Nach allgemeiner Auffassung erfüllt die Europäische Union als
einzige Organisation die Merkmale einer supranationalen Gemeinschaft.[6]
Kennzeichnend für die supranationale Gemeinschaft EU ist heute, dass
sich ihr Aufgabenbereich auf ein breites Spektrum von Tätigkeiten
erstreckt, ihre Organe teilweise ohne
Bindung an Instruktionen der Mitgliedstaaten entscheiden, instruierte
Organe teilweise mit Mehrheit entscheiden, Beschlüsse der Organe nicht
nur Mitgliedstaaten verpflichten, sondern unmittelbare Rechtswirkungen
für Bürgerinnen und Bürger und Vorrang vor dem nationalen
Recht haben können, sowie eine eigene Gerichtsbarkeit.[7]
Die Supranationalität des Unionsrechts zeichnet sich durch dessen
unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten, dessen Vorrang vor dem
nationalen Recht, die Eignung zur unmittelbaren Berechtigung oder
Verpflichtung von Einzelpersonen und Behörden, den Erlass im Wege
unabhängiger Beschlussfassung und bei Abhängigkeit von den
Mitgliedstaaten nach dem Mehrheitsprinzip sowie die obligatorische
Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) aus.[8]
2. Europäischer Wirtschaftsraum (EWR)
als Präzedenzfall
Als erstmaliger Anwendungsfall für das obligatorische
Staatsvertragsreferendum unter dem Titel des Beitritts zu einer
supranationalen Gemeinschaft wurde der Europäische Wirtschaftsraum
(EWR) diskutiert. Zur Begründung des supranationalen Charakters
angeführt wurden die automatische Übernahme weiterentwickelten
Unionsrechts, die unmittelbare Anwendbarkeit des EWR-Rechts, der Vorrang
des EWR-Rechts, der weitreichende materielle Inhalt des Abkommens sowie die
Schaffung unabhängiger Organe (EFTA-Gerichtshof und
EFTA-Überwachungsbehörde).[9]
Nach anderer Auffassung sah das EWR-Abkommen weder die Übertragung von
Rechtsetzungsbefugnissen und Hoheitsrechten vor, noch hätte es eine
eigene, autonome Rechtsordnung geschaffen, wobei der
EFTA-Überwachungsbehörde und dem EFTA-Gerichtshof immerhin
supranationale Elemente zugeschrieben wurden.[10]
Der Bundesrat schlug einen argumentativen Mittelweg ein. Einerseits wies er
auf die im EWR-Abkommen enthaltenen supranationalen Elemente wie die
Einrichtung der EFTA-Überwachungs-behörde und den
EFTA-Gerichtshof hin.[11]
Die Supranationalität des EFTA-Gerichtshofs machte der Bundesrat an
dessen Kompetenzen zur Streitschlichtung und zur nicht verbindlichen
Auslegung von Bestimmungen des EWR-Abkommens auf Anfrage staatlicher
Gerichte fest. Andererseits seien nicht
alle Voraussetzungen für die Annahme einer supranationalen
Gemeinschaft erfüllt, weshalb das ordentliche obligatorische
Staatsvertragsreferendum nicht zur Anwendung gelange.[12]
Hieraus zog der Bundesrat den Schluss, das EWR-Abkommen sei dem
obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis[13]
zu unterwerfen.[14]
Auch bezüglich der Assoziierung der Schweiz an Schengen und Dublin
stellte der Bundesrat Überlegungen zum supranationalen Charakter des
Abkommens an, lehnte dessen Supranationalität aber letztlich ab.[15]
Unter den gegenwärtigen Bedingungen und aus heutiger Sicht wird die
Supranationalität von Schengen/
Dublin in der Literatur hingegen teilweise bejaht, da die Schweiz
verpflichtet sei, Weiterentwicklungen des EU-Rechts in diesen Bereichen
kurzfristig zu übernehmen und das Abkommen relativ weitgehende
Auswirkungen auf den schweizerischen Föderalismus habe.[16]
3. Einordnung des InstA anhand der bundesrätlichen Kriterien
Unter Heranziehung der in II.1. eingeführten Definition einer
supranationalen Organisation wird im Folgenden der Charakter des InstA eingeordnet. Mangels
Gründung einer gesonderten supranationalen Gemeinschaft geht es darum,
ob das InstA
beitrittsähnliche Wirkungen zur Folge hat.
a) Unabhängige Organe
Mit dem Schiedsgericht und dem EuGH sind im InstA zwei unabhängige Organe
sowie zwei unabhängige Vertreter der Vertragsparteien (die
Europäische Kommission und der schweizerische Bundesrat) vorgesehen,
deren Mitglieder nicht an Instruktionen von Seiten der Vertragsstaaten
gebunden sind. Im Ausgangspunkt überwacht die Europäische
Kommission die Anwendung der Verträge durch europäische und
mitgliedstaatliche Behörden, während Schweizer Behörden die
Anwendung in der Schweiz überwachen.[17]
Somit ist keine gemeinsame supranationale Überwachungsbehörde
vorgesehen. Im Interesse einer gemeinsamen Überwachung bestehen
sektorielle Gemischte Ausschüsse, die in Fällen angeblich
mangelhafter Anwendung der Abkommen von beiden Vertragsparteien in
klassisch diplomatischer Weise befasst werden können.[18]
Aufgrund der verfahrensrechtlichen Struktur könnte die Kommission
jedoch auch im Rahmen des InstA im
Verhältnis zur Schweiz faktisch die Rolle einer
Überwachungsbehörde übernehmen. Die Kommission ist das
supranationale
Organ der EU schlechthin,[19]
der unter anderem die Überwachung der Anwendung der Verträge
sowie des sekundären Rechts im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens
(Art. 258 ff. AEUV[20]) obliegt.
