Zusätzlich müssen auch wissenschaftliche
Standards und Erkenntnisse beachtet werden. Die Legitimität in
wissenschaftlicher Hinsicht ist dann zu bejahen, wenn sich
Zuteilungsentscheide und die dazu nötigen Entscheidungsgrundlagen auf
aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Neben
wissenschaftlichen Publikationen können Richtlinien oder Standards von
privaten Verbänden oder Institutionen, die den aktuellen
wissenschaftlichen Stand zur Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen
zusammenfassen, von grosser Bedeutung sein.[52]
Ebenso können wissenschaftliche Modelle oder Checklisten das
Medizinalpersonal dabei unterstützen, wissenschaftlich legitime
Zuteilungsentscheide zu treffen.[53]
Die Entscheidungsgrundlagen für die Zuteilung knapper medizinischer
Ressourcen müssen laufend an neue wissenschaftliche Erkenntnisse
angepasst werden. Wichtig ist es dabei, nicht nur Erkenntnisse einer
einzelnen Disziplin zu berücksichtigen, sondern eine möglichst
interdisziplinäre Perspektive einzunehmen.
c) Gesellschaftliche Perspektive
Der dritte Faktor, der zur Legitimität von Zuteilungen knapper
Ressourcen beitragen kann, ist ein öffentlicher Diskurs. Wenn die
Grundlagen für Zuteilungsentscheide (in Form von Richtlinien,
Zuteilungskriterien, Checklisten etc.) breit thematisiert werden, kann dies
die Akzeptanz von Zuteilungsentscheiden steigern.
Darüber hinaus gibt es Ansätze, die es der Gesellschaft
ermöglichen, an der Ausarbeitung der Entscheidungsgrundlagen zu
partizipieren.[54]
Der Einbezug der Öffentlichkeit kann so nicht nur die Akzeptanz
steigern, sondern auch das öffentliche Vertrauen stärken und
gesellschaftliche Werte in den Entscheidungsgrundlagen besser
widerspiegeln.[55]
Es bietet sich vor allem an, Vertreter direkt bzw. stark betroffener
Bevölkerungsgruppen, beispielsweise von besonders verletzlichen
Patientengruppen, in den Entstehungsprozess der Entscheidungsgrundlagen
einzubeziehen. Dieser Einbezug führt zu einer höheren
Sensibilität gegenüber konkreten Problemstellungen wie etwa
potenziellen Diskriminierungen.[56]
Durch einen öffentlichen Diskurs und einen partizipativen
Entstehungsprozess der Entscheidungsgrundlagen gewinnen
Zuteilungsentscheide letztlich an Legitimität.
4. Nicht-Diskriminierung
Ärztinnen und Ärzte dürfen Patienten nicht diskriminieren.
Für Spitalbehandlungen im Rahmen eines Leistungsauftrages ist das
Medizinalpersonal direkt an das grundrechtlich verankerte
Diskriminierungsverbot gebunden (Art. 35 Abs. 2 BV i.V.m. Art. 8 Abs. 2 BV; Art. 14 EMRK). Für
privatrechtliche Behandlungsverhältnisse kann das
Diskriminierungsverbot zum einen aufgrund einer grundrechtskonformen
Rechtsauslegung gelten (indirekte Drittwirkung der Grundrechte nach Art. 35 Abs. 3 BV).[57]
Zum anderen hält das ärztliche Standesrecht fest, dass
Patientinnen und Patienten aufgrund persönlicher Merkmale nicht
diskriminiert werden dürfen (Art. 4 Abs. 3 FMH-Standesordnung).
Nach Art. 43 Abs. 1 FMH-Standesordnung
ist das standesrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot auf Mitglieder
der FMH direkt anwendbar. Für alle anderen Ärztinnen und
Ärzte dient das Standesrecht zumindest zur Präzisierung der
ärztlichen Sorgfaltspflicht.[58]
Eine besondere Herausforderung kann die Nicht-Diskriminierung besonders
verletzlicher Patientengruppen oder sog. «Risikogruppen»[59]
sein. Dies lässt sich am aktuellen Beispiel der Coronavirus-Pandemie
aufzeigen: Aufgrund dieser Pandemie sind besonders verletzliche
Patientengruppen plötzlich zweifach belastet. Zum einen tragen sie ein
hohes
Risiko dafür, dass eine COVID-19-Erkrankung wegen vorhandener
Vorerkrankungen zu schweren Komplikationen oder gar zum Tod führt.[60]
Zum anderen besteht für sie das Risiko, diskriminiert zu werden, da
ihnen beispielsweise aufgrund ihres Alters eine Behandlung verwehrt wird.[61]
Besonders verletzliche Patientengruppen sind damit in doppelter Hinsicht zu
schützen: Sie müssen erstens bestmöglich vor einer
Erkrankung oder möglichen Komplikationen bewahrt werden. Zweitens ist
dafür zu sorgen, dass Individuen nicht aufgrund ihrer
Zugehörigkeit zur Gruppe der besonders verletzlichen Patientinnen und
Patienten diskriminiert werden. Gleichzeitig muss eingeräumt werden,
dass Faktoren wie das Alter oder eine chronische Erkrankung einen Einfluss
auf die Bewertung des medizinischen Nutzens[62]
haben können. Daher können sich diese Merkmale zumindest indirekt
auf den Zuteilungsentscheid auswirken.
