I. Einleitung
«Sexualität muss einvernehmlich sein!» Diese Aussage ist
nicht nur Grundlage von Sensibilisierungskampagnen und dem
Aufklärungsunterricht in Schulen, sondern umschreibt auch eine
menschenrechtliche Vorgabe. Die Schweiz ist aufgrund der Rechtsprechung des
EGMR[1]
und der sog. Istanbul-Konvention[2]
verpflichtet, alle nicht-einverständlichen
Sexualkontakte umfassend und angemessen unter Strafe zu stellen sowie bei
entsprechenden Übergriffen eine effektive Strafverfolgung zu
gewährleisten. Insbesondere mit Blick auf die Istanbul-Konvention
wurden nun in jüngerer Zeit verschiedene Massnahmen im Bereich der
Strafverfolgung von sexuellen Übergriffen gefordert, unter anderem
auch
eine Reform des materiellen Sexualstrafrechts.[3]
Begründet wurde dies damit, dass das geltende Sexualstrafrecht
dazu beitrage, dass Fälle von nicht-einverständlichen sexuellen
Handlungen unbestraft bleiben. Diese Frage, d.h. ob und inwieweit im
schweizerischen Sexualstrafrecht Reformbedarf besteht, ist derzeit
Gegenstand öffentlicher Diskussionen[4]
und politischer Vorstösse.[5]
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher zu untersuchen, ob und
inwiefern neben den typischen Beweisschwierigkeiten auch das materielle Strafrecht als Ursache für die Straflosigkeit von
sexuellen Übergriffen - hier verstanden als
nicht-einverständliche sexuelle Handlungen an einer Person -
thematisiert werden muss. Dafür sollen zunächst die
völkerrechtlichen Bestrafungspflichten hinsichtlich sexueller Gewalt
kurz dargestellt und anschliessend die Diskrepanz zwischen dem Umfang der
durch die Istanbul-Konvention zu bestrafenden Verhaltensweisen und dem, was
nach schweizerischem Strafrecht verfolgt werden kann, thematisiert werden
(II.). Anschliessend soll die so festgestellte Lücke anhand einer
Auswahl von Fällen aus der kantonalen Praxis veranschaulicht werden.
Besonders deutlich kann diese Diskrepanz und ihre praktischen Konsequenzen
anhand von Endentscheiden aufgezeigt werden, bei denen zwar erstellt war,
dass der Beschuldigte eine nicht-einverständliche sexuelle Handlung am
Opfer vornahm, eine Verurteilung aber daran scheiterte, dass das Verhalten
nicht unter einen der Tatbestände des geltenden Sexualstrafrechts
subsumiert werden konnte (III.). Eine solche Untersuchung erscheint auch
deshalb notwendig, weil diese Endentscheide oftmals nicht in
öffentlich zugänglichen Datenbanken abrufbar sind und damit
für den öffentlichen Diskurs weitgehend unsichtbar bleiben.
Zuletzt sollen die gewonnenen Erkenntnisse kritisch diskutiert und in die
aktuelle kriminalpolitische Debatte eingebettet werden (IV.). Dabei soll
dargelegt werden, dass die geltende Rechtslage nach Erfahrung von
Opferhilfe-Beratungsstellen auch dazu führt, dass Opfer von vornherein
auf eine Anzeige verzichten und so möglicherweise selbst Vorfälle
im Dunkelfeld verbleiben, die bereits heute justiziabel wären.
II. Der aktuelle rechtliche Schutz der sexuellen Selbstbestimmung
1. Vorgaben gemäss EMRK und
Istanbul-Konvention
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist ein grund- und
menschenrechtlich geschütztes Recht und hat eine positive und eine
negative Dimension - die Freiheit zu gewollter Sexualität
sowie die Freiheit vor ungewollter Sexualität, vor sexueller
Gewalt und sexuellem Missbrauch.[6]
Letzteres kann als Abwehrrecht verstanden werden, «im Sinne eines
‹Vor-Angriffen-bewahrt-bleibens›, eines
‹Sich-verweigern-könnens›, als Freiheit vor
Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet.»[7]
Eine Freiheit zu Sexualität kann es nur soweit geben, als nicht die
Freiheiten anderer Personen betroffen sind. Die Einwilligung wiederum ist
Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts und mit diesem untrennbar
verknüpft: Indem wir in eine sexuelle Handlung einwilligen,
verwirklichen wir unser Selbstbestimmungsrecht. Umgekehrt ist das
Selbstbestimmungsrecht verletzt, wenn keine Einwilligung vorliegt.[8]
Ohne Einwilligung des anderen handelt es sich bei einem Sexualakt nicht um
ein legitimes Entfalten der eigenen Sexualität, sondern um Usurpation.[9]
In seinem wegweisenden Entscheid M.C. gegen Bulgarien hat denn
auch der EGMR festgehalten, dass die Mitgliedstaaten die positive Pflicht
haben, alle nicht-einverständlichen Sexualakte zu verfolgen und zu
bestrafen, und zwar auch dann, wenn das Opfer sich nicht körperlich
zur Wehr gesetzt hat.[10]
Auch aus der 2017 von der Schweiz ratifizierten Istanbul-Konvention ergibt
sich die Verpflichtung, jeden Sexualkontakt unter Strafe zu stellen, der
nicht von einem freiwillig erteilten Einverständnis getragen wird.[11]
Damit wird den Staaten die Einführung des Konsensprinzips (im Sinne
einer «Nein-heisst-Nein»- oder
«Nur-Ja-heisst-Ja»-Regel) im Sexualstrafrecht nahegelegt, wie
auch die bisher ergangenen Empfehlungen des zuständigen
Überwachungsgremiums zeigen.[12]
Zahlreiche europäische Länder haben
jedenfalls aufgrund der Istanbul-Konvention ihre sexualstrafrechtlichen
Bestimmungen überarbeitet und ergänzt.[13]
So wurde etwa in Schweden, Island, Deutschland und Österreich das
Sexualstrafrecht kürzlich reformiert,[14]
in anderen Ländern wurden bereits entsprechende
Absichtserklärungen abgegeben.[15]
Der schweizerische Bundesrat hingegen stellte sich bislang auf den
Standpunkt, dass das geltende Recht in der Schweiz den Anforderungen
bereits genügt - eine Einschätzung, der zahlreiche
StrafrechtsprofessorInnen widersprochen haben.[16]
2. Problematik der Bestimmungen des Schweizerischen
Strafgesetzbuches
Während in anderen europäischen Ländern Vergewaltigung
zunehmend als «Sex ohne Einwilligung» definiert wird, kennt das
Schweizerische Strafgesetzbuch keinen als Verbrechen oder Vergehen
ausgestalteten Tatbestand, der nicht-einverständliche Sexualkontakte per se unter Strafe stellt. Insbesondere Art. 189 und 190 StGB (Vergewaltigung und
sexuelle Nötigung) sind als Nötigungsdelikte ausgestaltet, es ist
also zusätzlich zur fehlenden Einwilligung erforderlich, dass die
Täterschaft das Opfer nötigt.[17]
Das hat zur Konsequenz, dass nach dem
geltenden materiellen Strafrecht (bei sexuell mündigen Menschen) eine
sexuelle Handlung ohne Einwilligung nur dann als erhebliches Unrecht
anerkannt wird, wenn zu der fehlenden Einwilligung
weitere Umstände hinzutreten, nämlich die Anwendung eines
Nötigungsmittels (Art. 189
und 190 StGB), die Ausnutzung der
Urteils- oder Widerstandsunfähigkeit (Art. 191 StGB) oder die Ausnutzung
eines Abhängigkeitsverhältnisses oder einer Notlage (Art. 188, 192 und 193 StGB). Konstellationen, in
denen diese zusätzlichen Umstände nicht vorliegen, können -
ein rechtzeitig gestellter Strafantrag vorausgesetzt - höchstens als
sexuelle Belästigung (Art. 198 StGB) bestraft werden.[18]
Dies widerspricht der Vorgabe der Istanbul-Konvention, wonach
nicht-einverständliche sexuelle Handlungen von Amtes wegen verfolgt
und angemessen bestraft werden müssen.[19]
Dass das Fehlen eines (Vergewaltigungs-)Tatbestandes, der das schlichte Handeln gegen bzw. ohne den Willen des
Opfers angemessen unter Strafe stellt, zu unbefriedigenden Ergebnissen
führt, zeigen jene Fälle, die man als «sexuelle
Übergriffe ohne Nötigung» bezeichnen könnte. Gemeint
sind Konstellationen, in denen der Täter am passiv bleibenden bzw. ihn
bloss verbal abweisenden Opfer sexuelle Handlungen vornimmt, dieses aber
mangels Widerstands nicht zu nötigen braucht. Dem bundesgerichtlichen
Entscheid 6B_912/2009 vom 22.