Kommt es im sektoriellen Gemischten Ausschuss zu keiner einvernehmlichen
Lösung, kann jede Vertragspartei verlangen, dass ein Schiedsgericht
den Streitfall entscheidet.[21]
Die Kommission als Vertreterin der Vertragspartei EU kann demnach einseitig
und ohne Zustimmung der Schweiz an das Schiedsgericht gelangen. Wirft der
Streitfall eine Frage betreffend die Auslegung oder Anwendung einer
Bestimmung auf, die im Unionsrecht vorkommt, und ist deren Auslegung
für die Streitbeilegung relevant und für seine Entscheidung
notwendig,[22]
so ruft das Schiedsgericht den EuGH an.[23]
Das Urteil des EuGH ist für das Schiedsgericht verbindlich.[24]
Abgesehen von der Thematisierung im Gemischten Ausschuss und der insoweit
rein formalen Zwischenschaltung des Schiedsgerichts ähnelt die
Ausgestaltung dem Vertragsverletzungsverfahren, das die Kommission im
Rahmen der EU zulasten von Mitgliedstaaten anstrengen kann.[25]
Sowohl nach dem Vertragsverletzungsverfahren als auch nach dem InstA kann die Kommission eine
ihrer Ansicht nach unionsrechtswidrige Verhaltensweise eines
EU-Mitgliedstaats beziehungsweise der Schweiz eigenständig
einer Entscheidung durch den EuGH zuführen. Somit ist die Kommission
auch Überwachungsbehörde für die Schweiz («Hüterin
der Verträge»).[26]
Aufgrund der Konstruktion des Streitbeilegungsverfahrens mit einseitiger
Anrufungsmöglichkeit durch die Kommission sowie obligatorischer und
verbindlicher Entscheidung durch den EuGH wird ein funktionales
Äquivalent zum Vertragsverletzungsverfahren geschaffen. Soweit das
Schiedsgericht ohne Einbezug des EuGH entscheidet, fungiert das Gremium
selbst als von den Instruktionen der Vertragsparteien unabhängiges
Organ. Die Schiedssprüche sind endgültig und bindend für
alle Parteien.[27]
Die Parteien müssen die Entscheidungen unverzüglich umsetzen.[28]
Soweit der EuGH in Fällen mit Bezug zum Unionsrecht das für das
Schiedsgericht verbindliche Urteil fällt,[29]
ist auch der EuGH selbst als unabhängiges Organ anzusehen. Im Rahmen
der EU (vgl. Art. 19 EUV) ist die
Unabhängigkeit des EuGH als oberstes Rechtsprechungsorgan anerkannt.[30]
b) Nach Mehrheitsregel
entscheidende Organe
Soweit es sich um nicht unabhängige, sondern von Instruktionen der
Vertragsstaaten abhängige Organe handelt, müssen diese mit
Mehrheit entscheiden,
damit Supranationalität angenommen werden kann. Typisch hierfür
ist das
ordentliche Gesetzgebungsverfahren in der EU gemäss Art. 294 AEUV.[31]
Dabei entscheidet das Europäische Parlament mit einfacher Mehrheit der
abgegebenen Stimmen oder der Abgeordneten. Der Rat der Europäischen
Union entscheidet mit qualifizierter Mehrheit. Rechtsakte der EU in Form
der Verordnung und der Richtlinie können demnach gegen den Willen
eines oder mehrerer Mitgliedstaaten verabschiedet werden.
Es ist fraglich, ob das Verfahren der Rechtsübernahme im InstA supranationalen Charakter
wie im Rahmen einer EU-Mitgliedschaft annimmt oder weiterhin das statische
Konzept der bisherigen bilateralen Verträge teilt. Weder findet
derzeit eine automatische Rechtsübernahme von neuem Unionsrecht durch
die Schweiz statt, noch besteht eine Verpflichtung der Schweiz zur
dynamischen Übernahme neu erlassener Rechtsakte der EU.[32]
Das InstA sieht hingegen ein
Verfahren zur Übernahme von Rechtsakten der EU durch die Schweiz auf
dem Gebiet der betroffenen Abkommen vor.[33]
Im Unterschied zur geltenden Rechtslage im Rahmen der bilateralen
Verträge wäre die Schweiz neu verpflichtet, der Anpassung der
Abkommen zuzustimmen.[34]
Die Schweiz hat die Erfüllung der Pflicht zur Rechtsübernahme der
EU über den sektoriellen Gemischten Ausschuss unverzüglich zu
notifizieren.[35]
Verweigert die Schweiz die Anpassung eines Abkommens, entsteht
dementsprechend ein Streitfall, auf den das Streitbeilegungsverfahren
anwendbar ist.[36]
Nachdem die EU einen einschlägigen Rechtsakt verabschiedet hat, ist
die Schweiz verpflichtet, im zuständigen sektoriellen Gemischten
Ausschuss gemeinsam mit der EU einen Beschluss zu fassen beziehungsweise
die Anpassung des Abkommens vorzuschlagen, um den EU-Rechtsakt darin zu
integrieren.[37]
Beschlüsse des sektoriellen Gemischten Ausschusses zur Integration von
EU-Rechtsakten in den bilateralen Rechtsbestand treten sofort, Revisionen
am Tag ihrer Unterzeichnung durch die Vertragsparteien in Kraft, aber nicht
vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens in der EU.[38]
Bei diesem Mechanismus handelt es sich nicht um eine automatische
Rechtsübernahme, da die Schweiz über jede Anpassung einzeln in
dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Verfahren einschliesslich der Wahrung
des Referendumsrechts befinden kann.[39]
Es stellt sich die Frage, ob die dynamische Rechtsübernahme noch dem
klassischen völkerrechtlichen Ansatz verhaftet ist oder schon die
supranationalen Züge des EU-Gesetzgebungs-verfahrens annimmt. Für
letztere Sichtweise sprechen zwei Argumente.
Die dynamische Rechtsübernahme nähme keinen supranationalen
Charakter an, wenn eine Pflichtverletzung nicht systematisch und ernsthaft
sanktioniert würde. Genau dies ist jedoch im InstA vorgesehen. Eine Ablehnung
der Übernahme des Rechtsakts durch das Parlament oder in der
Volksabstimmung führt nicht zu einer Entbindung von der
Übernahmepflicht, sondern stellt vielmehr deren Verletzung dar. Diese
kann im Wege eines Streitbeilegungsverfahrens thematisiert werden[40]
oder als Anlass für die Ergreifung von Ausgleichsmassnahmen durch die
EU zulasten der Schweiz dienen.