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Patienten- oder Altersgruppe
kann allein jedoch kein Grund sein, jemandem knappe medizinische Güter
oder Dienstleistungen vorzuenthalten. Das Medizinalpersonal muss
stattdessen beurteilen, wie sich der konkrete Zustand des Patienten auf die
medizinische Erfolgsprognose[63]
auswirkt. Gestützt auf diese Prognose und im Vergleich mit den anderen
Patientenprognosen kann das Medizinalpersonal die nötigen
Zuteilungsentscheide treffen. Somit ist eine Gesamtbetrachtung des
Zustandes der Patienten unerlässlich.[64]
Ebenso dürfen Zuteilungsentscheide nie an andere verpönte
Merkmale wie die Herkunft, die Rasse, die Familienverhältnisse oder
das Geschlecht anknüpfen. Solche Eigenschaften haben keinen Einfluss
auf den zu erwartenden medizinischen Nutzen, womit es an einem ernsthaften
und sachlichen Grund für eine solche Anknüpfung fehlt. Das
Medizinalpersonal muss namentlich auch für unbewusste
Benachteiligungen einzelner Personengruppen sensibilisiert werden.
Im Zusammenhang mit der Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen wird
dennoch oft eine Bevorzugung bestimmter Patientinnen und Patienten aufgrund
ihrer beruflichen Tätigkeit erwähnt;[65]
insbesondere eine prioritäre Behandlung des Medizinalpersonals wird
als zulässig erachtet.[66]
Das Argument an sich ist nachvollziehbar: Wird das Medizinalpersonal nicht
prioritär mit knappen medizinischen Ressourcen versorgt, können
insgesamt weniger Patienten behandelt werden, da es an einsatzbereitem
Medizinalpersonal fehlt. Die essenziellen Fähigkeiten und Aufgaben des
Medizinalpersonals können nicht durch andere Personen ersetzt werden.[67]
Bei einer solchen Bevorzugung stellt sich jedoch unweigerlich die Frage,
welcher Grad an gesellschaftlichem Nutzen nötig ist, um Ressourcen
prioritär zuzuteilen. Andere Berufsgruppen leisten ebenfalls
essenzielle Beiträge für unsere Gesellschaft und müssten
daher ebenso bevorzugt behandelt werden.[68]
Eine Bevorzugung einzelner Patientinnen und Patienten aufgrund ihres
gesellschaftlichen Nutzens wäre somit nicht nur aus der Perspektive
des Diskriminierungsverbots äusserst problematisch, sondern würde
auch an einer gerechten Umsetzung scheitern.[69]
5. Ausgleich und Kontrolle
Bei der Zuteilung knapper medizinischer Güter wird es immer
Unsicherheiten und Entscheidungsspielräume geben, da
Zuteilungsentscheide von einer Vielzahl von Faktoren abhängen.[70]
Es fehlt somit zu einem gewissen Grad die Sicherheit, die in solchen
Situationen wünschenswert wäre. Gleichzeitig geht es bei der
Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen um schwerwiegende Entscheide,
die einschneidende Konsequenzen für die Betroffenen haben. Das
Medizinalpersonal, das solche Entscheide treffen muss, trägt damit
eine grosse Verantwortung und weitreichende Kompetenzen.
Aufgrund der bestehenden Entscheidungsspielräume und empfindlichen
Entscheidungskonsequenzen muss bei Zuteilungsentscheiden eine Ausgleich-
und eine Kontrollfunktion gewährleistet werden. An dieser Stelle geht
es nicht um eine haftungs- oder strafrechtliche Aufarbeitung, sondern
vielmehr um einen Ausgleich der Fremdbestimmung, die Zuteilungsentscheide
massgebend prägt.[71]
Darüber hinaus steht die Kontrolle der zentralen medizinischen,
ethischen und rechtlichen Grundsätze im Fokus.
