I. Prozessgeschichte und Erwägungen des Bundesgerichts
Im Vorfeld der Grossratswahlen von 2018 verteilte die Bündner Regierung im September 2017 die Sitze auf die Wahlkreise.[1] Dagegen führten 54 Private und fünf politische Parteien Beschwerde sowohl vor dem kantonalen Verwaltungsgericht in seiner Funktion als Verfassungsgericht als auch vor Bundesgericht.[2] Die Beschwerdeführer forderten, dass die zuständigen Behörden des Kantons in einem Appellentscheid aufzufordern seien, das Wahlsystem verfassungskonform zu gestalten. Nachdem das Verwaltungsgericht Graubünden einen Nichteintretensentscheid gefällt hatte,[3] trat das Bundesgericht auf die Sache ein und fällte einen teilweise gutheissenden Entscheid. Die Beschwerden stellten nach 2014 den zweiten Versuch dar, das Bündner Wahlsystem für verfassungswidrig erklären zu lassen.[4]
Das Urteil setzt sich wie folgt zusammen: Nach Ausführungen zu den Eintretensvoraussetzungen, insbesondere zum Nichteintretensentscheid des Bündner Verwaltungsgerichts (E. 1), beschreibt das Bundesgericht das Bündner Wahlsystem (E. 3.1-3.4) und wiederholt die Bedenken bezüglich dieses Systems anlässlich der Gewährleistung der KV/GR[5] 2004 (E. 3.5). Es folgen Erwägungen zu den Anforderungen an kantonale Parlamentswahlen (E. 4) sowie zur Zulässigkeit der inzidenten Kontrolle von Normen in Kantonsverfassungen (E. 5). Schliesslich setzt sich das Bundesgericht mit den Rügen der Beschwerdeführer zur Sitzverteilung auf die Wahlkreise (E. 6), zur Stimmkraftgleichheit (E. 7) und zur Erfolgswertgleichheit (E. 8) auseinander.
Neben der Verletzung der Bundesverfassung[6] durch das GRG/GR[7] rügen die Beschwerdeführer auch die Verfassungswidrigkeit von Art. 27 Abs. 2 und 4 KV/GR.[8] Das Bundesgericht setzt sich zunächst mit der Frage auseinander, ob es berechtigt ist, diese Bestimmungen der Kantonsverfassung auf ihre Konformität mit der Bundesverfassung zu prüfen, ob es also eine inzidente Normenkontrolle vornehmen darf. Nach gefestigter Praxis überprüft das Bundesgericht Bestimmungen von Kantonsverfassungen nur, «wenn das übergeordnete Recht im Zeitpunkt der Gewährleistung noch nicht in Kraft war oder sich seither in einer Weise weiterentwickelt hat, der es Rechnung zu tragen gilt».[9] Diese Voraussetzungen erachtet das Bundesgericht in Bezug auf Art. 27 Abs. 2 KV/GR als erfüllt, zumal sich das Wahlrecht durch die verschiedenen höchstrichterlichen Urteile seit 2002 wesentlich verändert habe.[10] Daher über-prüft das Bundesgericht neben den kantonalen gesetzlichen Bestimmungen zum Wahlrecht auch die entsprechenden Verfassungsbestimmungen.[11]
In Erwägung 6 setzt sich das Bundesgericht mit der Rüge auseinander, die Vorschriften zur Verteilung der Sitze auf die Wahlkreise verletzten die Rechtsgleichheit. Diesbezüglich fordern die Beschwerdeführer, dass die Sitze entsprechend der gesamten Wohnbevölkerung verteilt werden und nicht nur gestützt auf die Schweizer Wohnbevölkerung (vgl. Art. 27 Abs. 4 KV/GR).[12] Das Bundesgericht liess die Frage der Zulässigkeit einer Normenkontrolle offen, da es ohnehin keinen Anlass sah, seine bisherige Rechtsprechung zu überdenken. Es ist also den Kantonen weiterhin erlaubt, für die Sitzverteilung auf die gesamte Wohnbevölkerung, die schweizerische Wohnbevölkerung oder auf die Stimmberechtigten abzustellen. Die Verteilung der Sitze auf die Bündner Wahlkreise anhand der Schweizer Wohnbevölkerung erachtet das Bundesgericht somit als verfassungskonform.[13]
In der folgenden Erwägung 7 prüft das Bundesgericht eine Verletzung der Stimmkraftgleichheit.[14] Es stellt den neuen Richtwert auf, dass Abweichungen der Wahlkreisgrösse von bis zur Hälfte der durchschnittlichen Repräsentationsziffer[15] aller Wahlkreise grundsätzlich rechtfertigbar seien. Wahlkreise, die wie z.B. Avers höhere Abweichungen aufweisen, seien nicht mehr verfassungskonform, zumal sie sich auch nicht mehr auf ihre Autonomie berufen könnten.[16]