Februar 2010 lag ein solches Geschehen zugrunde: Das Opfer
«wehrte» sich lediglich verbal gegen den ungewollten
Geschlechtsverkehr, zu weiteren Abwehrhandlungen fühlte sie sich nicht
in der Lage - sie sei zu schockiert und verblüfft gewesen, wie sie
selber angab.[20]
Der Beschuldigte musste also weder Gewalt anwenden noch sie mittels Drohung
zur Duldung des Geschlechtsverkehrs bewegen. Auch das dritte bei Art. 189 und 190 StGB statuierte
Nötigungsmittel, das sog. «Unter-Psychischen-Druck-Setzen»,
lag nach Auffassung des Kantons- und Bundesgerichts nicht vor. Es wäre
dem Opfer nach Ansicht der Gerichte durchaus weitergehender Widerstand
zumutbar gewesen, etwa durch physische
Gegenwehr oder durch Verlassen des Zimmers. Damit fehlte es am
Tatbestandsmerkmal des Nötigungsmittels und es musste ein Freispruch
vom Vorwurf der Vergewaltigung ergehen. Das Bundesgericht hielt in seinem
Entscheid ausdrücklich fest:
Dieser Entscheid vermittelt einen ersten Eindruck davon, dass es Fälle
von nicht-einverständlichen Sexualkontakten gibt, die mit dem
Instrumentarium des geltenden Rechts nicht angemessen erfasst werden
können. Nachfolgend soll anhand weiterer Fallbeispiele aus der Praxis
gezeigt werden, dass es sich bei diesem Urteil nicht um einen Einzelfall
handelt.
III. Veranschaulichung der
Problematik anhand von weiteren kantonalen Praxisbeispielen
1. Methodik
a) Vorgehensweise der Erhebung
Ende 2019 wurden neun Opferhilfe-Beratungsstellen und ein kleinerer Kreis
von RechtsanwältInnen angeschrieben und um die Zusendung von
vollständig anonymisierten Endentscheiden gebeten, bei denen die
materielle Rechtslage die (mit-)entscheidende Hürde für die
strafrechtliche Verfolgung des Beschuldigten darstellte. Um eine
Retraumatisierung der Opfer - etwa durch Wiedererkennen des
«eigenen» Falls in der Publikation - zu verhindern, wurden die
AnwältInnen gebeten, vor der Übermittlung der Unterlagen die
Zustimmung ihrer Klientinnen einzuholen.[24]
Zur Verfügung gestellt wurden innert kurzer Frist 28 anonymisierte
Kopien von rechtskräftigen Endentscheiden aus mehreren Kantonen. Bei
fehlender Begründung der Entscheide wurden Fallbeschreibungen der
Anwältinnen eingeholt. Zusätzlich wurden auch Fälle
verwendet, die bereits in
öffentlich zugänglichen kantonalen Entscheidsammlungen publiziert
worden sind.[25]
Abgesehen von letzteren werden die uns zugesandten Verfügungen und
Urteile vorliegend derart wiedergegeben, dass keinerlei
Rückschlüsse auf den
jeweiligen Kanton möglich sind, damit weder einzelne kantonale
Staatsanwaltschaften oder Gerichte hervorgehoben werden noch die
Identifizierung der Opfer ermöglicht wird. Aus Platzgründen
wurden aus dieser Fallsammlung nur jene Entscheide für den Beitrag
ausgewählt, anhand derer sich die problematische Rechtslage besonders
gut veranschaulichen lässt.[26]
b) Einschränkungen dieser
Vorgehensweise
Die vorliegende Untersuchung ist aus offenkundigen Gründen nicht geeignet, ein repräsentatives Abbild der
Verfahrenswirklichkeit bei Sexualdelikten zu zeichnen. Aufgrund der
gewählten Vorgehensweise lässt sich nicht bestimmen, in wie
vielen Fällen prozentual die Strafverfolgung an der hier als
problematisch identifizierten Rechtslage scheitert. Anzumerken ist hierbei,
dass nach Erfahrung von Opferhilfe-Beratungsstellen solche Fälle
mitunter gar nicht erst angezeigt werden, nachdem die Betroffenen über
die Rechtslage informiert worden sind.
Bei einigen der uns zugesandten Entscheide war der Sachverhalt noch nicht
hinreichend erstellt. Dennoch können auch solche Verfügungen
Aufschluss über die problematische Rechtslage geben, wenn die
verfügende Staatsanwaltschaft als Einstellungsgrund angibt, dass
selbst wenn man vollumfänglich auf die Aussagen des Opfers abstellen
würde, eine Strafbarkeit des Beschuldigten ohnehin nicht gegeben
wäre - womit die Unzulänglichkeit des materiellen Rechts
unabhängig von der Beweisproblematik sichtbar wird.
2. Kein Widerstand, kein Nötigungsmittel, keine Vergewaltigung
a) Ohne Nötigungsmittel keine Vergewaltigung bzw. keine
sexuelle Nötigung
Im öffentlichen Diskurs rund um die Notwendigkeit einer Reform des
Sexualstrafrechts wird häufig auf zwei Bundesgerichtsurteile
verwiesen.[27]
In beiden Fällen handelte der Beschuldigte offenkundig gegen den
Willen der betroffenen Frau, setzte jedoch (da mangels Widerstand der Frau
auch nicht notwendig) kein Nötigungsmittel ein. Damit fehlte es aber
an einem objektiven Tatbestandsmerkmal von Art. 190 StGB, weshalb jeweils ein
Freispruch ergehen musste. Anhand der uns übermittelten Fälle
wird ersichtlich, dass diese höchstrichterliche Rechtsprechung nicht
«veraltet» ist oder Ausnahmecharakter aufweist,[28]
sondern sie die Praxis der unteren Instanzen sowie der Staatsanwaltschaften
bestimmt. Diese Urteile stehen auch im Einklang mit der sonstigen
Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach der Beschuldigte den dem Opfer
«zumutbaren» Widerstand brechen müsse, damit sein Verhalten
unter Art. 189 und 190 StGB subsumiert werden kann.[29]
Zur Veranschaulichung nachfolgend ein Fall, bei dem die Beweisproblematik
keine entscheidende Rolle gespielt hat, sondern eine Einstellung deshalb
erging, weil das Verhalten des Beschuldigten nicht unter die aktuellen
Sexualstraftatbestände subsumiert werden konnte.
aa) Fall Nr. 1: Sachverhalt
Das 19-jährige Opfer wurde gemäss ihren Angaben vom
Lebensgefährten ihrer Mutter, den sie «Papi» nannte und der
seit dem 4. Lebensjahr für sie sorgte, geweckt. Er habe sich zu ihr
ins Bett gelegt und plötzlich angefangen, sie an den Brüsten zu
berühren. Dann habe er ihr zwischen die Beine gegriffen, sie im
Intimbereich zu streicheln begonnen. Er habe sie schliesslich auf den
Rücken gedreht, sie entkleidet und im Intimbereich geleckt. Sie habe
sich - aus Angst - nicht gewehrt, sondern schlafend gestellt und sich zwei,
drei Mal auf die Seite gedreht, um ihm zu vermitteln, dass sie die
sexuellen Handlungen nicht wollte. Der Beschuldigte war insofern
geständig, als er die sexuellen Handlungen (mehrheitlich) zugab, er
behauptete jedoch, das Opfer sei einverstanden und während des
Vorgangs erregt gewesen.
bb) Ausgang des Verfahrens
Obwohl auch die Staatsanwaltschaft davon ausging, dass trotz fehlender
Nötigungshandlung «nicht davon die Rede sein» könne,
dass das Opfer eingewilligt habe, sondern vielmehr durch die Handlungen des
Beschuldigten in ihrer sexuellen und psychischen Integrität (zumindest
zivilrechtlich) «schwer verletzt» worden sei, wurde das Verfahren
gegen den Beschuldigten eingestellt. Dessen Verhalten sei zwar
«verwerflich» und «persönlichkeitsverletzend»
gewesen, aber strafrechtlich nicht relevant.