Als Ausgleich zur Fremdbestimmung ist als erstes Transparenz zu schaffen.
Durch Transparenz werden die Grundlagen und Gründe der
Zuteilungsentscheide bzw. der fremdbestimmten Massnahmen offengelegt,[72]
womit die Entscheide besser nachvollzogen und überprüft werden
können. Transparenz sollte dabei umfassend verstanden werden: Es
sollten nicht nur die abstrakten Entscheidungsgrundlagen transparent und
bekannt sein, sondern auch die konkreten Zuteilungsentscheide und die
dazugehörigen Überlegungen. Mit Blick auf die konkreten
Zuteilungsentscheide sollten diese zumindest den betroffenen Patienten
sowie den relevanten Stellen der behandelnden Institution - zum Beispiel
den in diesem Bereich tätigen Ärztinnen und Ärzten, dem
internen Ethik-Board etc. - zugänglich sein. Die abstrakten
Entscheidungsgrundlagen für die Zuteilung knapper medizinischer
Ressourcen sollten gar öffentlich sein.
Um die fremdbestimmten Massnahmen gegenüber den Patientinnen und
Patienten weiter auszugleichen, sollten Zuteilungsentscheide in keinem Fall
Einzelentscheidungen sein.[73]
Es muss somit eine Gruppe von Personen über die Zuteilung der
Ressourcen entscheiden; denkbar ist eine Art Triage-Board.[74]
Diese Boards sollten aufgrund der komplexen Herausforderungen
interdisziplinär zusammengesetzt sein, also aus medizinischen sowie
ethischen und rechtlichen Fachpersonen bestehen. Gemeinsam getroffene
Entscheide führen zu einer
geteilten Verantwortung und können insbesondere das Dilemma der
behandelnden Ärztinnen und Ärzte, die eine medizinische
Behandlung nicht durchführen oder sogar abbrechen müssen, etwas
entschärfen.[75]
Des Weiteren sind gemeinsam getroffene Entscheide fachlich besser und
breiter abgestützt und es fliessen verschiedene Perspektiven in den
Entscheidungsprozess ein. Letztlich können gemeinsam gefällte
Zuteilungsentscheide auch zu einer gegenseitigen Kontrolle während des
Entscheidungsprozesses führen. Damit kann bereits in dieser Phase
sichergestellt werden, dass die Entscheide den allgemeinen
Zuteilungsgrundsätzen entsprechen.
Neben der Kontrolle während der Entscheidfindung sollte schliesslich
gewährleistet sein, dass Zuteilungsentscheide auch im Nachhinein
überprüft werden. Dadurch wird sichergestellt, dass Abweichungen
von den Entscheidungsgrundlagen sowie den allgemeinen Grundsätzen
nicht unentdeckt bleiben. Dies führt zu einer konsequenten Einhaltung
der Zuteilungsvorgaben sowie einem grösseren Vertrauen in die
Entscheide an sich. Damit diese Kontrollen der Zuteilungsentscheide
tatsächlich einen Mehrwert bieten, müssen sie unabhängig
ausgestaltet werden. Dabei ist vor allen Dingen eine zu nahe Anbindung an
das ursprünglich entscheidende Triage-Board zu vermeiden.
III. Schlussfolgerungen
Bei der Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen handelt es sich um
schwierige Entscheidungen mit einschneidenden Konsequenzen. Oftmals
beinhalten Zuteilungsentscheide Elemente der Fremdbestimmung, wodurch sie
für das Medizinalpersonal noch anspruchsvoller werden. Aufgrund dieser
Ausgangssituation gilt es, folgende Grundsätze zu beachten:
Zuteilungsentscheide orientieren sich am Ziel der Nutzenmaximierung. Es
stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung, nach denen der
grösstmögliche medizinische Nutzen beurteilt werden kann. Die
Bewertung des Nutzens ist nach der festgelegten Zielsetzung sowie in
sachlicher und zeitlicher Sicht relativ vorzunehmen. Ausserdem muss die
Zuteilung knapper medizinischer Güter und Dienstleistungen die
rechtlichen, wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Vorgaben
erfüllen. Zuteilungsentscheide sind insbesondere diskriminierungsfrei
zu treffen. Schliesslich werden die Entscheide von mehreren Personen
getroffen und transparent dargelegt, wodurch sie auch überprüft
werden können.