Schliesslich setzt sich das Bundesgericht mit einer möglichen Verletzung der Erfolgswertgleichheit auseinander. Dabei geht es auf die dem Mehrheitswahlverfahren inhärenten Probleme der Verwirklichung der Erfolgswertgleichheit ein und hält fest, dass die Parteizugehörigkeit auch in solchen Wahlsystemen von Bedeutung sei.[17] Daher sei es problematisch, dass die realen Parteistärken nicht im Parlament widergespiegelt würden. All dies bedeute aber noch nicht, dass das System verfassungswidrig sei.[18] Der Erfolgswertgleichheit sei in reinen Majorzsystemen weniger Gewicht beizumessen als in gemischten Systemen. Abweichungen seien dann gerechtfertigt, wenn die Bedeutung der Parteizugehörigkeit offenkundig in den Hintergrund rücke.[19] Dies sei vermutungsweise in allen Wahlkreisen ausser den sechs grössten mit über 7000 Schweizer Einwohnern der Fall.[20] In den sechs grössten Wahlkreisen könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Kandidierenden einer Mehrzahl von Wählerinnen persönlich bekannt seien, womit die Anwendung des Majorzsystems in diesen Wahlkreisen verfassungswidrig sei.[21]
Nicht gefolgt ist das Bundesgericht der Argumentation der Beschwerdeführer, es seien Einerwahlkreise einzuführen. Mit einer solchen Vorschrift würde zu stark in die kantonale Autonomie eingegriffen, wofür keine gesetzliche oder verfassungsrechtliche Grundlage bestehe.[22]
II. Würdigung
1. Verfassungspolitisches Vorspiel
Die Bündner Kantonsverfassung wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts totalrevidiert und 2004 vom Bund gewährleistet.[23] Bereits damals äusserte der Bundesrat Bedenken, dass das Wahlsystem für den Grossen Rat im Lichte der Wahlrechtsgleichheit problematisch sei. Nichtsdestotrotz wurde die Kantonsverfassung gewährleistet, weil eine Praxisänderung nicht ohne Vorankündigung vorgenommen werden sollte.[24] Zur Botschaft des Bundesrats äusserte sich insbesondere die Staatspolitische Kommission des Ständerats kritisch und betonte die weitgehende Autonomie der Kantone bei der Ausgestaltung ihres Wahlsystems.[25] Hierzu ist zu bemerken, dass das Bündner Volk bereits mehrmals zur Frage Stellung genommen hatte, ob es ein Majorz- oder ein Proporzsystem bevorzuge. Die Entscheidung fiel dabei immer zugunsten des Majorzsystems aus.[26] Die Bundesversammlung hütete sich also damals davor, gegenüber Graubünden ein Majorzverbot auszusprechen.[27] Vor diesem Hintergrund ist auch das Urteil des Bundesgerichts durchaus brisant. Zwar spricht es kein Majorzverbot aus, doch stellt sich das Bundesgericht gegen den Willen der Bündner Bevölkerung, das bestehende Wahlsystem beizubehalten.
Zwischen der Gewährleistung der Bündner Kantonsverfassung 2004 und der Einreichung der vorliegenden Beschwerde ergingen verschiedene Urteile des Bundesgerichts zu kantonalen Wahlsystemen, namentlich zu Proporzsystemen und zu Mischsystemen, nicht aber zu reinen Majorzsystemen, wie es neben Graubünden nur noch der Kanton Appenzell I.Rh. kennt.[28] Das Bundesgericht bildete die Kriterien für kantonale Parlamentswahlverfahren so stark fort, dass zahlreiche Kantone ihre Wahlverfahren anpassen mussten oder dies im Lichte der neuen Rechtsprechung freiwillig taten. Die Rechtsprechung erfuhr teils starke Kritik, mitunter vonseiten der Kantone.[29] Die Kritik manifestierte sich schliesslich in der Einreichung zweier Standesinitiativen,[30] die die Freiheit der Kantone in der Festlegung ihrer Wahlsysteme ausdrücklich in die Bundesverfassung schreiben wollten.[31] Wären diese Initiativen nicht in der Schlussabstimmung abgelehnt worden,[32] hätte das Bündner Wahlsystem in der aktuellen Form mit grosser Wahrscheinlichkeit überlebt und die vorliegende Beschwerde wäre abgewiesen worden.