Eine sexuelle Nötigung nach Art. 189 StGB liege nicht vor,
weil kein Nötigungsmittel eingesetzt worden sei. Der Beschuldigte habe
die junge Frau weder bedroht noch Gewalt angewendet und sie auch nicht zum
Widerstand unfähig gemacht. Auch das Vorliegen einer besonderen
Drucksituation (i.S. des Nötigungsmittels
«Unter-psychischen-Druck-Setzen») sei nicht ersichtlich.
Gemäss Aussagen der Beteiligten habe die Geschädigte
«es» vielmehr einfach über sich ergehen lassen, so dass der
Beschuldigte keinen Widerstand zu überwinden hatte. Auch eine
Strafbarkeit wegen eines anderen Sexualdelikts kam nicht in Betracht: Da
die junge Frau nicht tatsächlich geschlafen hatte und auch sonst nicht
widerstandsunfähig im Sinne von Art. 191 StGB war, liege keine
Schändung vor. Auch stelle das Verhalten keine versuchte
Schändung dar, da der Beschuldigte nach eigenen Angaben davon ausging,
dass die junge Frau während des Geschehens wach war. Verworfen wurde
auch der Tatbestand des Art. 193 StGB, da es am dafür
erforderlichen ausgeprägten Machtgefälle zwischen Opfer und
Beschuldigtem fehlte.
Eine mögliche Strafbarkeit nach Art. 198 StGB wurde nicht
thematisiert. Aufgrund der Angaben zum zeitlichen Ablauf der Geschehnisse
dürfte es aber am rechtzeitig gestellten Strafantrag gefehlt haben.
b) Nein heisst Nein?
In der aktuellen Debatte um eine Reform des Sexualstrafrechts wird
behauptet, dass «Nein» bereits heute «Nein» heisse,
mithin das Übergehen einer kommunizierten Ablehnung bereits heute von
Gerichten als Vergewaltigung gewertet würde.[30]
Die uns zugesandten Fälle zeigen, dass dem nicht so ist: Die
Staatsanwaltschaften und Gerichte kamen - in
Anlehnung an die bundesgerichtliche Rechtsprechung - jeweils zum Schluss,
dass das blosse Übergehen eines «Neins» oder das blosse
Handeln ohne Einwilligung gerade nicht für Art. 189 bzw. 190 StGB ausreicht: Dies wurde in
einem zweitinstanzlichen Urteil prägnant festgehalten:
Dieses Zitat widerspiegelt und präzisiert die oben erwähnte
Rechtsprechung, wonach ein entgegenstehender Wille, bzw. ein Widerstand des
Opfers, gebrochen werden müsse. Zwar werden an diesen
entgegenstehenden Willen keine sehr hohen Anforderungen gestellt - so kann
es etwa bereits genügen, dass das Opfer die Beine fest zusammenpresst,
so dass der Beschuldigte diese auseinanderdrücken muss.[32]
Trotz dieser relativ «opferfreundlichen» Auslegung bleibt es aber
dabei, dass vom Opfer der ihm vermeintlich «zumutbare» Widerstand
gefordert wird. Fehlt dieser, ist regelmässig kein
Nötigungsmittel erforderlich und der Tatbestand der Vergewaltigung
folglich nicht erfüllt. Die beiden folgenden Fallbeispiele zeigen dies
gut auf:
aa) Fall Nr. 2[33]: Sachverhalt
Der Beschuldigte versuchte während etwa 20 Minuten, seine Bekannte
nach zunächst einvernehmlichem «Rummachen» zum
Geschlechtsverkehr zu überreden und mit seinem Penis in sie
einzudringen. Dabei teilte sie ihm wiederholt mit, dass sie keinen
Geschlechtsverkehr haben möchte. Durch ihre abweisende
Körperhaltung gelang ihm das Eindringen zunächst nicht. Daraufhin
behauptete er ihr gegenüber, er habe sie nun entjungfert. Diese -
falsche - Mitteilung löste beim Opfer dann offenbar insofern eine
Reaktion aus, dass der Beschuldigte einigermassen überraschend in sie
eindringen und den Verkehr vollziehen konnte. Das Opfer wurde also
letztendlich - in den Worten des Gerichts - durch den Beschuldigten
«übertölpelt».
bb) Ausgang des Verfahrens
Das Obergericht sprach den Beschuldigten vom Vorwurf der Vergewaltigung
frei. Dessen Vorgehen (auch wenn er zum massgeblichen Zeitpunkt erst 16
Jahre alt gewesen sei) gegenüber einem 15-jährigen Mädchen
sei zwar «egoistisch, rücksichtslos, kaltherzig und eigentlich
niederträchtig» gewesen. Eine ausreichend erhebliche Einwirkung
auf die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung im Sinne einer
Nötigung gemäss Art. 190 Abs. 1 StGB liege jedoch
nicht vor. Dass der Beschuldigte das Opfer bedroht hätte, wurde ihm
nicht zur Last gelegt. Ebenso wenig habe er im fraglichen Zeitpunkt
(zusätzliche) Gewalt angewendet. Auch habe er sie nicht zum Widerstand
unfähig gemacht; das Opfer hätte Bett, Schlafzimmer und Wohnung
verlassen, schreien, oder den Beschuldigten wegweisen können. Diese
ihr «zumutbare» Widersetzung durch physische Gegenwehr oder
Flucht habe sie laut Gericht unterlassen. Die schamlose Ausnützung von
Gefühlen, das hartnäckige Überreden sowie die letztlich zum
Erfolg führende Täuschung seien zwar moralisch verwerflich,
erfüllten jedoch nicht den objektiven Tatbestand von Art. 190 StGB.
cc) Anmerkung
Der Freispruch erscheint mit Blick auf das geltende Recht und die
bundesgerichtliche Rechtsprechung korrekt: es fehlt objektiv an einem
Nötigungsmittel. Der Beschuldigte hat das Opfer aber nicht - wie es
das Gericht fälschlicherweise nennt - «getäuscht»,
sondern schlicht überrumpelt (er hat die täuschungsbedingte
Überraschung ausgenutzt und so seinen Penis einführen
können).
dd) Fall Nr. 3: Sachverhalt
Der Beschuldigte lernte das sich bei ihm als volljährig ausgebende
Opfer in einem Club kennen, seine Annäherungsversuche blieben
allerdings weitgehend erfolglos. Ein paar Wochen später trafen sich
die beiden wieder im selben Club. Diesmal führte er die sichtlich
angetrunkene junge Frau in den Darkroom des Clubs. Dort habe er sie nach
Angaben des Opfers zum Konsum von Kokain aufgefordert. Als sie danach die
Kabine verlassen wollte, habe er sie zunächst geküsst,
anschliessend ihren Oberkörper zurechtgerückt, sie leicht nach
vorne gebeugt und an den Armen und der Taille gehalten. So kam es zu
verschiedenen sexuellen Handlungen, zuletzt auch zu ungeschütztem
Geschlechtsverkehr. Das Opfer selber gab an, der Angeklagte habe keine
eigentliche Gewalt angewendet und sie auch nicht bedroht. Sie habe ihm aber
mehrmals klar gesagt, dass sie das nicht wolle und habe auch versucht, den
Beschuldigten am Oberkörper «ein wenig» wegzustossen.
Schliesslich habe sie das Ganze einfach über sich ergehen lassen, sie
habe nicht die Kraft gehabt, sich zu wehren. Das Gericht erachtete die
Aussagen des Opfers als glaubhaft und hielt im Urteil ausdrücklich
fest, dass es für den Beschuldigten «zweifellos» erkennbar
gewesen sei, dass er gegen den Willen des Opfers den Geschlechtsverkehr
vollzog.
ee) Ausgang des Verfahrens
Der Beschuldigte wurde vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen.
Aufgrund der «nahezu» fehlenden aktiven Abwehr habe es nur eine
geringfügige Kraftanstrengung des Beschuldigten gebraucht, womit die
erforderliche Intensität beim Nötigungsmittel «Gewalt»
nicht erreicht sei. Auch das Tatmittel des «Bedrohens» war nicht
gegeben und ebenso wenig dasjenige des
«Unter-psychischen-Druck-Setzens». Es habe weder eine soziale
noch eine körperliche Dominanz bestanden, welche dem Opfer
weitergehenden Widerstand unzumutbar gemacht hätte. Auch das
«Herbeiführen von Widerstandsunfähigkeit» als letztes
gesetzlich genanntes Tatmittel liege nicht vor.