Die hier erarbeiteten Grundsätze können niemandem Entscheidungen
über die Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen abnehmen. Die
Grundsätze sollen aber dazu beitragen, dass Zuteilungsentscheide
zielgerichtet, legitim, gerecht und nachvollziehbar
gefällt werden. Letztlich soll das Medizinalpersonal knappe
medizinische Ressourcen da-durch besser zuteilen können. Es handelt
sich bei den erarbeiteten Prinzipien insofern lediglich um eine allgemeine
Orientierungshilfe, als dass diese Prinzipien konkret umgesetzt werden
müssen.
Für eine Erfolg versprechende Umsetzung ist es zum einen wichtig, dass
die direkt involvierten Akteure wie Ärztinnen und Ärzte oder das
Pflegepersonal weiter für die Problematik sensibilisiert werden. Zum
anderen sollte auch die Gesellschaft an sich verstärkt einbezogen
werden, um Unsicherheiten und Herausforderungen bei der Zuteilung knapper
medizinischer Ressourcen besser zu meistern.
[5]
Bei Rationierungen wird zur Einhaltung eines Gesamtbudgets die
Entscheidung getroffen, gewisse medizinisch notwendige Ressourcen
nicht zu vergüten bzw. anzubieten. Im Gegensatz hierzu handelt
es sich bei der hier behandelten Zuteilung knapper Ressourcen um
keinen bewusst getroffenen Entscheid zur Verknappung von
Gütern oder Dienstleistungen; vielmehr übersteigt die
Nachfrage nach medizinischen Ressourcen das vorhandene Angebot. Zum
Thema der Rationierung, siehe Bernhard Rütsche,
Rechtsstaatliche Grenzen von Rationierungen im Gesundheitswesen,
in: Kieser/Leu (Hrsg.), 5. St. Galler Gesundheits- und
Pflegerechtstagung, Zürich/St. Gallen 2018, S. 109 ff.
[6]
Die vier medizinethischen Grundprinzipien nach Beauchamp und
Childress umfassen die Prinzipien der Autonomie (Respect for
Autonomy), der Nichtschädigung (Nonmaleficence), der
Fürsorge (Beneficence) sowie der Gerechtigkeit (Justice). Zum
Ganzen Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of
Biomedical Ethics, 7. Aufl., Oxford/New York 2013, S. 101 ff.
[7]
Von grundlegender Bedeutung ist das Selbstbestimmungsrecht der
Patientinnen und Patienten (Art. 28 ZGB sowie Art. 10 Abs. 2 BV). Es
liegt in der Autonomie jeder Patientin, in eine medizinische
Behandlung einzuwilligen oder diese abzulehnen. Zum Ganzen Regina
E. Aebi-Müller / Walter Fellmann / Thomas Gächter / Bernhard Rütsche / Brigitte
Tag, Arztrecht, Bern 2016, Rz. 1 zu § 4; Dario Picecchi,
Medizinische Behandlung eines Zeugen Jehovas, AJP 2018, S. 756;
Thomas Gächter / Bernhard Rütsche, Gesundheitsrecht, Ein
Grundriss für Studium und Praxis, 4. Aufl., Basel 2018, Rz.
330.
[8]
Insbesondere für den Fall einer Urteilsunfähigkeit sind
Vorkehrungen zu treffen, damit das Medizinalpersonal weiterhin
Massnahmen im Sinne des Patienten durchführen kann. Entweder
ist die zur Vertretung berechtigte Person (Art. 378 Abs. 1 ZGB)
über einen gewünschten Behandlungsverzicht zu informieren
oder ein solcher Verzicht wird in einer - den Angehörigen oder
dem Medizinalpersonal zugänglichen - Patientenverfügung (Art. 370 Abs. 1 ZGB)
festgehalten. Ausführlich hierzu Regina E. Aebi-Müller,
Der urteilsunfähige Patient
- eine zivilrechtliche Auslegeordnung, Jusletter vom 22. September
2014, Rz. 109 ff.
[9]
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde befürchtet,
dass Berichte über Patientenverfügungen auf ältere
Personen Druck ausüben könnten. Siehe Linus
Schöpfer,
Die Notfallanordnung ist dem Menschen zumutbar, tagesanzeiger.ch vom 17. April 2020.
[11]
In dringlichen Fällen besteht grundsätzlich gar ein
Anspruch darauf, medizinisch behandelt zu werden (siehe Rz. 26).
