Mit der vorliegenden Publikation wollen die Autoren Antworten auf diese
zwei Forschungsfragen formulieren und die darauf fussenden Entscheidungen
von Justizvollzug und Wiedereingliederung im Kanton Zürich für
Dritte transparent und kritisierbar machen.[13]
II. Temporäre Einschränkung der Therapiefrequenz
Wie einleitend erwähnt wurde, formuliert Art. 10a COVID-19-Verordnung ein
Verbot von nicht dringenden Untersuchungen, Behandlungen und Therapien
zwecks Eindämmung der Infektionsrisiken und Sicherstellung von
medizinischen Ressourcen. Dieses Verbot tangiert auch Psychotherapien im
Rahmen der allgemeinen Gesundheitsversorgung in der Freiheit (vgl. II.1).
Allerdings wird sich zeigen, dass Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 den
Justizvollzug nicht
reguliert (vgl. II.2). Dennoch könnten analoge Schutzstandards zur
Infektionsvermeidung im Justizvollzug angebracht sein. Solche
Einschränkungen stehen
jedoch in einem Spannungsfeld mit dem ebenso verfassungs- und
konventionsrechtlichen Anspruch auf adäquate therapeutische
Versorgung. Dieses Spannungsfeld ist nach Massgabe der
Verhältnismässigkeit aufzulösen (vgl. II.3).
1. Bedeutung von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 für
Psychotherapien in der Freiheit
Die COVID-19-Verordnung 2 (Fassung
vom 21. März 2020) limitiert im Rahmen der allgemeinen
Gesundheitsversorgung medizinische Untersuchungen, Behandlungen oder
Therapien, welche nicht dringender Natur sind (Art. 10a Abs. 2-4). Nach Art. 10a Abs. 3 gelten jene
Eingriffe als nicht dringend, die «zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden können,
ohne dass bei der betroffenen Person Nachteile zu erwarten sind, die
über geringe physische und psychische Beschwerden und
Beeinträchtigungen hinausgehen» (lit. a) bzw. die «überwiegend oder vollständig ästhetischen Zwecken, der
Steigerung der Leistungsfähigkeit oder dem Wohlbefinden dienen» (lit. b). In der Erläuterung zur COVID-19-Verordnung 2 wurde dieser
Schritt wie folgt begründet: Es soll zum einen vermieden werden, dass
sich unnötig Menschenansammlungen bilden, und zum anderen sollen
Kapazitäten der Gesundheitsversorgung nicht ohne zwingenden Grund
gebunden werden.[14]
Die Berufsverbände haben diese Leitlinien aufgenommen, gleichzeitig
aber ein extensives Dringlichkeitsverständnis stipuliert. Die
Dachorganisation der psychiatrisch-psychotherapeutisch tätigen
Ärzte und Ärztinnen der Schweiz (Foederatio Medicorum
Psychiatricorum et Psychotherapeuticorum [FMPP]) stellt fest, dass
psychische Dekompensationen nach Möglichkeit zu verhindern sind, um
Hospitalisationen und die damit drohende Überlastung der Kliniken zu
vermeiden. Folglich sollen psychotherapeutische Interventionen nach
Möglichkeit weitergeführt werden, wobei die modernen
Kommunikationsmittel zu nutzen sind, um die Ziele der bundesrätlichen
Verordnung tunlichst gut umzusetzen.[15]
Ähnlich lauten die Vorgaben der Dachorganisation der in der Schweiz
tätigen Psychologinnen und Psychologen (FSP): Therapien sollen nach
Beurteilung
der Dringlichkeit fortgesetzt werden, wobei Telefon-, Video- oder
E-Mail-Behandlungen zu prüfen sind.[16]
2. Unanwendbarkeit von Art. 10a
COVID-19-Verordnung 2 für den Justizvollzug
Grundsätzlich hätte der Bund im Rahmen des Epidemiengesetzes die
Möglichkeit, Massnahmen für den Justizvollzug zu definieren.[17]
Mit Art. 10a der COVID-19-Verordnung 2
(Pflichten der Gesundheitseinrichtungen) wurde jedoch nur die allgemeine
Gesundheitsversorgung reguliert und nicht der Straf- und Massnahmenvollzug.[18]
Dieses Auslegungsresultat begründet sich wie folgt: Das Verbot von
nicht dringenden medizinischen Untersuchungen, Behandlungen und Therapien
gilt gemäss
Art. 10a Abs. 2 COVID-19-Verordnung 2
nur für die «Gesundheitseinrichtungen nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe m». Unter diesen Begriff fallen insbesondere «Spitäler, Kliniken und Arztpraxen sowie Praxen und Einrichtungen
von Gesundheitsfachpersonen nach Bundesrecht und kantonalem Recht» (Art. 6 Abs. 3 lit. m). Der
Justizvollzug ist kein Teil dieser allgemeinen Gesundheitsversorgung.
Vielmehr stellt er einen Teil der öffentlichen Verwaltung im Sinne von
Art. 6 Abs. 3 lit. j COVID-19-Verordnung 2
dar. Diese Interpretation wird durch die Ausführungen des BAG
gestützt, welches unter der öffentlichen Verwaltung nach Art. 6 Abs. 3 lit. j Anstalten des
Freiheitsentzugs explizit inkludierte und zusätzlich ausführte,
es werde empfohlen, «in Anstalten des Freiheitsentzugs (Gefängnisse,
Justizvollzugsanstalten) die Massnahmen zur Verminderung des
Übertragungsrisikos und zur Bekämpfung des Coronavirus
(COVID-19) an den Empfehlungen internationaler Organisationen,
namentlich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
und des Europarats auszurichten.»[19]
Aus diesen Gründen ist Art. 10a COVID-19-Verordnung 2
nicht auf den Justizvollzug anwendbar. Entsprechend obliegt es daher den
Kantonen (Art. 1a COVID-19-Verordnung 2), zu
entscheiden, ob und in welchem Rahmen die Vorgaben von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2
für der Justizvollzug Relevanz entfalten.
3. Ausgestaltung im Justizvollzug
Nachfolgend ist der Frage nachzugehen, ob sich im Justizvollzug trotz
fehlender direkter Anwendbarkeit von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2
gleichgelagerte Lösungsmodelle aufdrängen. Es wird sich zeigen,
dass der Anspruch der inhaftierten Person auf Schutz vor
Infektionskrankheiten für eine analoge Ausgestaltung spricht (vgl.