Zum anderen spricht der starke Einbezug der Schweiz bei der Ausarbeitung
der Rechtsakte für den supranationalen Charakter der
Rechtsübernahme. Die EU informiert die Schweiz, sobald mit der
Ausarbeitung eines relevanten Rechtsakts begonnen wird und zieht
Sachverständige der Schweiz informell gleichermassen zu Rate wie
Sachverständige der Mitgliedstaaten.[41]
Handelt es sich um
delegierte Rechtsakte gemäss Art. 290 AEUV, mit denen die
Kommission Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur
Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher
Vorschriften eines Gesetzgebungsakts erlassen darf, gewährt die
Kommission der Schweiz die grösstmögliche Teilnahme an der
Ausarbeitung ihrer Vorschläge.[42]
Vergleichbares gilt bei Durchführungsrechtsakten gemäss Art. 291 AEUV, mit denen die
Kommission den einheitlichen Vollzug von Unionsrechtsakten regelt.[43]
Die Schweizer Sachverständigen wirken wie diejenigen der
EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Komitologieausschüsse an der
Verabschiedung von Durchführungsrechtsakten mit.[44]
c) Direkte Anwendbarkeit und Verbindlichkeit für Individuen und
Behörden
aa) Geltung und Anwendungsvorrang des Sekundärrechts
Mit der Zustimmung zum InstA
fände keine Ausdehnung des EU-Rechts-bestandes, wie beispielsweise der
Grundfreiheiten, statt.[45]
Auch ist nicht vorgesehen, dass das EU-Recht in der schweizerischen
Rechtsordnung unmittelbar gilt, jede Übernahme von Unionsrecht durch
die Schweiz erfordert vielmehr einen selbstständigen Entscheid der
Schweiz.[46]
Als Inbegriff einer supranationalen Erlassform wird demgegenüber die
EU-Verordnung (Art. 288 Abs. 2 AEUV) angesehen,
da sie mit Inkrafttreten Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht besitzt
und sich Individuen wie Organe auf eine Verordnung berufen können.[47]
Soweit der Anwendungsbereich des InstA reicht, entfalten allerdings
jedenfalls einzelne Bestimmungen der in Bezug genommenen bilateralen
Verträge direkte Anwendbarkeit und sind für Behörden wie
Individuen verbindlich. Aufgrund des in der Schweiz herrschenden
monistischen Systems bei der Integration völkerrechtlicher
Bestimmungen in die nationale Rechtsordnung können Rechtsakte der EU,
die im Wege der bilateralen Verträge übernommen wurden, direkt
anwendbar sein sowie unmittelbar Rechte und Pflichten begründen.[48]
Dies ist bei zahlreichen Bestimmungen der in Bezug genommenen bilateralen
Verträge der Fall. Praktisch am bedeutsamsten dürften die
Aufenthaltsansprüche zugunsten von Einzelpersonen nach dem FZA sein. Das Bundesgericht nimmt
bereits heute an, dass die bilateralen Abkommen und die darin als
verbindlich erklärten Anhänge aufgrund des monistischen Systems
mit ihrer Ratifizierung automatisch Teil der schweizerischen Rechtsordnung
werden und keiner besonderen Umsetzung mehr im nationalen Recht
bedürfen, falls sie hinreichend konkretisiert sind, um in einem
Einzelfall direkt angewendet werden zu können
(«self-executing»).[49]
Flankiert wird die für das Unionsrecht typische unmittelbare
Anwendbarkeit durch den potenziellen Vorrang des
InstA
und der in Bezug genommenen bilateralen Verträge vor dem gesamten
nationalen Recht, einschliesslich der Bundesverfassung. Zwar fehlt es an
einer
Bestimmung der Rangfolge im InstA
und auch im nationalen Recht. Die Politik überlässt die
Handhabung der Rangfrage somit der Rechtspraxis. Das Bundesgericht vertritt
aber immerhin bereits heute die Auffassung, das FZA gehe aufgrund seines
menschenrechtlichen Charakters analog zur EMRK dem nationalen Recht vor.[50]
Die Bezugnahme des Bundesgerichts auf die für die Charakterisierung
des Unionsrechts als supranationales Recht konstitutiven EuGH-Urteile und
deren Übertragung auf das bilaterale Verhältnis Schweiz-EU legt
zudem nahe, dass es den bilateralen Verträgen bereits heute
supranationalen Charakter zuspricht. Dies muss erst recht gelten, wenn die
bilateralen Verträge mit einem wirksameren Überwachungs- und
Durchsetzungsmechanismus ausgestattet würden, als dies bislang der
Fall ist.[51]
Aus der Kombination von direkter Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang der
vom InstA erfassten Bestimmungen
ergibt sich eine mit Blick auf den Beitritt zur EU ähnliche Wirkung.
bb) Direkt anwendbare
Bestimmungen im InstA
Überdies enthält das InstA selbst direkt anwendbare
Bestimmungen. Zwar wird auf der einen Seite argumentiert, bei den
beihilfenrechtlichen Bestimmungen handle es sich um nicht direkt anwendbare
Grundsätze, welche folglich nicht justiziabel seien.[52]
Zugleich wird aber auf der anderen Seite eingeräumt, dass die
materiellen Bestimmungen betreffend die Staatsbeihilfen im Bereich des
Luftverkehrsabkommens, wo bereits heute eine Beihilfenüberwachung
stattfindet, direkt anwendbar sind.[53]
Von besonderer Relevanz ist das Verbot staatlicher Beihilfen.[54]
Dieses entspricht dem Regelungsvorbild des Art. 107 AEUV.[55]
Insgesamt lehnt sich das Beihilfenregime eng an dasjenige innerhalb der EU
an.[56]
So dürfen geplante Beihilfenregelungen oder einzelne Beihilfenvorhaben
erst umgesetzt werden, wenn die Überwachungsbehörde im Rahmen des
einzurichtenden Notifizierungsverfahrens abschliessend entschieden hat.[57]
Das in der ganz ähnlich formulierten unionsrechtlichen Bestimmung (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV)
verankerte, mit unmittelbarer Anwendbarkeit und Vorrang vor dem nationalen
Recht ausgestattete Durchführungsverbot wird als Ausprägung
maximaler Supranationalität bezeichnet.[58]
Die Beschränkung der direkten Anwendbarkeit auf das
Luftverkehrsabkommen gilt wohl nur vorläufig, da die EU den Abschluss
neuer Marktzugangsabkommen, wie beispielsweise eines Strommarktabkommens,
von der Anwendbarkeit einer effektiven Beihilfenüberwachung nach dem
Vorbild des Unionsrechts abhängig macht.[59]
Zudem enthält der Anhang des InstA einen Beschlussentwurf,
wonach die Beihilfenregelung im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens neu
auch in Bezug auf das Freihandelsabkommen 1972 zur Anwendung gebracht
werden soll.[60]
d) Relativ umfassende materielle Befugnisse
Schliesslich setzt die Supranationalität relativ umfassende materielle
Befugnisse der mit Kompetenzen ausgestatteten
Organe voraus. Das InstA findet
Anwendung auf die fünf Abkommen der Bilateralen I aus dem Jahr 1999
und künftige Marktzugangsabkommen.[61]
Ein Vergleich mit der EU-Mitgliedschaft ergibt daher, dass die materiellen
Befugnisse eher weniger umfangreich sind. So wäre die Schweiz
weiterhin weder an der gemeinsamen Währung noch an der Gemeinsamen
Sicherheits- und Aussenpolitik beteiligt. Gewisse weitere Bereiche sind von
vornherein ausgeklammert.