Das Gericht erachtete auch Art. 193 StGB (Ausnützen
einer Notlage, ein mit maximal drei Jahren Freiheitsstrafe bedrohter und
damit bloss als Vergehen ausgestalteter Straftatbestand) als nicht
anwendbar. Es könne nicht von einer vorbestehenden Zwangslage
ausgegangen werden, die vom Beschuldigten ausgenutzt worden sei.
c) Art. 198 StGB als
Auffangtatbestand?
Es ergeben sich in der Lebenswirklichkeit also Fälle, in denen ein
(sexuell mündiges) Opfer ausdrücklich «Nein» sagt, die
sexuelle Handlung aber dennoch duldet, ohne sich körperlich zu wehren,
so dass der Täter keine Nötigungsmittel und insbesondere keine
Gewalt anwenden muss. Solche Übergriffe können im schweizerischen
Strafrecht - ein rechtzeitig gestellter Strafantrag vorausgesetzt - unter
Umständen hilfsweise als sexuelle Belästigung nach Art. 198 StGB mit Busse bestraft
werden. Dies ist etwa im folgenden Fall geschehen:
aa) Fall Nr. 4: Sachverhalt
Nach den als glaubhaft eingestuften Schilderungen des Opfers begann der
Beschuldigte, sie nach einem gemeinsamen Ausgang bei sich zuhause auf dem
Sofa zu streicheln und zu küssen. Nachdem sie den Kuss kurz erwiderte,
gab sie anschliessend zu verstehen, dass sie nicht mehr wolle. Der
Beschuldigte ignorierte ihre Äusserungen und öffnete
ihren BH. Sie sprang auf und sagte, sie wolle heimgehen. Er zog sie wieder
auf das Sofa und nach einem kurzen Gespräch näherte er sich ihr
erneut, und versuchte, ihr die Hose runterzuziehen, was ihm wegen des
Gurtes nicht gelang. Wiederum gelang es ihm, den BH und die Bluse zu
öffnen und er fing an, ihre Brüste zu küssen. Mit dem Ziel,
ihn von ihrem Busen fernzuhalten, begann sie, ihn auf den Mund zu
küssen und drehte sich von ihm weg. In dieser Position führte er
seine Hand in ihre Hose, worauf sie diese hinauszog. Er wiederholte dies
ein- oder zweimal, wobei es ihm gelang, das Opfer direkt an der Vagina
anzufassen und zu streicheln. Erneut sprang sie auf und forderte nochmals,
dass er sie gehen lassen sollte. Daraufhin fuhr er sie nach Hause.
bb) Ausgang des Verfahrens
Die Staatsanwaltschaft kam zum Schluss, dass die Schilderung des Opfers
glaubhaft war, dass jedoch die Tatmittel des Beschuldigten «nicht die
Intensität
erreicht haben, damit im Sinne von Art. 189 StGB von Bedrohung,
Gewaltanwendung, Unter-psychischen-Druck-Setzen oder
Zum-Widerstand-Unfähig-machen gesprochen werden kann.»
Anders gewendet: Das blosse (wissentliche) Übergehen einer Ablehnung
(Anfassen des Opfers an der Vagina, obwohl dieses mehrfach die Hand des
Beschuldigten aus ihrer Hose hinauszog) erfüllt den Tatbestand von Art. 189 StGB nicht. Das Verhalten
des Beschuldigten, welches laut Staatsanwaltschaft das «zulässige
Mass an Drängen» überschritten habe, wurde deshalb bloss als
tätliche
sexuelle Belästigung i.S.v. Art. 198 Abs. 2 StGB qualifiziert.
Anders als früher in Deutschland existiert in der Schweiz mit Art. 198 StGB also immerhin eine
Art Auffangtatbestand für alle nicht-einverständlichen sexuellen
Übergriffe.[34]
Zufriedenstellend ist diese Lösung allerdings nicht. Problematisch ist
dabei zum einen das Strafantragserfordernis, da es nicht allen Opfern
gelingt, sich innert drei Monaten zu einer Anzeige durchzuringen.[35]
Bedenklich ist zum anderen die damit verbundene Qualifikation des
Übergriffs als Übertretung und damit als blosse Bagatelle, die
lediglich mit Busse bestraft werden kann. Diese Einstufung und die
Bezeichnung eines Vorfalls als «Belästigung» mag bei weniger
eingriffsintensiven Zudringlichkeiten wie einem flüchtigen Anfassen
des Busens über den Kleidern gerechtfertigt sein, nicht jedoch, wenn
wie im obigen Fall eine Person gegen ihren Willen an den nackten
Geschlechtsteilen angefasst wird oder - wie in anderen Fällen - gar
penetriert wird.[36]
3. Kein Widerstand, kein Vorsatz, kein Sexualdelikt?
Eine zweite Fallgruppe umfasst Konstellationen, in denen der fehlende
Widerstand zusätzlich auf u.E. problematische Weise mit Fragen des
Vorsatzes verknüpft wird. So wird einem Beschuldigten aufgrund der
fehlenden, dem Opfer aber vermeintlich zumutbaren Gegenwehr bisweilen
zugestanden, dass er den entgegenstehenden Willen gar nicht erkannt habe.
So verhielt es sich etwa im Bundesgerichtsurteil 6B_311/2011 vom 19. Juli 2011. Die
Frau hatte den Beschuldigten mehrmals gebeten, sie in Ruhe zu lassen, sich
aber anschliessend nicht weiter zur Wehr gesetzt, sondern sich während
des Geschlechtsverkehrs still und reglos verhalten. Das Bundesgericht
schützte in diesem Urteil die Ansicht der Vorinstanz, «qu'au vu
du comportement de la recourante, l'intimé avait pu croire qu'elle
acceptait finalement d'entretenir une relation sexuelle furtive avec
lui.»[37]
Ähnlich verhielt es sich auch in einigen der uns zugesandten
Fälle, in denen das Opfer zwar seine Ablehnung manifestierte, der
Beschuldigte aber kein Nötigungsmittel anwenden musste und in der
Folge nicht nur der objektive, sondern auch - quasi vorsorglich - der
subjektive Tatbestand verneint wurde. Zur Veranschaulichung der folgende
Fall:
aa) Fall Nr. 5[38]: Sachverhalt
Das Opfer hatte den Beschuldigten während eines Aufenthalts in einer
Klinik kennengelernt, wo sie sich anfreundeten. Er besuchte sie dann einmal
bei ihr zu Hause. Zuerst seien sie auf dem Balkon gesessen und hätten
etwas Alkohol getrunken. Dort habe der Beschuldigte versucht, die Hand des
Opfers zu halten. Sie habe ihm diese mehrfach entzogen. Danach sei das
Opfer reingegangen und habe sich auf das Bett gelegt, weil sie sich nicht
gut gefühlt habe und der Beschuldigte habe sich neben sie gelegt. Nach
den Aussagen des Opfers habe sie auf der Seite gelegen und der Beschuldigte
habe sie auf den Bauch gedreht, ihr die Tops hochgeschoben und angefangen,
sie zu massieren. Sie habe zu ihm gesagt, er
solle aufhören. Er habe jedoch nichts erwidert und ungestört
weitergemacht. Danach habe der Beschuldigte ihr die Hosen und Unterhosen
ausgezogen. Der Beschuldigte führte dazu aus, er habe nicht gewusst,
ob sie damit einverstanden gewesen sei. Sie habe nicht klar gesagt, er
solle aufhören. Für ihn sei es ein «nein, aber…»
gewesen. Anschliessend habe er sie oral stimuliert. Danach sei er
hochgerutscht, so dass sein Glied in der Nähe des Intimbereichs des
Opfers zu liegen kam. Sie habe daraufhin versucht, ihn mit ganzer Kraft
wegzustossen, woraufhin er gefragt habe, was los sei. Er habe den
Geschlechtsverkehr nicht vollzogen, jedoch wiederum begonnen, sie im
Intimbereich zu berühren, woraufhin sie ins Badezimmer geflüchtet
sei. Von dort aus schrieb sie ihm eine Textnachricht, er solle nach Hause
gehen.
bb) Ausgang des Verfahrens
Nachdem die Staatsanwaltschaft das Verfahren zunächst einstellen
wollte, wurde nach einer erfolgreichen Beschwerde doch noch Anklage wegen
sexueller Nötigung, Vergewaltigung, evtl. sexueller Belästigung
erhoben. Das Gericht sprach den Beschuldigten letztendlich aber frei, da es
der Auffassung war, dass objektiv bereits das erforderliche
Nötigungsmittel fehle bzw. sich der Täter nicht über einen
genügend geäusserten Willen des Opfers hinwegsetzt habe. Das
Gericht erachtete es zudem als unklar, ob der Beschuldigte tatsächlich
wusste oder zumindest in Kauf nahm, dass sich das Opfer durch seine
Berührungen belästigt fühlte. An letzterem scheiterte
gemäss Angaben der Opfervertreterin auch eine Strafbarkeit wegen
sexueller Belästigung.