II.3.a.aa). Gleichzeitig gerät dieser Lösungsansatz in einen
Zielkonflikt mit dem Anspruch von Inhaftierten auf eine adäquate
therapeutische Versorgung (vgl. II.3.a.bb). Dieses
verfassungs- und konventionsrechtliche Spannungsverhältnis ist nach
Massgabe der Verhältnismässigkeit aufzulösen (II.3.b).
a) Konventions- und
verfassungsrechtliches
Spannungsverhältnis
aa) Anspruch der inhaftierten
Person auf Schutz vor
Infektionskrankheiten
Der Staat tragt aufgrund Art. 2
und 3 EMRK (Art. 10 BV) eine umfassende
verfassungs- und konventionsrechtliche Schutzpflicht für das Leben und
die Gesundheit von inhaftierten Personen.[20]
Ansteckungen von inhaftierten Personen mit übertragbaren Krankheiten
sind daher bestmöglich zu vermeiden.[21]
Nun ist es so, dass durch Therapiesitzungen Infektionsrisiken ansteigen:
Durch Wartebereiche, die räumlichen Verhältnisse (z.B.
Raumgrösse oder Möglichkeit der Lüftung) usw. werden
Personenzirkulation und -ansammlungen gefördert, was wiederum
während Pandemien Infektionsrisiken steigen lässt. Angesichts
dieser Ausgangslage wäre es mit Blick auf die staatliche Schutzpflicht
plausibel, die Vorgaben der COVID-19-Verordnung 2 mutatis
mutandis auf den Straf- und Massnahmenvollzug anzuwenden, da sich in diesem
Rahmen (mindestens) dieselben Herausforderungen wie im Rahmen der
allgemeinen Gesundheitsversorgung stellen.
bb) Anspruch der inhaftierten
Person auf therapeutische Versorgung
Eine Einschränkung des therapeutischen Angebots tangiert jedoch
automatisch andere verfassungs- und konventionsrechtliche Verpflichtungen.
Die Gewährleistung einer adäquaten medizinischen und
psychotherapeutischen Versorgung gehört zu den positiven
Leistungspflichten des Staates im Freiheitsentzug aufgrund des
Folterverbots (Art. 3 EMRK, Art. 10 BV) und stellt bei
inhaftierten Personen überdies eine Voraussetzung für die
Gesetzmässigkeit des Freiheitsentzugs nach Art. 5 EMRK (Art. 31 BV) dar.[22]
Vor diesem Hintergrund dürften Vollzugsinstitutionen therapeutische
Angebote nicht generell-abstrakt einschränken: Ein «therapeutic
abandonment» wäre mit Art. 3 (Art. 10 BV) und 5 EMRK (Art. 31 BV) unvereinbar.[23]
Ebenso wäre eine generell-abstrakte Einschränkung des
Therapieangebots auf einzelne
Behandlungsformen (z.B. pharmakologische Behandlung) unzulässig.[24]
Ausserhalb dieser Extremkonstellationen bestehen jedoch gewisse
Ermessensspielräume.[25]
b) Auflösung des verfassungs- und konventionsrechtlichen
Spannungsverhältnisses
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Ansprüche der inhaftierten
Person auf Schutz vor Infektionen und auf die Gewährleistung einer
angemessenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung in einem
sensiblen Spannungsverhältnis (Zielkonflikt) stehen. Nachfolgend wird
ein Lösungsmodell präsentiert, das diesen Konflikt nach Massgabe
der Verhältnismässigkeit auflöst.
aa) Gewährleistung der medizinisch-psychologischen Grundversorgung
Für die Belange der allgemeinen Gesundheitsversorgung bildet das
Äquivalenzprinzip den Ausgangspunkt aller Überlegungen. Danach
muss die Gesundheitsfürsorge für inhaftierte Personen mit jener
für Personen in Freiheit gleichwertig sein (Art. 75 StGB).[26]
Unter II.1 wurde dargelegt, dass die Berufsverbände die von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2
geforderte Dringlichkeit extensiv auslegen und Psychotherapien
bestmöglich weiterführen. Folglich muss aufgrund des
Äquivalenzprinzips auch die somatische und psychiatrische
Grundversorgung für inhaftierte Personen bestmöglich
gewährleistet werden.[27]
Dies gilt umso mehr, weil angesichts der Corona-bedingten
Vollzugsrestriktionen Stressfaktoren vorliegen, welche psychische Leiden
initiieren oder verstärken können (z.B. Depressivität,
[Auto]-Aggressivität etc.).[28]
In diesen Konstellationen überwiegen die Interessen der inhaftierten
Person auf somatische und psychische Unversehrtheit das Interesse auf
Vermeidung von Infektionsrisiken. Dabei ist anzumerken, dass die jeweiligen
Interventionen zwecks Minimierung des Infektionsrisikos in
Übereinstimmung der Hygienevorgaben der COVID-19-Verordnung 2 (Art. 6 Abs. 4) bzw. den
Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit vorgenommen werden.
bb) Temporäre Frequenzeinschränkungen bei deliktpräventiven
Therapien
In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, ob Einschränkungen bei
deliktpräventiven psychotherapeutischen Interventionen möglich
wären. Solche finden sowohl im Rahmen von strafrechtlichen Massnahmen
(Art. 56 ff. StGB) als auch
freiwilligen Psychotherapien während des Strafvollzugs oder der
Verwahrung statt und streben eine Reduktion des Rückfallrisikos an.
Angesichts der verfassungs- und konventionsrechtlichen
Gewährleistungspflicht nachArt. 3 und 5 EMRK (bzw.
Art. 10
und 31 BV) muss auch für sie
die Maxime der bestmöglichen Aufrechterhaltung des therapeutischen
Angebots gelten (vgl. II.3.a.bb).[29]
Die längerfristige Ausrichtung solcher Massnahmen öffnet sich
jedoch der Betrachtung, dass nicht alle diese Interventionen
«dringlich» im engeren Sinne sind (analoger Massstab zu Art. 10a COVID-Verordnung 2).[30]
Angesichts dieser Ausgangslage könnten einzelne Komponenten des
deliktpräventiven Therapieangebots temporär eingeschränkt
werden.
Im Rahmen des Zuständigkeitsbereichs des Psychiatrisch-Psychologischen
Dienstes (PPD) in Justizvollzug und Wiedereingliederung wurde diese
Massnahme ergriffen: Sowohl im stationären als auch im ambulanten
Therapiesetting wurden Gruppensitzungen vorläufig sistiert.
Milieutherapeutische Angebote werden für die Klienten in
stationären Massnahmen beibehalten (unter Beachtung der Vorgaben des
Bundes). Einzelsitzungen werden nach Indikation in reduzierter Frequenz
weitergeführt bzw. dort wo möglich (ambulante Behandlungen in
Freiheit), via Telefon-/Internetdienste durchgeführt. Bei inhaftierten
Personen, die kurz vor der (bedingten) Entlassung stehen, werden
Einzelsitzungen möglichst mit normaler Intensität
weitergeführt, um ein geordnetes Übergangsmanagement
sicherzustellen.
cc) Verfassungs- und konventionsrechtliche Zulässigkeit der
Einschränkung
Die vorangehenden Einschränkungen greifen in das Recht der
inhaftierten Person auf therapeutische Versorgung ein (II.3.a.aa) und
müssen daher rechtsstaatlichen Eingriffsanforderungen (Art. 36 BV) standhalten.