Nicht explizit ausgenommen ist hingegen die
Unionsbürgerrichtlinie 2004/38. Diese könnte möglicherweise einen prominenten künftigen
Anwendungsfall für das Streitbeilegungsverfahren in Bezug auf die
dynamische Rechtsübernahme bilden.[62]
Hier läge wohl das grösste Risiko für materiell-rechtliche
Überraschungen.[63]
Ähnliches könnte für die Revision der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gelten. In Randbereichen
unklar ist auch, inwieweit die Flankierenden Massnahmen gegenüber
Rechtsmitteln immunisiert wären. Eine Einordnung anhand von
Sachbereichen und Kompetenzen führt in diesem Zusammenhang jedoch
nicht weiter. So ist die Kompetenzverteilung in Bundesstaaten je
unterschiedlich und auch die Europäische Union verfügt bei weitem
nicht über umfassende Kompetenzen.
Es ist gerade Ausdruck von Supranationalität, dass sich - anders als
dies noch bei den bilateralen Verträgen I und II der Fall war - die
genauen materiellen Befugnisse von Organen der Europäischen Union im
Rahmen der Vertragsbeziehungen nicht prognostizieren lassen.
4. Zwischenergebnis
Der Abschluss des InstA hätte
folglich mit Blick auf die massgeblichen Gesichtspunkte ähnliche
Wirkungen wie der Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft. Die
Mitwirkung der Schweiz in dem im InstA vorgesehenen
institutionellen Rahmen kommt dem Beitritt zu
einer supranationalen Organisation gemäss Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV gleich.
Der Genehmigungsbeschluss ist demnach dem obligatorischen Referendum zu
unterstellen.
III. Obligatorisches Staatsvertragsreferendum sui generis
Würde der supranationale Charakter der Einbindung der Schweiz durch
das InstA entgegen der hier
vertretenen Ansicht verneint, wäre die Frage aufzuwerfen, ob der
Genehmigungsbeschluss nicht unter einem anderen Titel dem obligatorischen
Referendum zu unterstellen wäre.[64]
1. Ungeschriebenes Recht in der Staatspraxis
Heute ist das obligatorische Referendum für völkerrechtliche
Verträge mit verfassungsmässigem Charakter (Referendum sui
generis) als ungeschriebenes Verfassungsrecht anerkannt.[65]
Der Bundesrat spricht insoweit von einem obligatorischen
Staatsvertragsreferendum sui generis.[66]
Ein Staatsvertrag ist immer dann dem ausserordentlichen Referendum zu
unterstellen, wenn er entweder tiefgreifend in die verfassungsrechtliche
Ordnung eingreift, eine grundsätzliche Änderung der
schweizerischen Aussenpolitik mit sich bringt oder Gründe von
grundlegender sachlicher oder politischer Bedeutung dafür sprechen.[67]
Es muss sich um einen Vertrag von ausserordentlicher Bedeutung handeln, der
den in Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV
genannten Kategorien nahe kommt.[68]
Der infrage stehende Staatsvertrag muss von derartiger Bedeutung sein, dass
er Verfassungsrang besitzt.[69]
2. Präzedenzfälle
Bei Staatsverträgen mit Verfassungsrang besteht inzwischen eine
Tradition der Unterstellung unter das obligatorische
Staatsvertragsreferendum sui generis.[70]
So wurden der Beitritt zum Völkerbund (1920), das Freihandelsabkommen
Schweiz-EU (1972) und der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum
(1992) dem obligatorischen Referendum unterstellt.
Zuletzt sah der Bundesrat die Anforderungen für ein obligatorisches
Staatsvertragsreferendum sui generis mit Blick auf den EWR-Vertrag für
gegeben an.[71]
So lagen mit dem EFTA-Gerichtshof und der
EFTA-Überwachungsbehörde bereits supranationale Elemente vor.[72]
Darüber hinaus ist das EWR-Abkommen ein Staatsvertrag mit materiell
umfassendem
Anwendungsbereich. Zudem sind zahlreiche EWR-Bestimmungen unmittelbar
anwendbar. Schliesslich bedingt der EWR-Vertrag notwendigerweise eine
Anpassung des Verfassungsrechts.
Erörtert wurde die Unterstellung unter das obligatorische
Staatsvertragsreferendum sui generis auch anlässlich der Assoziierung
der Schweiz an Schengen und Dublin.[73]
Schengen/Dublin führte indes nach Auffassung des Bundesrates mit Blick
auf Gegenstand und Tragweite nicht zu einer tiefgreifenden Änderung
des Staatswesens und tangierte damit die verfassungsmässige Ordnung
nicht. Insbesondere habe die Umsetzung der Abkommen im Rahmen der
bestehenden Kompetenzen von Bund und Kantonen erfolgen können. Deshalb
wurde in diesem Fall von der Unterstellung unter das obligatorische
Staatsvertragsreferendum sui generis abgesehen.