Die anzutreffende Praxis, dass auch in Konstellationen mit einer
ausdrücklichen verbalen Willensäusserung des Opfers dem
Beschuldigten zugestanden wird, er habe den entgegenstehenden Willen nicht
erkannt bzw. nicht erkennen können, ist problematisch. Zwar ist
unbestritten, dass die irrtümliche Annahme des Beschuldigten, das
Opfer sei mit den sexuellen Handlungen tatsächlich einverstanden
gewesen, ein Sachverhaltsirrtum ist und folglich den Vorsatz des
Täters entfallen lässt.[39]
Richtig ist auch, dass wer durch die (bewusste) Anwendung
eines Nötigungsmittels den Willen des Opfers beugt und dieses dadurch
zur Duldung einer sexuellen Handlung veranlasst, sich i.d.R. nicht auf
einen Irrtum und damit auf fehlenden Vorsatz berufen kann, wenn das Opfer
angesichts des Zwangs kooperiert.[40]
Denn hätte der Beschuldigte tatsächlich angenommen, das Opfer sei
einverstanden, wozu dann die Nötigung?[41]
In manchen Entscheiden wird nun aber augenscheinlich der problematische
Umkehrschluss gezogen, dass ohne die Anwendung eines Nötigungsmittels
- trotz entgegenstehender Willensäusserung - der ablehnende Wille des
Opfers für den Beschuldigten nicht erkennbar gewesen sei. Dieser
Umkehrschluss ist u.E. falsch: Nur weil der Beschuldigte kein
Nötigungsmittel wie Gewalt oder Bedrohung anwenden muss, bedeutet dies
nicht, dass er deshalb die fehlende Einwilligung nicht erkennen kann bzw.
erkannt hat. Sagt das Opfer explizit «Nein» oder ergibt sich die
fehlende Einwilligung sonst wie klar aus den Umständen, ist das
Vorbringen, der Beschuldigte sei doch irgendwie von einem
Einverständnis ausgegangen, wenig plausibel.[42]
Vielmehr ist davon auszugehen, dass dann das Übergehen des
entgegenstehenden Willens zumindest in Kauf genommen wurde.[43]
Der Umkehrschluss hat zudem eine bedeutsame Konsequenz: Denn gesteht man
einem Beschuldigten, der kein Nötigungsmittel anwenden musste, zu, er
habe trotz eines verbalen «Neins» den entgegenstehenden Willen
des Opfers nicht erkannt, so muss ihm dieser Irrtum zwangsläufig auch
in Bezug auf den «Auffangtatbestand» von Art. 198 StGB zugutegehalten
werden. Und damit bleibt das Verhalten im Ergebnis gänzlich straflos.
IV. Kritische Diskussion und
kriminalpolitische Einbettung
1. Materielles Recht als Hürde
Mit den Fallbeispielen ist aufgezeigt worden, dass eine strafrechtliche
Verfolgung von nicht-einverständlichen sexuellen Handlungen mitunter
auch am materiellen Recht scheitert. Das blosse Handeln gegen den Willen
bzw. ohne Einwilligung wird von Art. 189 bzw. 190 StGB nicht
erfasst. Der Auffangtatbestand der tätlichen sexuellen
Belästigung (Art. 198 Abs. 2 StGB) greift
erstens aufgrund des Strafantragserfordernisses nicht immer und erlaubt
zweitens keine adäquate Sanktionierung des begangenen Unrechts. So
berichteten denn auch mehrere Anwältinnen und Opferhilfeberaterinnen,
dass Opfer, die einen solchen
eingriffsintensiven «Übergriff ohne Nötigung» erlebt
haben, dieses «Ausweichen» auf Art. 198 StGB nicht nachvollziehen
können, die Einstufung ihres Übergriffs als blosse sexuelle
Belästigung mitunter sogar als Hohn empfinden. Dieses Bedürfnis
nach «fair labeling», d.h. das Bedürfnis, dass «widely
felt distinctions between kinds of offences and degrees of wrongdoing are
respected and signaled by the law, and that offences should be divided and
labeled so as to represent fairly the nature and magnitude of the
law-breaking»[44]
, ist nicht überraschend. Es spielt sowohl für Täter als
auch für die Opfer und auch für die gesamte Rechtsgemeinschaft
eben nicht nur eine Rolle, ob oder dass ein Täter überhaupt
verurteilt wird, sondern auch, gestützt auf welchen Tatbestand er verurteilt wird.[45]
Denn bereits die Bezeichnung der Tat und ihre systematische Einordnung im
Gefüge des Strafgesetzbuches gibt Aufschluss darüber, wie das
begangene Unrecht gesellschaftlich bewertet wird. Der Aspekt des «fair
labeling» spielt auch bei der Frage der geschlechterneutralen
Definition des Sexualstrafrechts eine wichtige Rolle - dies als blosse
Kosmetik[46]
abzutun, erscheint nicht sachgerecht.[47]
Hierauf wird später noch zurückzukommen sein.
Durch die Konzipierung des Vergewaltigungstatbestandes als
Nötigungsdelikt wird deutlich, dass der Gesetzgeber vom Opfer
grundsätzlich erwartet, dass es den ungewollten sexuellen Handlungen
Widerstand entgegensetzt, den der Täter mit den gesetzlich genannten
Nötigungsmitteln brechen muss. Damit wird die Verantwortung
dafür, ob ein sexueller Übergriff als erhebliches Unrecht
gewertet werden kann, zumindest partiell dem Opfer übertragen. Fehlt
dieser Widerstand, kommt eine Strafbarkeit wegen Art. 189 bzw. 190 StGB nur infrage, wenn
Umstände vorliegen, die dessen Fehlen «nachvollziehbar»
erklären - so etwa, wenn sich das Opfer in einer ausweglosen Lage
befand oder in einem eigentlichen «Klima der Gewalt» mit dem
Täter zusammenlebt o.ä.[48]
Diese nachträgliche, von Strafverfolgung und Gerichten vorgenommene
Bewertung, ob und inwieweit einem Opfer ein über eine eindeutige
Willensäusserung hinausgehender Widerstand zumutbar gewesen wäre,
ist problematisch. Denn damit wird verkannt, dass für viele Opfer ein
solcher Widerstand in der Realität schlicht nicht möglich ist[49]
- auch wenn dies für das urteilende Gericht hinterher nicht
nachvollziehbar oder nicht plausibel erscheinen mag.[50]
Hierbei wäre das Verständnis entscheidend, dass die sog. tonische
Immobilität eine normale biologische Reaktion des Opfers auf den von
ihm als Bedrohung wahrgenommenen Übergriff ist.[51]
Wenn nun aber eine Verfahrenseinstellung oder ein Freispruch u.a. damit
begründet wird, das Opfer habe den ihm «zumutbaren»
Widerstand unterlassen, weil es die (vermeintlich) verfügbaren Abwehr-
oder Fluchtmöglichkeiten nicht genutzt und sich bloss verbal
widersetzt habe, suggeriert dies dem Opfer, es habe eben doch eine Art
«Mitschuld» am sexuellen Übergriff. Aus der Opferforschung
ist bekannt, dass sich Opfer von Sexualdelikten ohnehin häufig
Vorwürfe machen, sich nicht «besser» gewehrt zu haben.[52]
Die Bewältigung des Übergriffs wird zusätzlich erschwert,
wenn ein Opfer im Urteil lesen muss, «dass es aufgrund der konkreten
Verhältnisse in
besagter Nacht nicht zum wiederholten Geschlechtsverkehr gekommen
wäre, wenn [das Opfer] den ihr zumutbaren Widerstand geleistet
hätte».[53]
2. Reformvorschläge
Dass Änderungsbedarf besteht und insbesondere Art. 198 StGB als
Auffangtatbestand unzureichend ist, wird mittlerweile auch in der Politik
zunehmend
anerkannt.[54]
Wie die notwendigen Änderungen umgesetzt werden sollen, ist
allerdings noch offen. Mehrere Varianten sind denkbar, wie Coninx und
Scheidegger anhand einer Auslegeordnung aufgezeigt haben.[55]
Zwei grundlegende Fragen stehen dabei im Vordergrund:
Zunächst muss geklärt werden, ob ein Vetomodell («Nein
heisst Nein») oder ein Zustimmungsmodell («Nur Ja heisst
Ja») Grundlage einer neuen Strafnorm sein soll. Das Vetomodell
könnte etwa mit der gesetzlichen Formulierung «Wer gegen den
Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser vornimmt
(…)» umgesetzt werden. Das Zustimmungsmodell hingegen würde
mit der Formulierung «Wer ohne Zustimmung einer Person einer anderen
Person sexuelle Handlungen an dieser vornimmt (…)» verankert. In
jenen Fällen, in denen ganz offensichtlich keine Zustimmung vorliegt
(überraschende oder unerwartete sexuelle Handlungen; explizites oder
konkludentes «Nein») dürfte das Kriterium der fehlenden
Zustimmung selbsterklärend sein. In weniger klaren Fällen, die
sich etwa im Rahmen einer (zunächst) einvernehmlichen sexuellen
Begegnung abspielen, würde sich die Zustimmungslösung kaum vom
Vetomodell unterscheiden. Denn in diesen Fällen wird auch die
Zustimmungslösung nicht zuletzt aus Gründen des Vorsatznachweises
erfordern, dass der Meinungsumschwung und damit das Fehlen einer
Zustimmung durch explizites oder zumindest konkludentes «Nein»
zum Ausdruck kommt. Um zu vermeiden, dass auch nach einer Reform des
Sexualstrafrechts das Widerstandserfordernis gewissermassen über den
subjektiven Tatbestand wieder hineingeschleust würde, indem der
Täterschaft bei Fehlen einer Nötigungshandlung wie oben dargelegt
regelmässig ein Irrtum zugestanden würde, wäre sicherlich
eine eingehende Auseinandersetzung mit den denkbaren Irrtumskonstellationen
notwendig.