Hinsichtlich der gesetzlichen Grundlage könnten
grundsätzlich allgemeine Vorschriften zum Strafvollzug (Art. 75 Abs. 1 StGB) oder Art. 30 EpV angerufen werden:
Beide dieser Normen enthalten jedoch keine explizite Formulierung, welche
eine temporäre Therapieeinschränkung legitimieren würde und
wären daher von der Normbestimmtheit (und -stufe bei Art. 30 EpV) als problematisch
einzustufen, zumal die Einschränkungen deliktpräventiver
Therapien durchaus eine gewisse Intensität aufweist. Auf kantonaler
Ebene könnte § 23a StJVG
als Gesetzesgrundlage angerufen werden. Diese Norm erwähnt zwar die
hier diskutierten Therapieeinschränkungen nicht explizit, berechtigt
aber in nicht abschliessender Aufzählung zu
Sicherheits- und Schutzmassnahmen. Selbst wenn man strengste Anforderungen
an die Normdichte als gerechtfertigt halten würde, wäre die
ausserordentliche Lage nach Epidemiengesetz geradezu ein
idealtypischer Anwendungsfall der polizeilichen Generalklausel, welche zur
Rechtfertigung der hier zu betrachtenden Eingriffe angerufen werden kann.[31]
Auf Basis dieser Feststellung ist zu prüfen, ob den
Einschränkungen hinreichende öffentliche Interessen
zugrunde liegen. Dies ist der Fall. Vorliegend geht es um den Schutz von
hochwertigen Rechtsgütern von inhaftierten Personen vor unmittelbaren
Gefahren. Zum einen sind die Inhaftierten vor Infektionen zu schützen
(vgl. II.3.a.aa) und zum anderen muss sichergestellt sein, dass auch bei
einer Ausbreitung des Virus eine adäquate psychotherapeutische
Versorgung durch das Therapiepersonal sichergestellt wäre (vgl.
II.3.a.bb).
Darüber hinaus halten die temporären Frequenzeinschränkungen
von deliktpräventiven Psychotherapien einer Verhältnismässigkeitsprüfung stand. Durch die
Einschränkungen der Therapiefrequenz werden sowohl die
Personenzirkulation als auch -konzentration in bestimmten Bereichen von
Justizvollzugseinrichtungen minimiert und das Risiko einer Infektion mit
dem Corona-Virus für inhaftierte Personen gesenkt (Eignung bzgl. Schutz von Leib und Leben). Zeitgleich kann
sichergestellt werden, dass die zuständigen Fachpersonen
(PsychotherapeutInnen.) bei einer grösseren Verbreitung der
Infektionskrankheit (auch unter den Mitarbeitenden)
eine adäquate psychotherapeutische Versorgung auf lange Frist
aufrechterhalten können (Eignung bzgl. Gewährleistung Therapieressourcen).
Sodann besteht die Pflicht, diese Einschränkungen auf das Minimum zu
beschränken (Erforderlichkeit; Übermassverbot). Die
unter II.3.b.bb erwähnten Limitationen beachten diese Leitplanken: Wo
keine Konsultationen in Anwesenheit bei genügend grossen und
gelüfteten Räumen (allenfalls hinter einer Trennscheibe)
möglich sind, sollen telefonische/digitale Kommunikationswege genutzt
und erst dann zu Sistierungen von Therapiesitzungen geschritten werden.[32]
Auch diese Anforderungen werden im Status Quo eingehalten. Wo möglich,
werden digitale Kontaktmöglichkeiten eingesetzt. Einzelsitzungen im
Freiheitsentzug werden in ihrer Frequenz eingeschränkt, aber nicht
aufgehoben, womit der Eingriff auf das sachlich Erforderliche
eingeschränkt wird. Einzig für Gruppensitzungen ist aufgrund der
akzentuierten Infektionsproblematik eine temporäre Sistierung das
sachlich mildeste Mittel. Zur Gewährleistung der Erforderlichkeit in
zeitlicher Hinsicht werden die einschränkenden Massnahmen zudem
befristet (vorläufig bis am 15. Mai 2020 bei Justizvollzug und
Wiedereingliederung des Kantons Zürich) und laufend an neue
Umstände und/oder Vorgaben nationaler und internationaler
Organisationen (WHO, BAG-Richtlinien und -Empfehlungen etc.) angepasst.
Damit beschränken sich die Eingriffe auf das sachlich, zeitlich,
räumlich und personell Notwendige.
Die Massnahmen sind auch verhältnismässig im engeren Sinne. Auf Seiten der
inhaftierten Person ist zu berücksichtigen, dass aus den
Einschränkungen der Therapiedichte potenzielle Negativeffekte für
die betroffenen Personen resultieren. Konkret besteht die Möglichkeit,
dass betroffene Personen erst später Therapiefortschritte erzielen,
was sich negativ auf ihren Vollzugsverlauf (bedingte Entlassung usw.)
auswirken kann.[33]
Auf der anderen Seite ist das wohlverstandene Interesse derselben (und
aller anderen) inhaftierten Personen zu beachten, nicht mit dem
Corona-Virus angesteckt zu werden, womit Gefahren für Leib und Leben
einhergehen. Darüber hinaus besteht ein Interesse aller inhaftierten
Personen darin, auch bei einer Eskalation der Infektionsrate (inkl.
Erkrankungsfällen beim Therapiepersonal) langfristig therapeutische
Angebote nutzen zu können. In einer Gesamtwürdigung
überwiegen diese öffentlichen
Interessen das private Interesse der inhaftierten Person auf umfassende und
konstante Gewährleistung des deliktpräventiven Therapieangebots
während der Pandemiephase. Die Verbreitung des Virus in Einrichtungen
des Justizvollzugs hätte potenziell gravierende (z.T. irreversible[34]) Gesundheitsfolgen für zahlreiche Inhaftierte und für Personen
in ambulanter Behandlung in Freiheit und könnte für Einzelne
sogar zum Tod führen. Würde im Verbreitungsfall zudem das
therapeutische Angebot an deliktpräventiven Therapien bei vermehrten
Krankheitsfällen unter dem Therapiepersonal zusammenbrechen,
wären ultimativ grössere Einschnitte in das Recht auf
therapeutische Angebote zu befürchten.[35]
Angesichts dieser Ausgangslage sind die temporären
Einschränkungen eine verhältnismässige Folge der staatlichen
Schutzpflicht während einer Notlage und halten einer
menschenrechtlichen Betrachtung stand.