3. Herausragende Bedeutung
des InstA
Um das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis auszulösen,
müsste das InstA tiefgreifend
in die verfassungsrechtliche Ordnung eingreifen, eine grundsätzliche
Änderung der schweizerischen Aussenpolitik mit sich bringen
beziehungsweise grundlegende sachliche oder politische Bedeutung aufweisen.
a) Supranationale Elemente
des InstA
Das InstA weist, wenn man davon
ausgeht, dass es keine supranationale Organisation ist, immerhin einige
unverkennbare supranationale Elemente auf. Die Einrichtung eines
Streitschlichtungsverfahrens, durch dessen Auslösung die Kommission
einseitig eine Entscheidung durch den EuGH herbeiführen kann,
ähnelt dem klassischen supranationalen Vertragsverletzungsverfahren im
Rahmen der EU.[74]
Das von der Schweiz grundsätzlich zu übernehmende Recht wird im
ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU nach dem Mehrheitsprinzip
beschlossen.[75]
Verschiedene Bestimmungen der unter dem Dach des InstA zusammengefassten
sektoriellen Abkommen sind in der schweizerischen Rechtsordnung direkt
anwendbar und geniessen nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung Vorrang vor
nationalem Recht.[76]
Vereinzelt trifft dies sogar auf Bestimmungen des InstA selbst zu, nämlich auf
das für das Luftverkehrsabkommen anwendbare Beihilfenrecht.[77]
Aufgrund zahlreicher supranationaler Wirkungsweisen im Rahmen des InstA und mit Blick auf den
Präzedenzfall des EWR-Abkommens, das ebenfalls einzelne supranationale
Komponenten aufwies, muss der Genehmigungsbeschluss jedenfalls dem
obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis unterstellt werden.
b) Überlagerung der
Bundesverfassung
Für eine Unterstellung unter das Staatvertragsreferendum sui generis
spricht ausserdem, dass verschiedene verfassungsrechtliche Bestimmungen
berührt beziehungsweise sogar teilweise überlagert werden.
Betroffen ist zunächst das parlamentarische Verfahren.
aa) Verfahren zur Genehmigung völkerrechtlicher Verträge
Bislang steht es dem Parlament frei, aus rein politischen Gründen eine
Änderung der bilateralen Verträge zu genehmigen oder abzulehnen.
Inskünftig unterläge das Parlament der grundsätzlichen
Pflicht zur Genehmigung der Vertragsänderung. Dabei stünde es
jeweils unter dem Eindruck möglicherweise drohender
Ausgleichsmassnahmen. Am bedeutsamsten ist jedoch die Umsetzungsfrist von
zwei Jahren. Die Bestimmungen der BV würden somit durch die
Zweijahresfrist zur Annahme des Beschlusses überlagert. Auch die
vorläufige Anwendung der Vertragsänderung beeinträchtigt die
freie Willensbildung im Parlament. Insgesamt erweist sich die
verfassungsrechtliche Einhegung der dynamischen Rechtsübernahme nach
gegenwärtiger Rechtslage als äusserst prekär.[78]
Die Beteiligung der Bundesversammlung an der Gestaltung der Aussenpolitik (Art. 166 Abs. 1 BV) scheint ohne
verfahrensrechtliche Ergänzungen in Form von frühzeitigen
Mitwirkungsrechten nicht mehr gesichert.
Der durch die materielle Pflicht zur Rechtsübernahme erzeugte Druck
wie auch die -um ein weiteres Jahr auf drei Jahre verlängerte -
Genehmigungsfrist beeinträchtigen das fakultative
Staatsvertragsreferendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV) und die
freie Willensbildung der Stimmberechtigten bei der Volksabstimmung (Art. 34 Abs. 2 BV).[79]
bb) Stellung und Unabhängigkeit des Bundesgerichts
Überdies tangiert das Streitbeilegungsverfahren die Stellung des
Bundesgerichts als oberste rechtsprechende Behörde des Bundes (Art. 188 Abs. 1 BV) und dessen
Unabhängigkeit (Art. 191c BV). Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Auslegung
des europäischen Rechts durch den EuGH in anderen ihm durch die
Gerichte der Mitgliedstaaten unterbreiteten Fällen auch für das
Bundesgericht verbindlich ist (Art. 4 Abs. 1 InstA). Zum anderen
und vor allem aber können die Exekutiven der Schweiz und der EU im
Rahmen des Gemischten Ausschusses (Art. 16 Abs. 1 InstA) darüber
befinden, ob sie ein Urteil des Bundesgerichts allenfalls für
unbeachtlich erklären oder zumindest der Überprüfung durch
ein Schiedsgericht und damit mittelbar dem EuGH zuführen wollen (Art. 10 Abs. 3 und 5 InstA).[80]
Im Rahmen der EU-Mitgliedschaft behalten die nationalen Höchstgerichte
demgegenüber - unter Vorbehalt der Vorlagepflicht im Rahmen des
Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 Abs. 3 AEUV) - die
Letztentscheidungskompetenz.
Eine Aufhebung nationaler Gerichtsurteile durch den EuGH ist in den
Klageverfahren nach dem AEUV nicht
vorgesehen. Gegenstand der Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) können nur
Akte der EU sein. Daher wäre es im Rahmen der EU allenfalls denkbar,
wegen unterlassener Vorlage durch ein nationales Höchstgericht ein
Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.[81]
Die Kommission macht hiervon mit Blick auf die Unabhängigkeit der
Gerichte nur sehr zurückhaltend Gebrauch und schreitet nur ein, wenn
die Nichtvorlage beispielsweise «auf offensichtlicher Unkenntnis oder
einer bewussten Haltung» des nationalen Gerichts beruht.[82]
cc) Kompetenzen der Kantone
In Anbetracht der möglichen Beeinträchtigung der kantonalen
Kompetenzen, insbesondere auf dem Gebiet der Staatsbeihilfen, erweisen sich
die klassischen Mitwirkungsmöglichen der Kantone auf dem Gebiet der
Aussenpolitik (vgl. Art. 55 BV)
als unzureichend. Die Freiräume der Kantone zum Erlass von
selektiven Förderungsmassnahmen zugunsten ausgewählter
Unternehmen werden erhebliche Einschränkungen erfahren.[83]
Über die in Art. 45 BV
vorgesehenen Informations- und Konsultationsansprüche sowie die
Pflichten zur Rücksichtnahme auf die Zuständigkeiten der Kantone
und deren Interessenwahrung (Art. 54 Abs. 3 BV) hinaus
wären zwingende Beteiligungsverfahren vorzusehen. Dies könnte
beispielsweise durch die Vertretung der Schweiz in den Gemischten
Ausschüssen durch Angehörige der kantonalen Verwaltung geschehen,
falls substanzielle Kompetenzen der Kantone berührt wären, wie
etwa im Bereich der direkten Steuern.