In einem zweiten Schritt müsste entschieden werden, ob der angestrebte
Paradigmenwechsel durch eine Neudefinition insbesondere von 189 f. StGB, durch Einfügung
eines Grundtatbestandes bei Art. 189 f. StGB oder durch
Schaffung eines neuen, separaten Tatbestandes verwirklicht werden soll. Die
letzte Variante scheint deshalb attraktiv, weil damit die Abstufung zur
Vergewaltigung, wie sie heute definiert ist, klar beibehalten würde.
Die neuerdings vorgeschlagene Lösung, anstatt eines neuen Tatbestands
lediglich den Art. 198 StGB um
einen «schweren Fall» zu ergänzen und so einen neuen
Auffangtatbestand zu schaffen,[56]
überzeugt u.E. nicht. Art. 198 StGB ist auf verbale und
bagatellhafte körperliche Zudringlichkeiten wie etwa ein
flüchtiges «Grapschen» zugeschnitten, erheblichere sexuelle
Handlungen sollten daher in den vorangehenden Tatbeständen geregelt
sein. Würden auch Beischlaf oder sonstige Penetrationen gegen den
Willen einer Person bei der sexuellen Belästigung angesiedelt, so
überzeugt dies systematisch nicht und führt dazu, dass solche
Übergriffe den Anstrich eines blossen Bagatellunrechts behalten, was
nicht angeht.[57]
3. Falsche Versprechungen?
Die hier vorgeschlagene Reform des Sexualstrafrechts stiess vereinzelt auf
Kritik. StrafverteidigerInnen und PolitikerInnen wähnten nicht weniger
als die Grundprinzipien des Strafrechts und des Rechtsstaates in Gefahr.[58]
Auf sämtliche Punkte der Reformgegner detailliert einzugehen,
würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Nur so viel sei gesagt: Weder
wäre mit einer allfälligen Reform eine Beweislastumkehr
verbunden, noch würde die Unschuldsvermutung ausgehebelt.[59]
Gehaltvoller ist aber auf den ersten Blick der folgende Einwand: Gerade
weil keine Beweislastumkehr stattfindet und auch die Unschuldsvermutung
unangetastet bleibt, würde eine Reform nicht zu mehr Verurteilungen
führen. Man wecke deshalb «falsche Erwartungen».[60]
Natürlich darf nicht die Vorstellung heraufbeschworen werden, dass
nach einer Reform schon die blosse Behauptung, «Nein» gesagt zu
haben, in jedem Fall zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen
wird. Angesichts der beweisrechtlichen Verfahrenswirklichkeit ist damit zu
rechnen, dass auch künftig bei einander widersprechenden Aussagen
oftmals ein Freispruch ergehen muss, wenn keine Beweise für die
Anwendung eines Nötigungsmittel vorliegen. Dies dürfte auch den
meisten Opfern bewusst sein. Nach Erfahrung von Opferhilfeberaterinnen
erstatten aber nicht wenige Frauen Anzeige als wichtigen Schritt in ihrem
Verarbeitungsprozess, obwohl sie sich aufgrund der Beweisprobleme
wenig Hoffnung auf eine Verurteilung «ihres» Täters machen.[61]
Für diese Opfer macht es aber einen wesentlichen Unterschied, ob ein
Verfahren aufgrund mangelnder Beweisbarkeit eingestellt wird oder ob die
Einstellung mit dem Hinweis erfolgt, das Verhalten des Beschuldigten stelle
ohnehin kein erhebliches Unrecht dar.
Hinweise aus der Dunkelfeldforschung deuten darauf hin, dass sexuelle
Übergriffe - verstanden als nicht-einverständliche sexuelle
Handlungen - häufig vorkommen, ein Grossteil dieser Fälle jedoch
nie angezeigt wird.[62]
Die geringe Anzeigebereitschaft der Opfer liegt sicherlich einerseits darin
begründet, dass Opfer aus (falscher) Scham und/oder aus Furcht vor den
Belastungen eines Strafverfahrens auf eine Anzeige verzichten.[63]
Allerdings berichten Opferberaterinnen, dass mitunter auch die aktuelle
Rechtslage dazu beitrage, dass Opfer den erlebten sexuellen Übergriff
gar nicht erst anzeigen. Manche Opfer würden die juristische Beratung
als ernüchternd erleben, da ihnen dargelegt werde, dass die Gewalt,
die sie selber instinktiv als massive Verletzung ihrer sexuellen
Integrität einordnen, juristisch wegen der fehlenden
Nötigungshandlung wohl nicht als solche eingestuft würde.[64]
ExpertInnen von Opferhilfeberatungsstellen sind deshalb überzeugt,
dass eine Reform des Sexualstrafrechts Opfer in ihrer instinktiven
Wahrnehmung bestärken und letztlich dazu führen würde, dass
diese vermehrt Anzeige erstatten.[65]
Ganz zuletzt darf nicht vergessen werden, dass es in einzelnen Fällen
durchaus möglich wäre, die fehlende Einvernehmlichkeit des
Sexualkontakts nachzuweisen - etwa in Fällen, in denen der
Beschuldigte geständig ist oder der Vorfall etwa mittels Kamera
dokumentiert wurde.[66]
Erste Erfahrungen mit den neuen Regelungen etwa in Deutschland oder
Schweden zeigen denn auch, dass es durchaus zu Anklagen und Verurteilungen
kommt - wenn auch in überschaubarer Anzahl.[67]
Die Notwendigkeit oder Legitimation einer Strafnorm wird aber
bekanntlich nicht an der Anzahl der Verurteilungen gemessen.
[1]
Urteil des EGMR 39272/98
vom 4. Dezember 2003 (M.C. gegen Bulgarien), § 166.
[2]
Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
(Istanbul-Konvention), abgeschlossen in Istanbul am 11. Mai 2011 (SR 0.311.35).
[6]
Eingehend dazu Scheidegger (Fn. 3), Rn. 185 ff. unter Hinweis auf
Urteil des EGMR 8978/80
vom 26. März 1985 (X. und Y. gegen die Niederlande), §
23.
[7]
So bereits Brigitte Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht und
Vergewaltigungsbegriff, Diss. Berlin 1993, S. 86; eingehend
Scheidegger (Fn. 3), Rz. 26 ff.
[8]
Alan Wertheimer, Consent to Sexual Relations, Cambridge 2003, S.