Abschliessend drängen sich folgende Bemerkungen zum zuvor
erwähnten Risiko von therapeutischen Negativeffekte auf. Sofern die
Einschränkungen kurzfristiger Natur sind (z.B. ein Unterbruch von
wenigen Wochen), sollte sich das Risiko für diese Effekte in
überschaubarem Ausmass halten. Erst wenn die Notlage und die
korrespondierenden Einschränkungen länger anhalten, wäre ein
gehäuftes Vorkommen dieser Negativfolgen wahrscheinlich. Wenn es im
Einzelfall zu therapeutischen Verzögerungen oder gar
Rückschritten kommt, müssten diese für die inhaftierte
Person entstehenden Nachteile bei der
Verhältnismässigkeitsprüfung zugunsten der inhaftierten
Person (z.B. Fortführung der Massnahme, bedingte Entlassung etc.)
berücksichtigt werden.
III. Extension der bedingten Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB
Unter diesem Titel soll auf die zweite Forschungsfrage eingegangen und
geprüft werden, ob unter Art. 86 Abs. 4 StGB eine
extensivere Entlassungspraxis in Pandemiezeiten möglich wäre.
Einleitend wurde bereits erwähnt, dass in Einrichtungen des
Freiheitsentzugs erhöhte Infektionsrisiken bestehen. Daher ist eine
Reduktion der Anzahl von inhaftierten Personen ein wichtiges Mittel in
einer Pandemie-Gesamtstrategie.[36]
Komplizierter wird die Beantwortung der Frage, mit welchen konkreten
Instrumenten diese Forderung umzusetzen ist. Sofern
Ermessensspielräume wie bei der
Bestimmung des Termins für den Antritt einer Freiheitsstrafe[37]
bzw. Ersatzfreiheitstrafe[38]
genutzt werden, scheint dies sinnvoll, sofern die Haftzwecke (insb.
Rückfallrisiko) es erlauben.[39]
Ebenso kann die bedingte Entlassung nach Art. 86 Abs. 1 StGB oder der
Einsatz besonderer Vollzugsformen (E-Monitoring etc.) den erwünschten
Effekt herbeiführen, dass sich weniger Personen in Haft befinden.
Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Corona-spezifische Adaption der
massgeblichen Normen, sondern schlicht um eine erwünschte Nebenfolge
einer auch ausserhalb von Krisenzeiten anwendbaren korrekten
Gesetzesauslegung. Von diesen juristischen Gestaltungsmöglichkeiten
abgesehen sind aber auch Vorschläge formuliert worden, die einer
genaueren Betrachtung bedürfen: Einer davon betrifft die Forderung
nach einer extensiven Auslegung von Art. 86 Abs. 4 StGB.[40]
1. Inhalt der Forderung
In einer Medienmitteilung vom 23. März 2020 äusserte
humanrights.ch (eine Menschenrechtsorganisation) ihre Besorgnis über
den Schutz der Gesundheit von inhaftierten Personen während der
Pandemie und formulierte mehrere Anliegen. Viele davon verdienen Zustimmung
(Einhaltung der Verhältnismässigkeit, äquivalenter Schutz
etc.). Ebenso wurde gefordert, dass die Anzahl Gefangener in Einrichtungen
des Freiheitsentzugs reduziert werden solle. Als eines der möglichen
Mittel wurde dabei die ausserordentliche bedingte Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB genannt. Diese
Norm hat den folgenden Wortlaut: «Hat der Gefangene die Hälfte seiner Strafe, mindestens aber drei
Monate verbüsst, so kann er ausnahmsweise bedingt entlassen
werden, wenn ausserordentliche, in der Person des Gefangenen liegende
Umstände dies rechtfertigen.». Gemäss humanrights.ch soll während der Corona-Pandemie
«die Notwendigkeit des Schutzes der Gesundheit bei besonders
gefährdeten Personen als 'ausserordentliche, in der Person
des Gefangenen liegende Umstände' ausgelegt» und folglich inhaftierte Personen systematisch nach Verbüssung
der Hälfte der Strafe entlassen werden.[41]
2. Kritische Würdigung
Der Ratio des erwähnten Ansinnens, den Insassenbestand in
Vollzugseinrichtungen so tief wie möglich zu halten und damit das
Leben der Inhaftierten zu schützen, ist vollumfänglich
beizupflichten. Dennoch muss der darauf gestützten Forderung nach
einer extensiven Interpretation von Art. 86 Abs. 4 StGB widersprochen
werden. Es wird sich zeigen, dass Art. 86 Abs. 4 nicht
unabhängig von Art. 86 Abs. 1 StGB ausgelegt
werden kann (III.2.a) und es bei generellen Infektionsrisiken am
Personenbezug im Sinne von Art. 86 Abs. 4 StGB fehlt
(III.2.b). Hinzu kommen Herausforderungen der Umsetzung, welche der
Vollständigkeit halber zu nennen sind (III.2.c). Abschliessend gilt es
aufzuzeigen, welche juristischen Alternativen zielführender wären
(III.2.d).
a) Legalprognose als
Basisvoraussetzung
In einem ersten Schritt ist auf den systematischen Zusammenhang vonArt. 86 Abs. 4 StGB und Art. 86 Abs. 1 StGB einzugehen.
Der Gesetzgeber stellte klar, dass die ausserordentliche bedingte
Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB gleich wie die
ordentliche bedingte Entlassung im Rahmen einer Gesamtwürdigung eine
günstige Legalprognose[42]
i.S.v. Art. 86 Abs. 1 StGB
voraussetzt.[43]
Diese gesetzgeberischen Leitlinien wurden von der Rechtsprechung zurecht
bestätigt.[44]
Die bedingte Entlassung und die mit ihr verfolgte Wiedereingliederung ist
kein Selbstzweck, sondern «sondern auch ein Mittel, um die Allgemeinheit vor neuen Straftaten zu
schützen».[45]
Daraus ergibt sich, dass eine bedingte Entlassung nach der Hälfte der
Strafe zumindest bei jenen Personen nicht in Frage käme, welche eine
ungünstige Prognose i.S.v Art. 86 Abs. 1 StGB aufweisen. Die
unter III.1 geforderte systematische Entlassung aller verurteilten Personen
fällt daher bereits aus diesen Gründen für einen Teil der
inhaftierten Personen ausser Betracht.
In diesem Zusammenhang drängen sich einige Bemerkungen zur sensiblen
Abwägung im Rahmen von Art. 86 StGB auf. Die Forderungen
nach einer extensiveren Entlassungspraxis wurden von der unter dem Titel
«Das Leben von Gefangenen steht über Sicherheitsinteressen»
vorgebracht. Im Text wurde dazu weiter ausgeführt, «das Recht auf
Leben und Gesundheit der Gefangenen und der Mitarbeitenden» müsse
höher gestellt werden «als abstrakte Sicherheitsinteressen».[46]
Die gewählten Formulierungen zeichnen ein verzerrtes Bild von den
Entscheidungsprozessen im Straf- und Massnahmenvollzug im Rahmen der
bedingten Entlassung. Nicht näher mit Vollzugsfragen befasste Lesende
könnten bei den erwähnten Formulierungen zur Interpretation
gelangen, dass im Status Quo der Justizvollzug die Gesundheit und das Leben
von Gefangenen unspezifischen Sicherheitsabwägungen opfert.