Zudem kann auch eine moralische Verpflichtung, Leben zu retten,
nicht von der Hand gewiesen werden. Vgl. John Harris,
Must doctors save their patients?, Journal of Medical Ethics 1983/9, S. 213 f.
[12]
Vgl. Beauchamp/Childress (Fn. 6), S. 292; Norman Daniels,
Justice, Resource Allocation, and Emergency Preparedness: Issues Regarding Stockpiling, in: Jennings/Arras/Barrett/Ellis
(Hrsg.), Emergency Ethics: Public Health Preparedness and Response, Oxford 2016, S. 7;
Emanuel J. Ezekiel et al.,
Fair Allocation of Scarce Medical Resources in the Time of
Covid-19, The New England Journal of Medicine 2020/382, S. 3 f.; Markus
Schott, Patientenauswahl und Organallokation, Diss. Basel 2001, S.
167 f.
[13]
Die Grundidee hinter einer Nutzenmaximierung geht auf den
Utilitarismus zurück. Ziel des Utilitarismus ist es, der
Allgemeinheit das grösstmögliche Glück zu bringen
(«greatest happiness of the greatest number»). Siehe
Jeremy Bentham, A Fragment on Government, Edited with an
Introduction by F.C. Montague, New Jersey 2001, S. 93.
[15]
Es stellt sich zudem die Frage, wer den Nutzen bewerten soll. Dies
können etwa Patientinnen und Patienten, Expertinnen und
Experten oder die allgemeine Bevölkerung sein. Vgl. auch
Alastair M. Gray / Philip M. Clarke / Jane L. Wolstenholme / Sarah
Wordsworth, Applied Methods of Cost-effectiveness Analysis in
Health Care,
Oxford/New York 2010, S. 97.
[16]
Siehe hierzu Fn. 24.
[17]
Würde z.B. der soziale Nutzen eine Rolle spielen, so
würde etwa die Behandlung von alleinstehenden Patientinnen und
Patienten - im Vergleich zur Behandlung von Patientinnen und
Patienten mit einer Familie - zu einem kleineren sozialen Nutzen
und keinem Drittnutzen führen.
[18]
Dies würde zu unerwünschten Diskriminierungen
führen. Siehe hierzu ausführlich Rz. 37.
[20]
Teilweise wird zwischen der kurz- und langfristigen
Überlebenschance unterschieden.
Siehe etwa New York State Task Force on Life and the Law,
Ventilator Allocation Guidelines, New York 2015, S. 34. Geht es aber darum, so viele Leben wie
möglich zu retten, ist alleinig die kurzfristige
Überlebenschance massgebend. Würde es stattdessen um die
langfristige Überlebenschance gehen, d.h., ob die Patientin
aufgrund des aktuellen Krankheitszustandes auch noch Jahre
später lebt, steht nicht mehr das Retten möglichst vieler
Leben, sondern das Retten von möglichst viel Lebenszeit, im
Fokus. Bei der Beurteilung der langfristigen Überlebenschance
geht es folglich um die Beurteilung der Lebenserwartung.
[22]
Vgl. Daniels (Fn. 12), S. 7; Rz. 34.
[23]
Graeme T. Laurie / Shawn H. E. Harmon / Edward S. Dove, Mason &
McCall Smith's Law & Medical Ethics, 11. Aufl., Oxford 2019,
Rz. 12.52; Schwappach (Fn. 21), S. 211 ff.
[24]
Der Wert von 1 QALY entspricht einem Lebensjahr bei voller
Gesundheit. Je nach Lebensqualität verringert sich der Wert
bis auf 0, wobei dieser Wert dem Tod entspricht. Es gibt auch
Minuswerte, die Zustände beschreiben, die grosses Leid mit
sich bringen (sog. «states worse than death»). Um den
QALY-Wert zu bestimmen, können verschiedene Instrumente
herangezogen werden. Häufig werden Raster verwendet (z.B. ein
EQ-5D Lebensqualitätsfragebogen), bei denen Patientinnen und
Patienten gewisse Gesundheitszustände bewerten müssen.
Vgl. Gray/Clarke/
Wolstenholme/Wordsworth (Fn. 15), S. 88 f.; Keith Syrett, Law,
Legitimacy and the Rationing of Health Care, A Contextual and
Comparative Perspective, S. 88 f.
[25]
Vgl. Govind Persad, The Pathways Approach to Priority Setting:
Considering Quality of Life While Being Fair to Individuals with
Disabilities, in: Cohen/Shachar/Silvers/Stein (Hrsg.), Disability,
Health, Law, and Bioethics, Cambridge/New York 2020, S. 255;
Schwappach (Fn. 21), S. 218.