4. Zusammenfassung
Selbst wenn der Genehmigungsbeschluss zum InstA nicht dem ordentlichen
obligatorischen Staatsvertragsreferendum zu unterstellen wäre,
müsste er in Anbetracht der Präzedenzfälle aufgrund der im InstA enthaltenen supranationalen
Elemente sowie der tiefgreifenden Einflüsse auf die
verfassungsmässige Ordnung dem obligatorischen
Staatsvertragsreferendum sui generis unterstellt werden.
IV. Obligatorisches Staatsvertrags-referendum gemäss Art. 140 Abs.
1 Bst. bbis BV (neu)
In Umsetzung der von beiden Räten gutgeheissenen Motion Caroni
schlägt der Bundesrat vor, den Anwendungsbereichs des obligatorischen
Referendums bei Staatsverträgen zu erweitern.[84]
Beabsichtigt ist die Übertragung des bislang ungeschriebenen
Referendums sui generis in den geschriebenen Verfassungstext.[85]
Die neue Bestimmung dient als Konkretisierungshilfe zur näheren
Eingrenzung des bereits heute massgeblichen verfassungsmässigen
Charakters eines Staatsvertrages.[86]
Dem obligatorischen Referendum unterstünden gemäss Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis BV (neu)
auch völkerrechtliche Verträge, die Bestimmungen von
Verfassungsrang enthalten oder deren Umsetzung eine Änderung der
Bundesverfassung erfordert; wobei Bestimmungen von Verfassungsrang
namentlich Bestimmungen über 1. den Bestand der Grundrechte, die
Bürgerrechte und die politischen Rechte, 2. das Verhältnis von
Bund und Kantonen und die Zuständigkeiten des Bundes, sowie 3. die
Grundzüge der Organisation und des Verfahrens der Bundesbehörden
beträfen.
Massgeblich ist danach, ob ein völkerrechtlicher Vertrag Bestimmungen
von Verfassungsrang in einem der genannten Bereiche enthält. Die
Beurteilung des Verfassungsranges erfolgt anhand eines materiellen
Verfassungsverständnisses, wonach zur Verfassung alle Rechtssätze
zählen, die als Grundlage der rechtsstaatlichen und demokratischen
Staatsordnung in die Verfassung gehören und damit
«verfassungswürdig» sind beziehungsweise
«verfassungsmässigen Charakter» haben.[87]
Subsidiär kommt aber auch das formelle Verfassungsverständnis zum
Tragen, indem auf die Änderungsbedürftigkeit der BV abgestellt wird.
1. Bestand der Grundrechte, Bürgerrechte oder politische Rechte
Der Mechanismus der dynamischen Rechtsübernahme beeinträchtigt
durch die Pflicht zur Genehmigung der von der EU beschlossenen Rechtsakte
innert drei Jahren die politischen Rechte.[88]
Die Rechtspflicht zur Übernahme stellt einen qualitativen Unterschied
zu (politischen) Sachzwängen dar, wie sie mitunter im Umfeld von
Volksentscheiden diskutiert werden. Das Recht zur Ergreifung des
fakultativen Referendums (Art. 141 Abs. 1 Bst. d, Art. 136 Abs. 2 BV) und die
Abstimmungsfreiheit der Stimmberechtigten (Art. 34 Abs. 2 BV, Art. 136 Abs. 2 BV) bei der
Ausübung des Stimmrechts stehen unter dem latenten Druck der im InstA bei der Nichtübernahme
eines Rechtsaktes vorgesehenen Ausgleichsmassnahmen. Referendums- und
Stimmrecht können nicht mehr auf unbefangene Art und Weise
ausgeübt werden. Dies ist ein Indiz dafür, dass das InstA Bestimmungen von
Verfassungsrang enthält und deshalb unter Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis BV (neu)
fallen würde.
2. Verhältnis von Bund und Kantonen
Erfasst werden durch diesen Tatbestand völkerrechtliche Verträge,
die dem Bund direkt Befugnisse einräumen, die von Verfassungswegen
bisher den Kantonen zugestanden wurden.[89]
Das InstA sieht für den
Bereich der Staatsbeihilfen die Einrichtung einer
Überwachungsbehörde in der Schweiz vor. Hierbei müsste es
sich zwingend um eine zentralisierte Bundesbehörde handeln, etwa nach
dem Vorbild der WEKO.[90]
Diese würde indes nicht nur Staatsbeihilfen des Bundes, sondern
insbesondere auch solche der Kantone beaufsichtigen.[91]
Die bislang autonom von den Kantonen geregelten Bereiche der Staatsgarantie
zugunsten der Kantonalbanken, der Unternehmensbesteuerung, der Beteiligung
an Elektrizitätswerken, des Gebäudeversicherungsmonopols oder der
Tourismusförderung, um nur einige zu nennen,[92]
unterlägen neu einer systematischen Notifizierungspflicht und der
Überwachung durch eine Bundesbehörde. Die Regelungen des InstA würden somit in
verschiedenen Bereichen eine Kompetenzverlagerung auf den Bund bewirken.[93]
3. Organisation oder Zuständigkeiten der Bundesbehörden
Schliesslich tangiert das InstA
durch die dynamische Rechtsübernahme und die Einrichtung eines
Streitbeilegungsverfahrens die Zuständigkeiten der Bundesversammlung
und des Bundesgerichts.