Eine solche Wahrnehmung würde jedoch nicht den Tatsachen entsprechen.
Es werden in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht zahlreiche
Massnahmen ergriffen, damit eine Verbreitung des Virus nicht stattfindet
und inhaftierte Personen eine äquivalente Gesundheitsfürsorge
erfahren (vgl. I, II sowie III.2.d). Ausschlaggebend ist im vorliegenden
Zusammenhang sodann die Feststellung, dass bei der für eine bedingte
Entlassung anfallenden Gesamtwürdigung nicht abstrakte
Sicherheitserwägungen, sondern konkrete Risiken für
Leib, Leben und andere hochwertige Rechtsgüter von Dritten zu
berücksichtigen sind, wobei das Rückfallrisiko freilich je nach
inhaftierter Person variiert. Gemäss Angaben des Bundesamts für
Statistik werden ca. 35% der entlassenen Personen innert drei Jahren wieder
mit einem Verbrechen oder Vergehen rückfällig.[47]
Ebenso konnten Untersuchungen im Kanton Zürich aufzeigen, dass ca.
11-15% der entlassenen Straftäter im Beobachtungszeitraum
(Beobachtungszeitraum im Schnitt 7.9 Jahre) mit einer schweren Gewalt- oder
Sexualstraftat rückfällig wurden.[48]
Sodann entspricht es einem kriminologischen Erfahrungswert, dass die Zeit
unmittelbar nach der Entlassung als eigentliche Hochrisikophase gilt, in
der sich die meisten Rückfälle ereignen.[49]
Diese Aspekte wären neben anderen Faktoren im Rahmen einer der
Gesamtwürdigung nach Art. 86 Abs. 1 StGB zu
berücksichtigen. Aus diesen Bedingungen geht hervor, dass der
Entscheid über eine bedingte Entlassung eine komplexe Abwägung
zwischen Resozialisierungszielen und Sicherheitsinteressen der
Allgemeinheit darstellt. Es wäre unzulässig, hochwertige
Rechtsgüter von Dritten durch undifferenzierte Entlassungspraxen zu
gefährden, wenn im Einzelfall ein ungünstiges Risikoprofil bei
einer inhaftierten Person vorliegt. Es wäre wünschenswert
gewesen, dass die hier reflektierte Forderung (III.1) den sensiblen
Risiko-Abwägungsvorgang im Rahmen der bedingten Entlassung
stärker zum Ausdruck gebracht hätte.
b) Fehlender Personenbezug
allgemeiner Infektionsrisiken
Eine bedingte Entlassung zur Strafhälfte käme nach dem Gesagten
allenfalls für jene Personen in Frage, welche eine günstige
Legalprognose im Sinne von Art. 86 Abs. 1 StGB aufweisen. Auf
Basis dieser Feststellung bleibt zu prüfen, ob die einschlägigen
Tatbestandsmerkmale von Art. 86 Abs. 4 StGB während
der Pandemie vorliegen. Legitimationsgrundlage für eine Entlassung
nach der Strafhälfte sind nach dem Gesetzestext «ausserordentliche, in der Person des Gefangenen liegende Umstände.» Damit hat der Gesetzgeber zwar eine offene Formulierung
gewählt.[50]
Unbestritten war jedoch immer, dass es sich um personenbezogene
Umstände der inhaftierten Person selbst handeln muss; der Tod eines
Familienangehörigen oder ein statistischer Rückgang der Delikte,
welche die Verurteilung des Betroffenen veranlasst haben, sollten nach der
Vorstellung des Gesetzgebers keine ausserordentlichen Gründe
darstellen.[51]
Beispiele für personenbezogene Umstände
waren demgegenüber irreversible Krankheiten der inhaftierten Person
oder wenn sich eine inhaftierte Person in einer Katastrophenlage für
einen besonders gefährlichen Einsatz zur Verfügung stellt
genannt.[52]
Das Schrifttum - sofern es sich über die Inhalte der Materialien und
Gerichtsurteile hinaus zur Frage äussert[53]
- kritisierte in Teilen die moralisierenden Fallgruppen des Gesetzgebers
und stellte sich überwiegend auf den Standpunkt, dass
spezialpräventive Gesichtspunkte den Ausschlag geben sollen.[54]
Auch bei dieser Interpretation bleibt indes der Personenbezug der Norm das
kennzeichnende Merkmal, da letztlich die Individualprognose einer konkreten
inhaftierten Person anwendungsbestimmend für Art. 86 Abs. 4 StGB wäre
(d.h. nur wenn die Prognose wegen a.o. Umständen günstig
ausfiele, könnte die bedingte Entlassung zur Strafhälfte
gewährt werden). Schliesslich knüpfen auch die Richtlinien der
Strafvollzugskonkordate, die als Auslegungshilfen bei der Interpretation
von Art. 86 Abs. 4 StGB beigezogen
werden können[55], an personenbezogene Umstände an: Genannt werden z.B. der
Gesundheitszustand eines Insassen, die besondere Betroffenheit der
inhaftierten Person durch die Folgen der Tat, durch aussergewöhnliche
Entbehrungen erfolgte Verbesserungen der Legalprognose oder die
Erfüllung finanzieller Pflichten aus der Verurteilung/dem
Vollzugsverfahren.[56]
Sodann hat auch die Rechtsprechung immer auf konkrete Personenumstände
Bezug genommen und Art. 86 Abs. 4 StGB in die
Nähe eines Gnadenakts (Begnadigung -> Einzelfallgerechtigkeit)
gestellt.[57]
Aus dem Gesagten geht hervor, dass die von Art. 86 Abs. 4 StGB genannten
ausserordentlichen Umstände eine konkrete inhaftierte Person betreffen
müssen (Krankheit, besondere Verdienste, insb. Verbesserung
Legalprognose). Bei der Corona-Pandemie handelt es sich jedoch nicht um
solche individuelle Besonderheit, die eine ausserordentliche bedingte
Entlassung rechtfertigen könnten, sondern um ein Phänomen mit
Systemrelevanz, das alle in der Schweiz lebenden Menschen betrifft und
für den Grossteil der Personen (auch der Inhaftierten) als
Gesundheits- bzw. (Risikogruppen) Lebensrisiko in Erscheinung tritt.[58]
Zwar wird nicht bestritten, dass eine Corona-Infektion mit einem
erhöhten Risiko für die Gesundheit (z.B. Lungenentzündung)
und bei Risikogruppen für das Leben einhergeht und dass die
Infektionsgefahr in Einrichtungen des Freiheitsentzugs tendenziell
erhöht ist.[59]
Es bleibt aber bei einem für alle Inhaftierten bestehenden Risiko
(probabilistische Grösse) und keinem auf eine konkrete inhaftierte
Person bezogenen ausserordentlichen Umstand (z.B. eine irreversible
Krankheit). Eine bedingte Entlassung zur Strafhälfte könnte daher
erst dann diskutiert werden, wenn eine Person sich mit dem Virus infiziert
und sich der Gesundheitszustand rapide verschlechtert. Dann läge der
erforderliche Personenbezug des ausserordentlichen Umstands für den
kranken Insassen vor. Allerdings wäre Art. 86 Abs. 4 StGB u.E. auch in
diesen Konstellationen nicht einschlägig, da die Mehrzahl von
Krankheitsverläufen bei COVID-19 mit einer Gesundung enden und die
Genesenen zu alten Kräften zurückkehren (mangelnde
Irreversibilität i.S.v. Art. 86 Abs. 4 StGB).