[27]
Herring (Fn. 19), S. 83; Schott (Fn. 12), S. 182.
[29]
Laurie/Harmon/Dove (Fn. 23), Rz. 12.55; Govind Persad, Public
Preferences About Fairness and the Ethics of Allocating Scarce
Medical Interventions, in: Li/Tracer (Hrsg.), Interdisciplinary
Perspectives on Fairness, Equity, and Justice, Cham 2017, S. 54.
[30]
Da die Zuteilung knapper Ressourcen vom Zufall abhängig ist,
kann der erzielte Nutzen stark variieren. Diese Herausforderung
könnte man entschärfen, indem man Zufallsentscheide nur
unter verschiedenen Individuen zulässt, die einen
vergleichbaren Zustand und ein vergleichbares zu erwartendes
Nutzenergebnis aufweisen. Bei solchen Losentscheiden müsste
aber wiederum vorab entschieden werden, wie die Patientinnen in
Gruppen eingeteilt werden. Es würde sich somit nicht um einen
reinen Zufalls- oder «first come - first serve»-Ansatz
handeln. Anders Persad, der eine reine Zufallslotterie diskutiert.
Vgl. Persad (Fn. 29), S. 54.
[31]
Ob das Dilemma, aufgrund knapper Ressourcen über Tod und Leben
entscheiden zu müssen, überhaupt gerecht gelöst
werden kann, hängt nicht zuletzt auch von der zugrunde
gelegten Gerechtigkeitstheorie ab. Ein Überblick zu den
verschiedenen Theorien findet sich bei Beauchamp/
Childress (Fn. 6), S. 250 ff.; siehe auch John Rawls, A Theory of
Justice, Revised Edition, Cambridge 1999, S. 15 ff. und 160 ff.
[32]
Zur Situation besonders verletzlicher Patientinnen und Patienten,
vgl. Rz. 34 ff.
[33]
BAG (Fn. 19), S. 94; New York State Task Force on Life and the Law
(Fn. 20), S. 4 (befürworten, möglichst viele Leben zu
retten); Beauchamp/
Childress (Fn. 6), S. 286 (befürworten es, Überlegungen
zur Lebenserwartung miteinzubeziehen); Persad (Fn. 25), S. 256 ff.
(spricht sich dafür aus, QALY diskriminierungsfrei
einzusetzen).
[34]
Siehe hierzu Rz. 31 f.
[35]
Mit Lebensqualität ist der nach der Behandlung erwartete
Gesundheitszustand gemeint. Es ist etwa danach zu fragen, bei
welcher Patientin die knappen Ressourcen mehr Schmerzen lindern
oder grössere gesundheitliche Schäden verhindern.
[36]
Siehe Fn. 69; vgl. BAG (Fn. 19), S. 96; Daniels (Fn. 12), S. 12 f.
[37]
Eine absolute Betrachtungsweise wird oft bei Zuteilungsproblemen
aufgrund einer Budgetknappheit diskutiert. In diesen Diskussionen
wird oft eine Kostenobergrenze als absoluter Massstab
vorgeschlagen. Übersteigen die Kosten einer Behandlung die
Kostenobergrenze, wird die Behandlung in diesen Fällen nicht
mehr finanziert. Vgl. etwa Peter J. Neumann / Joshua T. Cohen / Milton C. Weinstein,
Updating Cost-Effectiveness
- The Curious Resilience of the $50,000-per-QALY Threshold, The New
England Journal of Medicine 2014/371. In der Schweiz gibt es keine
solche absolute Kostenobergrenze. Siehe hierzu BGE 145 V 116.
[38]
Massgebend ist das im Voraus definierte Nutzenziel. Vgl. Rz. 6 ff.
[40]
Ergibt die laufende Überprüfung, dass die knappen
Ressourcen einer anderen Patientin zugeteilt werden sollten, muss
eine Behandlung ggf. abgebrochen werden. Dies kann für das
behandelnde Medizinalpersonal eine enorme Belastung darstellen.
Vgl. hierzu Robert D. Truog / Christine Mitchell / George Q. Daley, The Toughest Triage -
Allocating Ventilators in a Pandemic, The New England Journal of
Medicine 2020/382; Rz. 41.