Die Bundesversammlung wäre angesichts der Pflicht zur Übernahme
der einschlägigen Unionsrechtsakte nicht mehr frei, auf der Grundlage
von Art. 166 Abs. 2 BV die
Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrages zu verweigern. Die im
Hintergrund drohende Ergreifung rechtmässiger Ausgleichsmassnahmen auf
der Grundlage des InstA würde
die Bundesversammlung vielmehr in eine faktische Ratifikationslage
versetzen.
Die Ausgestaltung des Streitbeilegungsverfahrens kann dazu führen,
dass rechtskräftige Urteile des Bundesgerichts von der
Europäischen Kommission zum Anlass für ein
Streitbeilegungsverfahren genommen und damit einer Beurteilung durch den
Gemischten Ausschuss und das Schiedsgericht - allenfalls unter Einbezug des
EuGH - unterzogen werden könnten. Diese Möglichkeit, gerichtliche
Urteile infrage zu stellen, geht über die Praxis im
Vertragsverletzungsverfahren im Rahmen einer EU-Mitgliedschaft hinaus,
erlegt sich doch die Kommission mit Blick auf die richterliche
Unabhängigkeit besondere Zurückhaltung auf.[94]
4. Zusammenfassung
Das InstA enthält
Bestimmungen mit verfassungsmässigem Charakter.[95]
So betrifft es die politischen Rechte, die Zuständigkeitsverteilung
zwischen Bund und Kantonen sowie die Zuständigkeiten von
Bundesbehörden. Es ist somit gemäss Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis BV (neu)
dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum zu unterstellen. Da es sich
hierbei um dessen Kodifikation handelt, bestätigt dies die
Unterstellung unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui
generis, falls die Neuregelung noch nicht in Kraft getreten sein sollte.
V. Zusammenschau zur Unterstellung unter das obligatorische
Referendum
Nach dem geplanten EWR-Beitritt im Jahr 1992 und dem Beitritt zu Schengen/
Dublin im Jahr 2007 stellt sich mit Blick auf das InstA erneut die Frage, ob der
betreffende Genehmigungsbeschluss den Beitritt zu einer supranationalen
Gemeinschaft gemäss Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV bewirkt
und dieser somit dem obligatorischen Referendum zu unterstellen ist. Im
Unterschied zur seinerzeitigen Kenntnislage vor dem geplanten Beitritt zum
EWR besteht heute ein vertieftes Wissen über die Funktionsweise der
bestehenden bilateralen Verträge, sodass die supranationale
Qualität des InstA als deren
institutionelle Fortentwicklung zuverlässiger eingeordnet werden kann.
Eine umfassende Analyse des InstA
ergibt vor diesem Hintergrund, dass - immer mit Blick auf den
Anwendungsbereich von fünf bestimmten bilateralen Verträgen und
allfälligen weiteren Marktzugangsabkommen - sämtliche anerkannten
Elemente einer supranationalen Gemeinschaft gemäss Art. 141 Abs. 1 Bst. b BV
erfüllt sind und somit eine beitrittsähnliche Situation gegeben
ist.
Der Beitritt zum EWR war damals von den Bundesbehörden in Bezug auf
die Supranationalität im Rückblick zu zurückhaltend
beurteilt worden. Immerhin wurde der Beitrittsbeschluss seinerzeit aufgrund
des Verfassungsrangs verschiedener Abkommensbestimmungen dem
obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis unterstellt.
Angesichts dieses Präzedenzfalles und der im InstA angelegten Parallelen mit
mehreren supranationalen Elementen müsste die Bundesversammlung das InstA jedenfalls auf der Grundlage
des obligatorischen Staatsvertragsreferendums sui generis, wenn nicht sogar
unter Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV,
Volk und Ständen zwingend zur Abstimmung zu unterbreiten.
Möglicherweise wird im Zeitpunkt der Genehmigung durch das Parlament
ein weiterer Tatbestand gelten, wonach völkerrechtliche Verträge,
die Bestimmungen von Verfassungsrang enthalten, dem obligatorischen
Referendum zu unterstellen sind. Verschiedene Bestimmungen des InstA im Zusammenhang mit der
dynamischen Rechtsübernahme, dem Streitbeilegungsverfahren und den
Staatsbeihilfen weisen Verfassungsrang auf. Mithilfe von Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis BV (neu)
liesse sich das InstA demnach
ebenfalls unter die Voraussetzungen des obligatorischen
Staatsvertragsreferendums subsumieren.
[1]
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.
April 1999 (BV; SR 101).
[2]
Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13. Dezember 2002
(ParlG; SR 171.10).
[3]
Etienne Grisel, Initiative et référendum populaires, 3.
Aufl., 2004, Rz. 791.
[4]
Daniel Thürer/Oliver Diggelmann, in: St. Galler Kommentar,
Band I und Band II, 3. Aufl. 2014, Rz. 23 zu Art. 140 BV.
[5]
Botschaft vom 23. Oktober 1974 über die
Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, BBl 1974 II 1133, 1156.
Siehe auch Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens
über den Europäischen Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 1, 539;
Thürer/Diggelmann (Fn. 4), Rz. 21; siehe auch Yvo
Hangartner/Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und
Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000, Rz. 1141.
[6]
Siehe nur Giovanni Biaggini, in: BV Kommentar, 2. Aufl. 2017, Rz. 7
zu Art. 140; Matthias Oesch, Europarecht, 2. Aufl. 2019, Rz. 96.
[7]
Tobias Jaag/Julia Hänni, Europarecht, 4. Aufl. 2015, Rz. 107.
[8]
Werner Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 5
Rz. 3.
[9]
Siehe dazu Grisel (Fn. 3), Rz. 789 f.; Hangartner/
Kley (Fn. 5), Rz. 1143.
[10]
Babette Brunner, Das Staatsvertragsreferendum: Ein Volksrecht im
Wandel, 2014, S. 59 f.
[15]
Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen
Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union,
einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen (Bilaterale
II), BBl 2004 5965, 6289.
[16]
Thürer/Diggelmann (Fn. 4), Rz. 26.
[19]
Jaag/Hänni (Fn. 7), Rz. 1766, 1776.
[22]
Siehe zum Vorbild des Schiedsgerichts im Assoziierungsabkommen EU -
Ukraine: Glaser/Dörig, Zur Streitbeilegung in den Bilateralen
Abkommen Schweiz - EU, in: Schweizerisches Jahrbuch für
Europarecht 2017/2018, 2018, S. 462 f.