Zielführender wären daher bei dieser Sachlage Verlegungen in
Spitäler und spezialisierte Einrichtungen (vgl. III.2.d).
Der einzige den Autoren vorstellbare Anwendungsfall für Art. 86 Abs. 4 StGB würde
eintreten, wenn aufgrund der Corona-Krise ein Zusammenbruch des
Gesundheitssystems wegen mangelnder Personalressourcen droht. Würden
sich in einer solchen Sachverhaltskonstellation unter den inhaftierten
Personen
solche mit medizinischer/pflegerischer Ausbildung und akzeptablem
extramuralen Risikoprofil befinden und wären diese bereit,
Einsätze in den Spitälern etc. zu leisten, könnte sich Art. 86 Abs. 4 StGB als
einschlägig erweisen. Sieht man von diesem Sonderfall ab, wäre
die ausserordentliche bedingte Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB nicht das
richtige Mittel, um während der Pandemie die angestrebte Reduktion des
Insassenbestands in Einrichtungen des Freiheitsentzugs herbeizuführen.[60]
c) Herausforderungen der
Umsetzung
Abrundend sollen einige Umsetzungsherausforderungen der systematischen
Anwendbarkeit von Art. 86 Abs. 4 StGB diskutiert
werden. Dabei gilt es zu betonen, dass die nachfolgend genannten Aspekte
keine Grundlagen darstellen, um bedingte Entlassungen aus dem Strafvollzug
abzulehnen. Liegen die juristischen Voraussetzungen nach Art. 86 Abs. 4 StGB vor, ist die
bedingte Entlassung zu gewähren. Dennoch ist es abgebracht, zur
vollständigen Erfassung der Problematik die Konsequenzen einer
systemischen Entlassungspraxis nach Art. 86 Abs. 4 StGB zu skizzieren:
Würde die bedingte Entlassung nach der Strafhälfte während
der Corona-Krise zur Regel, würde sich die Frage stellen, auf welche
Weise ein geordnetes Übergangsmanagement in kurzer Frist
bereitgestellt werden kann. Gerade bei Langzeitinhaftierten oder sozial
isolierten Personen könnte der Fall eintreten, dass nicht innert
kurzer Frist eine Wohnmöglichkeit sowie Arbeitsmöglichkeiten zur
Verfügung gestellt werden könnten, womit die Reintegration durch
eine instabile Entlassungssituation gefährdet wäre. Mangels
Wohnmöglichkeiten wären sodann Personenansammlungen in den
sozialen Auffangzentren möglich, was angesichts der
bundesrätlichen Vorgaben, Personenkonzentrationen wann immer
möglich tief zu halten, als fragwürdig erscheint. Ebenso
könnte sich bei Inhaftierten mit Landesverweis je nach Sachlage die
Situation einstellen, dass sie von der einen in die andere Haft
(Ausschaffungshaft) verlegt werden. In all diesen Fällen bliebe die
mit der bedingten Entlassung angestrebte Risikoreduktion für die
betroffene Person aus.
d) Alternative Lösungsmöglichkeiten
Nach dem Gesagten ist klar, dass Art. 86 Abs. 4 StGB nicht das
richtige juristische Modell ist, um den Infektionsrisiken im
Freiheitsentzug zu begegnen. Unbeantwortet bleibt damit aber die Frage, wie
zu verfahren wäre, wenn sich in kurzer Zeit mehrere inhaftierte
Personen anstecken (Eskalationsszenario). Neben den einleitend
erwähnten Massnahmen in Einrichtungen des Justizvollzugs selbst (vgl.
I) wäre bei einer Infektion von inhaftierten Personen bei einer
rapiden Verschlechterung des Gesundheitszustands der Weg nach Art. 80 StGB (Vollzug in einem
Spital etc.) einzuschlagen. Der Kanton Zürich hat für die
vorliegende Pandemie zusätzlich die Möglichkeit geschaffen,
infizierte Personen einer spezialisierten Vollzugseinrichtung
zuzuführen (Gefängnis Horgen).[61]
Damit könnte die Trennung von gesunden und angesteckten Personen
erfolgen und für letztere
eine adäquate Gesundheitsversorgung sichergestellt werden. Erst wenn
trotz all diesen und den in der Einleitung geschilderten
Präventionsmassnahmen (vgl. I) das Schutzniveau bei einer
allfälligen unkontrollierten Verbreitung des Virus unzureichend
wäre und der Staat seiner Schutzpflicht intramural nicht mehr
nachkommen kann, wäre eine Unterbrechung des Vollzugs zu diskutieren (Art. 92 StGB).[62]
IV. Abschliessende Bemerkungen
Die COVID-19-Pandemie stellt den Justizvollzug vor grosse Herausforderungen
und setzt ihn unter ständigen (gerechtfertigten) Legitimationsdruck.
Auch in ausserordentlichen Lagen ist Art. 74 StGB der Leitstern
sämtlicher vollzugsrechtlicher Überlegungen. Die Rechte von
inhaftierten Personen dürfen «nur so weit beschränkt werden, als der Freiheitsentzug und das
Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern.» Dabei sind in einem dynamischen Umfeld mit erheblichen
Unsicherheiten Entscheide zu treffen, um Leib und Leben von Inhaftierten
und Mitarbeitenden zu schützen. In der Schweiz sind über 6500
Personen von strafprozessualem oder strafrechtlichem Freiheitsentzug
betroffen.[63]
Würden für diese Personen nicht zur gebotenen Zeit die
geeigneten, erforderlichen und zumutbaren Präventionsmassnahmen
getroffen, könnte sich diese Unterlassung desaströs auswirken.