[43]
Als Notfall gilt jeder Krankheitszustand, der dringlich behandelt
werden muss, um eine Gefahr für die Gesundheit der Patientin
abzuwenden. Die Schwere der Gefahr ist dabei nicht massgebend. Es
muss namentlich keine akute Lebensgefahr für die Patientin
bestehen. Die Gefahr einer erheblichen
Gesundheitsbeeinträchtigung reicht aus. Vgl. Picecchi (Fn. 7),
S. 758.
[44]
Zum Ganzen Picecchi (Fn. 7), S. 757.
[45]
Nach der hier vertretenen Auffassung lassen sich Ansprüche auf
eine medizinische Behandlung auch aus Art. 12 BV und bedeutende
Implikationen für das medizinische Angebot aus Art. 117a BV
ableiten.
[46]
Botschaft vom 3. Dezember 2004 zum Bundesgesetz über die
universitären Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz, MedBG) (BBl 2005 173), S. 229.
[47]
Vgl. Manuela Gebert, Kommentar zu Art. 41a KVG, in:
Blechta/Colatrella/Rüedi/Staffelbach (Hrsg.), Basler Kommentar
zum KVG und KVAG, Basel 2020, Art. 41a KVG N 2; Picecchi
(Fn. 7), S. 759 f.
[48]
Um den Anforderungen der ärztlichen Kunst, der lex artis, zu
genügen, muss eine ärztliche Behandlung nach dem
«anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen
Wissenschaften» vertretbar und sachgemäss sein. Siehe
Urteil des Bundesgerichts 6B_1031/201 vom 23.
März 2017 E. 6.5.2.
[50]
Es ist bspw. an eine Ärztin zu denken, die an einer
Unfallstelle mit mehreren Verletzten vorbeikommt und versucht, mit
den zur Verfügung stehenden Mitteln bestmögliche
medizinische Hilfe zu leisten. Aus strafrechtlicher Sicht
würde eine sog. rechtfertigende Pflichtenkollision greifen, da
die Ärztin nicht allen Hilfeleistungspflichten nachkommen
kann. Siehe Aebi-Müller/Fellmann/
Gächter/Rütsche/Tag (Fn. 7), Rz. 166 ff. zu § 8.
[51]
Die Standesregeln sind deshalb von Bedeutung, weil sie die
berufsrechtlichen Pflichten der Ärztinnen und Ärzte -
auch die allgemeine Sorgfaltspflicht - konkretisieren können.
Besondere Beachtung verdienen auch die Richtlinien der SAMW, auf
die Art. 18 FMH-Standesordnung
explizit verweist. Vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_782/2017 vom 27.
März 2018 E. 2.3.
[52]
In Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ist an die
Triage-Richtlinie der SAMW zu denken. Siehe SAMW (Fn. 3).
Ähnliche Richtlinien gibt es auch im Ausland, siehe New York
State Task Force on Life and the Law (Fn. 20); SIAARTI (Fn. 3); Washington State
Department of Health,
Scarce Resource Management & Crisis Standards of Care, Tukwila 2019.
[53]
In den USA ist bspw. der sog. «Sequential Organ Failure
Assessment Score» (SOFA Score) bei der Zuteilung knapper
medizinischer Ressourcen ein häufig zur Unterstützung
beigezogenes medizinisches Modell. Der SOFA Score dient dazu, die
Organschädigung eines Patienten auf der Intensivstation zu
beurteilen und basierend darauf zu entscheiden, welche Patientinnen
und Patienten knappe medizinische Ressourcen erhalten. Vgl.
Washington State Department of Health (Fn. 52), S. 4 f.
[56]
Siehe hierzu Rz. 34 f.
[57]
Allgemein zur indirekten Drittwirkung der Grundrechte Regina
Kiener / Walter Kälin / Judith Wyttenbach, Grundrechte, 3. Aufl.,
Bern 2018, Rz. 81 ff. zu § 4.
[58]
Siehe Fn. 51. Sodann macht sich nach Art. 261bis Abs. 5 StGB
strafbar, wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die
Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von
Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen
Orientierung verweigert.
[59]
Gemeint sind Personen, die ein hohes Risiko dafür tragen, dass
eine bestimmte Krankheit schwer oder gar tödlich
verläuft. Der Begriff kann jedoch suggerieren, dass von dieser
«Gruppe» ein besonderes Risiko ausgeht. Es handelt sich
daher um eine unglückliche Wortwahl.
[62]
Das Alter oder Vorerkrankungen können bei jedem gewählten
Ansatz zur Nutzenmaximierung Auswirkungen auf den zu erwartenden
Nutzen haben. Der Einfluss fällt bei einer
Berücksichtigung der Lebenszeit oder Lebensqualität
beträchtlich aus. Das Alter oder Vorerkrankungen können
jedoch auch die Überlebenschancen beeinflussen. Siehe hierzu
Rz. 12 ff.