31; Stuart Green, Lies, Rape, and Statutory Rape, in: A. Sarat
(Hrsg.), Law and Lies: Deception and Truth-Telling in the American
Legal System, Cambridge 2015, S. 211: «One of the principal
indicators for determining whether an individual's sexual autonomy
is respected is consent.»; eingehend auch Scheidegger (Fn. 3)
Rz. 40 ff. m.w.N.
[9]
Joachim Renzikowski, Lücken beim Schutz der sexuellen
Selbstbestimmung aus menschenrechtlicher Sicht, Stellungnahme in
der Anhörung zu dem Antrag «Artikel 36 der
Istanbul-Konvention umsetzen - bestehende Strafbarkeitslücken
bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen»,
BT-Drs. 18/1969, S. 4.
[10]
Urteil des EGMR 39272/98
vom 4. Dezember 2003 (M.C. gegen Bulgarien), § 166.
[11]
Vgl. Art. 36 Istanbul-Konvention (Fn. 2).
[16]
Vgl. BBl 2017 241, wonach
Artikel 36 der Istanbul-Konvention im schweizerischen Strafrecht
abgedeckt werde, kritisch dazu Gastbeitrag
StrafrechtsprofessorInnen (Fn. 3).
[17]
Eingehend Scheidegger (Fn. 3), Rz. 592 ff.
[18]
Kritisch Scheidegger (Fn. 3), Rz. 598 ff.
[19]
Vgl. Art. 41 sowie Art. 55 Istanbul-Konvention (Fn. 2); Scheidegger
(Fn. 3), Rz. 599 ff.
[20]
Vgl. dazu die Ausführungen im vorinstanzlichen Urteil des
Kantonsgerichts Wallis P1 08 66 vom 17. September 2009, E.
6.e.cc.bbb.: «Ihre Passivität erklärte sie damit,
dass sie über sein Verhalten schockiert gewesen sei (…)
bzw. ‹baff› (…). Sie sei sich wie eine Puppe
vorgekommen (…).»
[21]
Urteil des Bundesgerichts 6B_912/2009 vom 22.
Februar 2010 E. 2.1.4.; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 6B_1078/2009 vom 13.
Dezember 2010 E. 3.4.: «Zur Erfüllung der beschriebenen
Tatbestände [Art. 189 und 190 StGB] reicht ein fehlendes
Einverständnis (…) nicht aus.»
[22]
Insofern ist der von Jetzer/Gfeller (Fn. 4) geäusserte
Vorwurf, der Fall sei überhaupt nicht geeignet, die
problematische Rechtslage aufzuzeigen, nicht berechtigt.
[23]
Urteil des Kantonsgerichts Wallis P1 08 66 vom 17. September 2009,
E. 7.b.
[24]
Einige der Angefragten berichteten zwar von geeigneten Fällen,
verzichteten aber auf die Übermittlung, weil sie die
Klientinnen nicht erreichen konnten oder es nicht für
vertretbar hielten, sie erneut mit dem Fall zu konfrontieren.
Andere Opfer wurden zwar angefragt, baten aber darum, dass
«ihr» Fall nicht für die Publikation verwendet wird.
Diese Entscheidungen wurden selbstverständlich respektiert.
[25]
Dafür wurden die online zugänglichen Sammlungen der
zweitinstanzlichen Gerichte der Kantone Zürich,
Basel-Landschaft, Basel-Stadt, St. Gallen und Bern nach den
Stichworten «Art. 190 StGB» und
«Art. 189 StGB»
durchsucht, wobei der Zeitraum 2010 bis 2020 berücksichtigt
wurde.
[26]
Nicht verwendet wurden insbesondere die Fälle, in denen die
Vorgehensweise des Beschuldigten u.E. durchaus als
«Nötigung» i.S.v. Art. 189 und 190 StGB hätte
qualifiziert werden können.
[28]
Vgl. Aussage der interviewten Anwältin im Diskussionsbereich
zum Interview in der «Republik» (Fn. 4):«[E]s ist
überaus gefährlich, aufgrund eines
Bundesgerichtsentscheides, der bald 10-jährig ist, ein
Gesetz und strafrechtliche Prinzipien ändern zu wollen.»
[29]
Vgl. BGE 131 IV 167 E. 3.1
S. 170 f. mit Hinweisen; eingehend zum Ganzen auch Urteil des
Bundesgerichts 6B_302/2017
vom 25. Oktober 2017 E. 1.2.1: «Bei allen
Nötigungsmitteln ist eine erhebliche Einwirkung auf die
Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung erforderlich. (…) [Es
ist] zu berücksichtigen, dass Erwachsenen mit entsprechenden
individuellen Fähigkeiten in der Regel eine stärkere
Gegenwehr zuzumuten ist als Kindern.»
[30]
Vgl. Aussage Knodel im Interview in der «Republik» (Fn.
4): «Das gilt heute schon, nach dem geltenden
Sexualstrafrecht. Ein Nein ist ein Nein. Wenn jemand Nein sagt zur
sexuellen Handlung, darf sich der andere nicht darüber
hinwegsetzen. Die vorgeschlagene Änderung ist unnötig
(…).»
[31]
Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft 460 14 90 vom 16.
September 2014, S. 12 und 14.
[32]
Vgl. etwa Urteil des Bundesgerichts 6B_993/2013 vom 17. Juli
2014 E. 3.4.
[33]
Urteil des Obergerichts Zürich SB150361 vom 8. Februar 2016.
Das Gericht stützte seine rechtliche Bewertung massgeblich auf
die Aussagen des Opfers und merkte diesbezüglich an:
«Selbst wenn mit der Vorinstanz entgegen den Bestreitungen des
Beschuldigten vollumfänglich auf die Darstellungen der
Privatklägerin abgestellt wird, lässt sich daraus kein
nötigendes Verhalten des Beschuldigten ableiten, welches den
Tatbestand der Vergewaltigung erfüllen würde», vgl.
a.a.O. S. 13.
[34]
In Urteil des Bundesgerichts 6B_1076/2015 vom 13. April
2016 wurde in einem Fall eines offenkundig
nicht-einverständlichen Sexualkontakts eine Strafbarkeit nach Art. 193
«konstruiert». Diese «Lösung»
überzeugt jedoch nicht: Erstens lässt sich längst
nicht in jedem Fall ein Abhängigkeitsverhältnis oder eine
Notlage bejahen. Zudem soll Art. 193 StGB
typischerweise Fälle von sexuellen Übergriffen erfassen,
in denen das Opfer «widerwillig» eine Einwilligung
erteilt, vgl. dazu auch Urteil des Bundesgerichts 6B_69/2018 vom 11. Juni
2018 E. 5.1.
[35]
Eingehend dazu Reinhard Plassmann, Weshalb Opfer sexueller Gewalt
manchmal erst spät Anzeige erstatten, in: Gysi/Rüegger
(Hrsg.), Handbuch sexualisierte Gewalt. Therapie, Prävention
und Strafverfolgung, Bern 2018, S. 245 ff.
[36]
Eingehend Scheidegger (Fn. 3), Rz. 604 ff., 612. Kritisch zur
Erfassung des sog. «Stealthings» als blosse
Übertretung auch Mohamad El-Ghazi, Die strafrechtliche
Bewertung des sogenannten Stealthings, SJZ 115/2019, S. 675 ff.,
682. In Österreich, dessen Sexualstrafrecht bis 2016
ähnlich ausgestaltet war wie das schweizerische, wurde die
Einführung des neuen Tatbestandes
§ 205a A-StGB
«Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung» mit
ebendiesen Argumenten begründet, vgl. Erläuterungen zum Ministerialentwurf des
österreichischen Strafrechtsänderungsgesetzes 2015, 98/ME XXV.GP, S. 26.
[37]
Siehe Urteil des Bundesgerichts 6B_311/2011 vom 19. Juli
2011 E. 4.4.2
[38]
Schilderung und Begründung gemäss
Geschädigtenvertretung, da gegen das freisprechende Urteil
keine Berufung angemeldet wurde und keine schriftliche
Urteilsbegründung vorliegt.
[39]
Vgl. Art. 13 StGB. Mangels
Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bleibt ein solcher Täter
straflos, vgl. statt vieler Günter Stratenwerth/Guido
Jenny/Felix Bommer, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil 1:
Straftaten gegen Individualinteressen, 7. Aufl., Bern 2010, §
8 Rz. 15. Vgl. Kritik und Lösungsansätze etwa bei Tatjana
Hörnle, Der Irrtum über das Einverständnis des
Opfers bei einer sexuellen Nötigung, in: ZStW 112, 2000, S.