Nimmt man die (fluktuierende) Mortalitätsrate des COVID-19 von ca. 2%
als Anhaltspunkt, könnte eine flächendeckende Verbreitung im
Vollzug bis zu 130 Tote nach sich ziehen. Liesse sich dieses Szenario auf
unterlassene Präventionsmassnahmen im Justizvollzug
zurückführen, wäre dies nicht nur eine menschliche
Tragödie, sondern auch eine eklatante Verletzung der staatlichen
Schutzpflicht. Präventionsmassnahmen sind daher unvermeidbar, um eine
Verbreitung des Virus in Einrichtungen des Freiheitsentzugs zu verhindern.
In der vorliegenden Abhandlung wurden zwei präventive
Interventionsmöglichkeiten näher betrachtet, welche im Rahmen des
Pandemieschutzes eine potenzielle Risikoreduktion herbeiführen
könnten. Während die temporäre Einschränkung der
Therapiefrequenz bei strafrechtlichen Massnahmen bei gleichzeitiger
Gewährleistung einer therapeutischen Grundversorgung als
verhältnismässiger Ausgleich zwischen zwei verfassungs- und
konventionsrechtlichen Garantien eingestuft werden konnte (vgl. II.),
musste die ausserordentliche bedingte Entlassung nach der Hälfte der
Strafe (Art. 86 Abs. 4 StGB) als
Lösungsmodell zurückgewiesen werden, weil sie erstens eine
positive Prognose im Sinne von Art. 86 Abs. 1 StGB voraussetzt
und die pandemiebegründeten Ansteckungsrisiken keine
ausserordentlichen Umstände nach Art. 86 Abs. 4 StGB begründen
können (vgl. III).
Die speziellen Rahmenbedingungen während der Pandemie - so auch die
temporär eingeschränkten Therapieressourcen - bedeuteten für
die inhaftierten Personen eine zusätzliche Bürde im
Vollzugsalltag. Aus diesem Grund bleibt es die konstante Aufgabe des
Justizvollzugs, den Zusatzlasten für die betroffenen Personen
entgegenzuwirken und Nachteile im Rahmen der Verhältnismässigkeit
auszugleichen. Abschliessend bleibt zu hoffen, dass aus der
ausserordentlichen Lage nicht nur Belastungen, sondern mittel- und
langfristig auch positive
Folgen für die inhaftierten Personen resultieren. Zu nennen sind dabei
insbesondere die erweiterten digitalen Kontaktmöglichkeiten für
Inhaftierte. Nutzt man das bestehende Momentum auch nach Ende der Pandemie,
könnte das unwillkommene Virus zu einer sehr willkommenen
Weiterentwicklung der Vollzugspraxis in das digitale Zeitalter beitragen.
[1]
Vgl. Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des
Coronavirus (COVID-19), (COVID-19-Verordnung 2) vom
13. März 2020 (Stand am 4. April 2020).
[4]
Urteil des Bundesstrafgerichts SN.2020.10 (SK.2019.45)
vom 17. März 2020 E. 8.
[7]
Übersicht über die einschlägigen Quellen bei
Jörg Künzli/Alberto Achermann, Bekämpfung von
Infektionskrankheiten im Freiheitsentzug, Jusletter 7. Mai 2007,
Rz. 5 ff. und Zitat Rz. 24.
[10]
Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens bei Tröpfcheninfektionen
auch: Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 35.
[13]
Die in diesem Beitrag erläuterten Rechtsfragen wurden
während der Pandemie von der Geschäftsleitung von
Justizvollzug und Wiedereingliederung an die Autoren in der
Hauptabteilung «Forschung & Entwicklung»
herangetragen. Die vorliegenden Abhandlungen repräsentieren
die Essenz der dafür notwendigen Rechtsabklärungen.
[14]
Erläuterungen zur Verordnung 2 vom 13. März 2020
über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus
(COVID-19-Verordnung 2), Fassung vom 25. März 2020, Stand 28.
März 2020, S. 17.
[17]
Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 75 f.
[21]
Vgl. Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 26 und 31; zur
Rechtsprechung des EGMR sodann: EGMR,
Guide on the case-law of the European Convention on Human
Rights, Prisoners' rights, Updated on 31 December 2019, Rz. 122 ff.; Rule 30 der
Nelson Mandela Rules, The United Nations Standard Minimum Rules
for the Treatment of Prisoners; ebenso Freiheitsentzug, Die Empfehlungen des Europarates,
Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Godesberg 2007, Rz.
42.3.
[22]
Urteil des EGMR 34602/16
vom 21. Januar 2020 (Strazimiri v. Albania) § 103 ff.; Urteil
des EGMR 18052/11 vom 31.
Januar 2019 (Rooman v. Belgium [GC]) § 146 ff. und 169 ff.
[23]
Urteil des EGMR 34602/16
vom 21. Januar 2020 (Strazimiri v. Albania) § 103 ff.
[24]
Urteil des EGMR 34602/16
vom 21. Januar 2020 (Strazimiri v. Albania) § 123 (So
rügte der EGMR einen Staat zu Recht, der sich bei einer
psychisch gestörten Person nur auf pharmakologische
Interventionen beschränkt und ansonsten entgegen seiner
Pflicht kein therapeutisches Umfeld (inkl. Psychotherapie etc.) zur
Verfügung gestellt hatte).
[26]
Benjamin Brägger, Gefängnismedizin, in: Benjamin
Brägger (Hrsg.). Das schweizerische Vollzugslexikon Von der
vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung, Basel 2014.
[27]
KKJPD,
Zusammenfassung
(Fn. 11); Michael Liebrenz/Jonas Weber/Ueli Kieser/Roman Schleifer,
COVID-19 Pandemie: Psychiatrische Versorgung von Inhaftierten, in:
Jusletter 20. April 2020, Rz. 25.
[30]
Einen anderen als den hier argumentierten Weg gehen
Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 29, in dem sie die
Dringlichkeit aufgrund des von ihnen angenommenen mangelnden
Wirksamkeitsnachweis für rehabilitative Therapien annehmen.
Dieses Argument ist jedoch angesichts des internationalen
Forschungsstands zur Evaluation von deliktpräventiven
Interventionen nicht haltbar; Vgl. Thierry Urwyler, Wirksamkeit
therapeutischer Interventionen bei erwachsenen
Sexualstraftätern: Implikationen der Evaluationsforschung auf
die Verhältnismässigkeit therapeutischer Massnahmen, in:
20 Jahre Amt für Justizvollzug Zürich - eine Festschrift,
Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie (SZK) 2019
(Sonderband), 100 ff.; generell sodann Jérôme Endrass et
al., (Hrsg.), Interventionen bei Gewalt- und
Sexualstraftätern, Risk-Management, Methoden und Konzepte der
forensischen Therapie, Berlin 2013.
[32]
KKJPD, Zusammenfassung
(Fn. 11); zu digitalen Therapiemöglichkeiten auch
Liebrenz/Weber/
Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 30 ff.