[25]
Anders Astrid Epiney, Der Entwurf des Institutionellen Abkommens
Schweiz - EU, Jusletter 17. Dezember 2018, Rz. 45, wonach eine
Ähnlichkeit zum Vorabentscheidungsverfahren bestehen soll.
[26]
Carl Baudenbacher, Rechtsgutachten zur Streitentscheidungsregelung
des InstA zu Handen der Kommission des Nationalrates für
Wirtschaft und Abgaben WAK, 2019, S. 41.
[27]
Art. IV.2 Abs. 2 Satz 2 Protokoll über das Schiedsgericht.
[28]
Art. IV.2 Abs. 5 Protokoll über das Schiedsgericht.
[30]
Peter Michael Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018,
Rz. 28 zu Art. 19 EUV (Gerichtshof der Europäischen Union).
[31]
Siehe dazu Oesch, Europarecht (Fn. 6), Rz. 488.
[32]
Matthias Oesch, Die bilateralen Abkommen Schweiz - EU und die
Übernahme von EU-Recht, AJP 2017, S. 639 ff.
[34]
Epiney (Fn. 25), Rz. 21.
[36]
Eidgenössisches Departement für auswärtige
Angelegenheiten (EDA), Erläuterungen zum Institutionellen
Abkommen Schweiz - EU, 2019, S. 7.
[39]
EDA, Institutionelles Abkommen Schweiz - EU: Das Wichtigste in
Kürze, S. 2.
[40]
Epiney (Fn. 25), Rz. 26.
[45]
EDA, Erläuterungen (Fn. 36), S. 5.
[46]
EDA, Erläuterungen (Fn. 36), S. 6.
[47]
Jaag/Hänni (Fn. 7), Rz. 2109; Oesch, Europarecht (Fn. 6), Rz.
424.
[48]
Siehe dazu bereits Andreas Glaser, Umsetzung und Durchführung
des Rechts der Bilateralen Verträge in der Schweiz, in:
Glaser/Langer (Hrsg.), Die Verfassungsdynamik der europäischen
Integration und demokratische Partizipation, 2015, S. 136.
[52]
EDA, Das Wichtigste in Kürze (Fn. 39), S. 3.
[53]
EDA, Erläuterungen (Fn. 36), S. 4, 10. Siehe ausserdem Epiney
(Fn. 25), Rz. 43.
[55]
Siehe dazu Philipp Zurkinden, Institutionelles Abkommen -
Rechtsgutachten zuhanden der WAK-N; Fragen zu Staatsbeihilfen und
zum Freihandelsabkommen CH - EU sowie zu weiteren Fragen, 2019, Rz.
33; Ylber Hasani, Die Beihilfenkontrolle in der Europäischen
Union, Jusletter 29. April 2019, Rz. 37.
[56]
EDA, Das Wichtigste in Kürze (Fn. 39), S. 11.
[58]
Volkmar Götz, Staatliche Beihilfen, in: Dauses (Hrsg.),
Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Werkstand: 49. EL November 2019,
Rz. 6 f.
[59]
EDA, Erläuterungen (Fn. 36), S. 10.
[60]
Vgl. Ebenda, S. 11. Zur rechtlichen Tragweite näher Hasani
(Fn. 55), Rz. 39 f.
[62]
Siehe auch EDA (Fn. 39), S. 4. Ausführlich dazu Astrid
Epiney/Sian Affolter, Das Institutionelle Abkommen und die
Unionsbürgerrichtlinie, Jusletter 11. März 2019, Rz. 30
ff.
[64]
Vereinzelt wird in der Literatur hingegen auch ein abschliessender
Charakter von Art. 140 BV
angenommen, siehe dazu Epiney/Diezig, in: Basler Kommentar
Bundesverfassung, 2015, Rz. 14 zu Art. 140 BV.
[65]
Botschaft vom 15. Januar 2020 zum obligatorischen Referendum
für völkerrechtliche Verträge mit
Verfassungscharakter, BBl 2020 1243, 1247.
[67]
Brunner (Fn. 10), S. 62.
[68]
Biaggini (Fn. 6), Rz. 9.
[70]
Brunner (Fn. 10), S. 61; Thürer/Diggelmann (Fn. 4), Rz. 24 ff.
[74]
Siehe oben II. 3. a.
[75]
Siehe oben II. 3. b.
[76]
Siehe oben II. 3. c. aa.
[77]
Siehe oben II. 3. c. bb.
[78]
Siehe dazu bereits Glaser (Fn. 48), S. 140.
[79]
Vgl. auch Oesch (Fn. 32), S. 638, 651 f.
[80]
Vgl. auch Andreas Zünd, «Das Bundesgericht verliert seine
Bedeutung», St. Galler Tagblatt vom 23. März 2019.
[81]
Martin Burgi, § 6 Vertragsverletzungsverfahren, in:
Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes
in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 6 Rz. 41.
[82]
Hans-Joachim Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5.
Aufl. 2016, Rz. 28 zu Art. 258 AEUV; Nina Wunderlich,
Vertragsverletzungsverfahren, in: von der Groeben/Schwarze/
Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Rz. 8
zu Art. 258 AEUV.
[83]
Entsprechend mit Blick auf Beihilfenverbote in einzelnen
Marktzugangsabkommen Matthias
Oesch, Die (fehlende) Disziplinierung staatlicher Beihilfen durch
Kantone, AJP 2013, S. 1337, 1347.
[84]
Bundesbeschluss über das obligatorische Referendum für
völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter
(Entwurf), BBl 2020 1271.
[88]
Siehe dazu oben II. 3.b.aa.
[89]
Bundesamt für Justiz, Obligatorisches Referendum für
völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem
Charakter; Umsetzung der Motion
15.3557
Caroni, 2018, S. 11.
[90]
Siehe Zurkinden (Fn. 55), Rz. 73.
[91]
Vgl. auch Oesch (Fn. 83), S. 1347.
[92]
Zurkinden (Fn. 55), Rz. 37 f., 42, 48 ff.
[93]
Vgl. dazu auch Hasani (Fn. 55), Rz. 45.
[94]
Siehe dazu oben II. 3. a.