356 ff.; Günter Jerouschek, Der irrtumsgeneigte
Vergewaltigungstäter. Überlegungen zum Verhältnis
von § 177 und § 223 StGB und zur Auffangfunktion von
§ 230 StGB im Strafprozess, in: JZ 1992, S. 227 ff.
[40]
Vgl. Scheidegger (Fn. 3), Rz. 58, unter Hinweis auf Urteil des
Bundesgerichts 6B_278/2011
vom 16. Juni 2011 E. 3.3.3.
[41]
Vgl. Hörnle (Fn. 39), S. 357.
[42]
So auch Tatjana Hörnle: in Leipziger Kommentar,
Strafgesetzbuch, Bd. 6, 12. A., Berlin 2009, § 177 Rz. 127.
[43]
Vgl. dazu auch Urteil des Bundesgerichts 6B_267/2016 vom 15.
Februar 2017 E. 5.2.
[44]
Andrew Ashworth/Jeremy Horder, Principles of Criminal Law, 7.
Aufl., Oxford 2013, S. 77; dieser Auffassung folgend auch Stuart
Green, Consent and the Grammar of Theft Law, in: Cardozo Law
Review, 6/2007, S. 2505 ff., 2516 f.
[45]
Vgl. zum Ganzen James Chalmers/Fiona Leverick, Fair labelling in
criminal law, in: Modern Law Review, 2/2008, S. 217 ff., 226.
[46]
So aber Marcel A. Niggli/Stefan Maeder, Beischlaf, parlamentarische
Vorstösse und andere erregende Dinge, in: AJP 2016/9, S. 1159
ff., 117; ähnlich im Zusammenhang mit der hier geforderten
Reform auch Ständerat Jositsch in der Sendung «club»
vom 28. Januar 2020,
Sexualstrafrecht - Wenn ein «Nein» nicht reicht.
[47]
Eingehend dazu Scheidegger (Fn. 3), Rz. 655 ff.
[48]
Vgl. etwa Urteil des Bundesgerichts 6B_298/2008 vom 1. Juli
2008, wo eine solche «ausweglose Situation» bejaht wurde,
da die «Wehrfähigkeit» des Opfers aufgrund einer
starken psychischen und physischen Belastung herabgesetzt gewesen
sei.
[49]
Eingehend dazu etwa Veronique Valliere, Understanding Victims of
Interpersonal Violence: A Guide for Investigators and Prosecutors,
New York 2020, S. 133 ff. mit Hinweisen; Anna Möller/Hans
Peter Söndergaard/Lotti Helström, Tonic immobility during
sexual assault - a common reaction predicting post-traumatic stress
disorder and severe depression, in: Acta Obstetricia et
Gynecologica Scandinavica, 2017, S. 932 ff.
[50]
Problematisch deshalb die Ausführungen von Jetzer/Gfeller (Fn.
4), wonach die Frau im
vieldiskutierten Urteil des Bundesgerichts 6B_912/2009 vom 22.
Februar 2010 «eben gerade nicht wie ‹wie
gelähmt›» gewesen sei. Die Lektüre des
zweitinstanzlichen Urteils (Fn. 23) zeigt nämlich, dass die
Frau schockiert war und sich «wie eine Puppe» vorgekommen
sei, was durchaus auf eine Schockstarre hindeuten könnte.
[51]
Möller/Söndergaard/Helström (Fn. 49), S. 936.
[52]
Vgl. Jan Gysi, Fünf Konzepte zur Veranschaulichung komplexer
Dynamiken bei sexualsierter Gewalt; in: Gysi/Rüegger (Hrsg.),
Handbuch sexualisierte Gewalt. Therapie, Prävention und
Strafverfolgung, Bern 2018, S. 77 ff.
[53]
Urteil des Kantonsgerichts Wallis P1 08 66 vom 17. September 2009
E. 6.e.cc.bbb.
[56]
So augenscheinlich das Ansinnen von Ständerat Jositsch (Fn.
46).
[57]
Kritisch zu dieser Lösung auch bereits Coninx/Scheidegger (Fn.
55), S. 7.
[59]
Vgl. dazu die klaren Ausführungen des obersten schwedischen
Gerichts zum neuen Sexualstrafrecht im Urteil Nr. B 1200-19 vom
11. Juli 2019, Rz. 16.
[60]
So Jetzer/Gfeller (Fn. 4).
[61]
Vgl. das Statement eines Opfers in
der Sendung Input vom 18. Oktober 2018: «Ich weiss, dass es
kein gerechtes Ende geben wird. Ich werde nicht gewinnen. Das ist
so gut wie nie der Fall. Ich muss es tun, weil es mir das
Gefühl gibt, alles getan zu haben, was in meiner Macht steht
(…).»
[62]
Vgl. gfs.bern,
Befragung sexuelle Gewalt an Frauen im Auftrag von Amnesty
International Schweiz, vom 17. Mai 2019, wonach 12% der befragten Frauen seit ihrem 15.
Lebensjahr Geschlechtsverkehr gegen den Willen erlebt haben. Eine
EU-weite
Untersuchung
ermittelte ebenfalls hohe Prävalenzraten, vgl. Agentur der
Europäischen Union für Grundrechte,
Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung - Ergebnisse auf
einen Blick, 2014, S. 9: «Jede zehnte Frau hat seit ihrem 15. Lebensjahr
irgendeine Form der sexuellen Gewalt erfahren und jede zwanzigste
Frau ist, seit sie 15 war, vergewaltigt worden.» Gemäss
der gfs-Befragung, S. 16, haben nur 8% der Befragten, die sexuelle
Gewalt erfahren haben, Anzeige erstattet. In einer Befragung des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zur Lebenssituation,
Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland
(2005), S. 208, zeigte sich ein ähnliches Bild. Eingehend zum
Forschungstand Angelika Treibel/Dieter Dölling/Dieter Hermann,
Das Anzeigeverhalten Betroffener sexueller Übergriffe, in:
Wazlawik et al. (Hrsg), Sexuelle Gewalt in pädagogischen
Kontexten - Aktuelle Forschungen und Reflexionen, Wiesbaden 2019,
S. 125 ff. Eingehend auch Klaus Laubenthal, Kriminologische Aspekte
zu Vergewaltigung und sexueller Nötigung - unter besonderer
Berücksichtigung des Auseinanderfallens von Strafanzeigen und
Verurteilungen. Stellungnahme im
Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht
vom 19. Juli 2017, S. 1128 ff.
[63]
Vgl. eingehend Treibel/Dölling/Hermann (Fn. 62), S. 128 ff.;
Befragung gfs.bern (Fn. 62), S. 16 f.
[64]
Vgl. auch Christian Diesen/Eva Diesen, Sex crime legislation:
Proactive and anti-therapeutic effects, in: International Journal
of Law and Psychiatry, 2010, S. 329 ff., 331, wonach sich eine
Rechtslage wie die schweizerische dahingehend auswirken könne,
dass sie Opfern Anlass gebe, «to distrust society [and] the
legal system.» Vgl. auch Sarah Seifarth/Heike Ludwig,
Dunkelfeld und Anzeigeverhalten bei Delikten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung. Ergebnisse einer Untersuchung zur Erforschung von
Anzeigemotivation und Anzeigeverhalten bei sexueller Nötigung
und Vergewaltigung, Monatsschrift für Kriminologie und
Strafrechtsreform 5/2016, S. 237 ff., wonach durch
«Reformierungen» des Strafgesetzbuches grds. das
Vertrauen in das Rechtssystem gestärkt und damit die
Anzeigebereitschaft erhöht werden könnte..
[66]
Vgl. beispielsweise das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen ST.2016.105 vom 22. August
2017.
[67]
Die Berliner Oberstaatsanwältin Ines Karl spricht von
«wenigen Urteilen», vgl. Lisa-Marie Leuteritz,
Was der «Nein heißt Nein»-Paragraph verbessert
hat - und was nicht, in: Hannoversche Allgemeine vom 25. November 2018; in Schweden
wurden für das Programm I lagens namn [«Im
Namen des Gesetzes»] 60 Verurteilungen analysiert, die seit
der Reform ergangen sind, wobei sich zeigte, dass das neue Gesetz
in sieben Fällen entscheidend war, wobei einer der Fälle
eine sog. «unachtsame» Vergewaltigung betraf.