[35]
Im vorliegenden Fall entsteht folglich die besondere Situation,
dass durch eine temporäre Einschränkung des
psychotherapeutischen Angebots die langfristige Gewährleistung
des Rechts auf therapeutische Versorgung nach Art. 5 EMRK und Art. 31 BV
gewährleistet werden kann.
[42]
Präziser noch: Die Abwesenheit einer doppelt negativen
Differenzialprognose = die Abwägung zwischen der Prognose bei
Vollverbüssung der Strafe versus die Prognose bei bedingter
Entlassung unter Bewährungshilfe und Auflagen (BSK-Koller,
Art. 86 n 16).
[43]
Botschaft
vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und
Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu
einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, 2120 «Eine günstige Resozialisierungsprognose dieser Art wird
auch vorausgesetzt für die ausserordentliche bedingte
Entlassung nach der Hälfte der Strafdauer».
[48]
Katharina Seewald et al., Effectiveness of a
risk-need-responsivity-based treatment program for violent and
sexual offenders: Results of a retrospective, quasi-experimental
study, Legal and Criminological Psychology, 2018, 23, 85-99.
[49]
Thierry Urwyler et al., Die Führungsaufsicht und ihre
potenziellen Alternativen, in: Jusletter 3. Februar 2020, Rz. 3.
[51]
Botschaft
(Fn. 43); vgl. auch Daniel Jositsch/
Gian Ege/Christian Schwarzenegger, Strafrecht II, Strafen und
Massnahmen, 9. A., Zürich 2018, S. 252; Cornelia Koller, Art.
86 N 18, in: Niggli Alexander Marcel/Wiprächtiger Hans
(Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht, Strafgesetzbuch,
Jugendstrafgesetz, 4. A., Basel 2018.
[52]
Botschaft
(Fn. 43); vgl. auch Günther Stratenwerth, Schweizerisches
Strafrecht. Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, Bern 2006,
§ 4 N 69 (besonders verdienstliches Verhalten).
[53]
Keine über Materialien und Urteile hinausgehenden
Ausführungen enthalten beispielsweise Stefan Heimgartner, Art.
86 N 12, in: Andreas Donatsch (Hrsg.) StGB/JStG Kommentar, 20. A.,
Zürich 2018; Michel Dupuis et al., Petit Commentaire CP, Basel
2017, Art. 86 N 13; Wolfgang Wohlers, Art. 86 N 4, in: Wolfgang
Wohlers/
Gunhild Godenzi/Stephan Schlegel, Schweizerisches Strafgesetzbuch,
Handkommentar, 4. A., Bern 2020.
[54]
Stefan Trechsel/Peter Aebersold, Art. 86 N 16, in: Stefan
Trechsel/Marc Pieth (Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch,
Praxiskommentar, 3. A., Zürich/St.Gallen 2017; André
Kuhn, Art. 86 N 8, in: Roth Robert/Moreillon Laurent (Hrsg.),
Commentaire Romand, Code pénal I, Art. 1-110, Basel 2009; Die
Praxis der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug, Eine
empirische Studie zur Anwendung des Art. 86 StGB in den Kantonen
Bern, Freiburg, Luzern und Waadt, Berlin/Bern 2019, 372. Cornelia
Koller, Art. 86 N 18, in: Niggli Alexander Marcel/Wiprächtiger
Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht, Strafgesetzbuch,
Jugendstrafgesetz, 4. A., Basel 2018.
[55]
Dabei sind die Richtlinien freilich nicht bindend (a.M. scheinbar
das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich VB.2010.00459 vom 11.
November 2010 E. 3). Der Position des Verwaltungsgerichts muss
jedoch widersprochen werden. Bei der Auslegung von Art. 86 Abs. 4 StGB sind
die normalen Auslegungsgrundsätze zu beachten, d.h. es ist der
Sinn der Norm durch grammatikalische, historische, teleologische
und systematische Auslegung zu ermitteln. In diesem Rahmen
können konkordatliche Richtlinien nur - aber immerhin - Hilfen
bei der Auslegung von Normen mit unklarem Normgehalt sein.
[56]
Ostschweizer Strafvollzugskommission, Richtlinien betreffend die
bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug vom 7. April 2006, Rz.
2.2; Art. 3 Richtlinie der Konkordatskonferenz des
Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone
betreffend die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug vom 26.
Oktober 2018 (enthalten nur den Gesundheitszustand und die schwere,
nach der Verurteilung entstandene Betroffenheit).
[57]
Urteil des Bundesgericht 6B_240/2012 vom 4.
Dezember 2012 (nicht erfüllt); Urteil des Bundesgerichts 6B_715/2014 vom 27. Januar
2015, (nicht erfüllt); Urteil des Bundesgerichts 6B_891/2008 vom 20. Juni
2009 (nicht erfüllt); Urteil des Verwaltungsgerichts
Zürich VB.2010.00459
vom 11. November 2010, (nicht erfüllt); Urteil des
Verwaltungsgerichts Zürich VB.2019.00165 vom 8. Juli 2019
(nicht erfüllt).
[58]
Zur Risikoausprägung vgl. Liebrenz/Weber/
Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 1.
[59]
Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 19; nach
Kenntnisstand der Autoren ist jedoch nicht geklärt, wie stark
die relative Risikoerhöhung (Ansteckungsrate
Allgemeinbevölkerung v. Inhaftierte) gegenüber den
Personen in Freiheit tatsächlich ausfällt. Dabei
fällt eine exakte Risikoquantifizierung mangels gesicherter
Datenlage schwer. Während kaum strittig sein dürfte, dass ein erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht, ist
unklar, wie hoch diese relative Risikoerhöhung
gegenüber Personen in Freiheit ausfällt.
[60]
Wenn überhaupt, müsste man generell-abstrakte
Lösungen für alle Gefangenen ausserhalb der Strukturen
der Art. 75 ff. StGB unter
dem Gesichtspunkt der Amnestie (Art. 384 StGB) betrachten,
wobei es sich bei einer Infektionswelle wohl um einen atypischen
Fall einer Amnestie handeln würde. Freilich wäre für
eine solche die Bundesversammlung zuständig (Art. 384 Abs. 1 StGB).
[62]
Zwar knüpft auch diese Norm an in der Person des Inhaftierten
liegende Umstände an (BSK-StGB-Koller, Art. 92 N 9). Jedoch
könnte in einem Worst-Case-Szenario wie dem Geschilderten
argumentiert werden, dass absolute Hafterstehungsunfähigkeit
(bzw. Straferstehungsunfähigkeit) vorliegt, da bei einer
solchen Sachlage den Gefahren für die Gesundheit der
Inhaftierten nicht mehr intramural (auch nicht via Art. 80 StGB) begegnet
werden kann. Vgl. auch Richtlinie der Konkordatskonferenz des
Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Inner-schweizer Kantone
betreffend die Hafterstehungsfähigkeit vom 25. November 2016,
1 ff.