[63]
Wichtig ist, dass die Prognose auf den vordefinierten Zielsetzungen
basiert. Vgl. Rz. 17 f.
[64]
Unglücklich gelöst ist dies etwa in den Richtlinien der
SAMW zur intensivmedizinischen Triage während der
COVID-19-Pandemie. Die Richtlinien sprechen zwar davon, dass
«Alter per se» für die Zuteilung knapper
intensivmedizinischer Ressourcen kein Kriterium sei. Gleichzeitig
werden die Altersgrenzen von 85 Jahren für sich allein bzw.
von 75 Jahren zusammen mit weiteren Vorerkrankungen in einer
zweiten Stufe als absolute Nichtaufnahmekriterien aufgeführt
(siehe SAMW [Fn. 3], S. 3, 5). Diese starren Alterslimiten sind
nach der hier vertretenen Auffassung kein zulässiges
Zuteilungskriterium. Ähnlich empfahl etwa in Italien eine
Fachärztegesellschaft, dass starre Altersgrenzen als
Nichtaufnahmekriterium für die Intensivstation «may
ultimately need to be set», was in der Realität offenbar
auch so gehandhabt wurde. Siehe SIAARTI (Fn. 3), S. 5; Lisa
Rosenbaum,
Facing Covid-19 in Italy - Ethics, Logistics, and Therapeutics
on the Epidemic's Front Line, The New England Journal of Medicine 2020/382, S. 2;
ebenfalls kritisch hinsichtlich Altersgrenzen bei der
Ressourcenzuteilung Mark-Anthony Schwestermann / Christa Tobler,
Altersdiskriminierung bei medizinischer Ressourcenknappheit?, Jusletter vom 14. April 2020, Rz. 31 ff.
[65]
Beauchamp/Childress (Fn. 6), S. 291; Daniels (Fn. 12), S. 15;
Persad (Fn. 29), S. 54 f.
[66]
Persad (Fn. 29), S. 54.
[67]
Eine bevorzugte Behandlung könnte man ebenfalls aufgrund des
Prinzips der Reziprozität rechtfertigen: Da sich gewisse
Berufsgruppen wegen ihrer Tätigkeit einem grösseren
Gesundheitsrisiko ausgesetzt haben, steht ihnen als Gegenleistung
eine bevorzugte Behandlung zu. Siehe Daniels (Fn. 12), S. 15.
[68]
Gleichzeitig stellt sich die Frage, weshalb nicht auch der soziale
Nutzen berücksichtigt werden sollte.
[69]
Eine andere Ausgangslage besteht oftmals bei knappen Ressourcen zur
Prävention: Eine Bevorzugung gewisser Personengruppen kann
wegen ihres erhöhten Erkrankungsrisikos aus präventiver
Sicht durchaus Sinn machen. Eine Priorisierung erfolgt hier jedoch
nicht aufgrund sozialer oder gesellschaftlicher Merkmale, sondern
aufgrund einer präventivmedizinischen Nutzenprognose.
[70]
Die vorherigen Ausführungen haben gezeigt, dass insbesondere
wegen der Nutzenprognose und damit verbundenen Beurteilungen eine
gewisse Bandbreite an Zuteilungsentscheiden möglich ist.
[71]
Siehe zur Fremdbestimmung bei Zuteilungsentscheiden die Rz. 4 und
25 f.
[73]
Ausnahmsweise kann es nötig sein, dass eine behandelnde Person
einen Zuteilungsentscheid allein fällen muss, da schlichtweg
keine Zeit besteht, um den Entscheid im vorgesehenen Triage-Board
zu besprechen.
[74]
Triage-Boards sind spezifisch eingesetzte Gremien, die sich nur mit
Zuteilungsentscheiden befassen. Vgl. Truog/Mitchell/Daley (Fn. 40),
S. 2.
[75]
Aus diesem Grund sprechen sich Truog/Mitchell/Daley für Triage-Boards aus. Sie schlagen sogar vor,
dass das behandelnde Medizinalpersonal am eigentlichen
Zuteilungsentscheid nicht mitwirken sollte. Siehe Truog/Mitchell/
Daley (Fn. 40), S. 2. Es erscheint m.E. jedoch sinnvoll, auch die
Perspektive und das Vorwissen der behandelnden Personen in
Zuteilungsentscheide einfliessen zu lassen.