Es ist also zu vermuten, dass das verfassungspolitische Vorspiel der letzten zwei Jahre einen Einfluss auf den Entscheid hatte, auch wenn dieses im Urteil keine Erwähnung findet. Im Vergleich zu den vorangehenden Entscheiden auferlegt sich das Bundesgericht denn auch eine gewisse Zurückhaltung. Dies ist richtig, denn besonders bei kantonalen Wahlverfahren sollen die kantonalen Eigenheiten Eingang in die Ausgestaltung der Wahlsysteme finden können.[33] Das Bundesgericht hat lediglich die Schranken der Verfassungsmässigkeit festzustellen - und nicht mehr.[34]
Vor diesem Hintergrund ist zu begrüssen, dass den genannten Standesinitiativen keine Folge geleistet wurde. Die Verfassungsänderung wäre schliesslich nur für wenige Kantone von Relevanz gewesen, da die restlichen Kantone ihre Wahlsysteme bereits überarbeitet haben.[35] Ihr Ziel, die extensive Rechtsprechung des Bundesgerichts einzudämmen, scheinen die Initiativen dennoch nicht komplett verfehlt zu haben.
2. Zulässigkeit der Überprüfung der Kantonsverfassung
Das Bundesgericht überprüfte im vorliegenden Entscheid Art. 27 Abs. 2 KV/GR und führte damit eine inzidente Normenkontrolle durch. Dies durfte es nur deshalb, weil sich seit der Gewährleistung durch den Bundesgesetzgeber einerseits die Gegebenheiten im Kanton (Gebietsreform)[36] geändert hatten, und andererseits, weil es seither die Kriterien zu den Wahlsystemen in verschiedenen Urteilen signifikant fortgebildet hatte.[37] Allerdings ist festzuhalten, dass der vorliegende Entscheid wohl auch ohne die Normenkontrolle gleich ausgefallen wäre. Der einschlägige Art. 27 Abs. 2 KV/GR sieht nämlich lediglich vor, dass für die Parlamentswahlen das Mehrheitswahlverfahren anzuwenden ist. Die grundsätzliche Verfassungsmässigkeit von Majorzwahlen hat das Bundesgericht richtigerweise nicht infrage gestellt.[38] Vielmehr ist es die konkrete Ausgestaltung der Wahlen - und diese wird auf Gesetzesstufe geregelt -, die das Bündner Wahlsystem verfassungswidrig macht.
3. Die Hauptprobleme des Bündner Wahlsystems
a) Verletzung der Stimmkraftgleichheit
Probleme mit der Stimmkraftgleichheit treten dort auf, wo unterschiedlich grosse Wahlkreise gebildet werden. Dabei sind die grössten Ungleichheiten in der Stimmkraft in der Regel Sitzgarantien zuzuschreiben. Aber auch bei Wahlkreisen, die mehr als einen Sitz zu vergeben haben, können teils erhebliche Ungleichheiten entstehen.[39] In seinem Entscheid geht das Bundesgericht überwiegend auf die Verzerrungen durch Sitzgarantien ein und erwähnt die mehrsitzigen Wahlkreise lediglich am Rande.[40]
Schon in früheren Urteilen akzeptierte das höchste Gericht Einschränkungen der Stimmkraftgleichheit bei Vorliegen sachlicher Gründe.[41] Als sachlicher Grund wurde die Autonomie einer Gemeinde erachtet.[42] Ob weitere sachliche Gründe eine Einschränkung rechtfertigen können, blieb bisher ungeklärt. Ebenfalls offen war, wo die Grenze der zulässigen Abweichungen von der Stimmkraftgleichheit liegt.[43]
Das Bundesgericht hält bezüglich der in Art. 2 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 GRG/GR vorgesehenen Sitzgarantien fest, dass diese, anders als in den Fällen Uri und Schwyz, nicht dazu dienten, mit Autonomie ausgestatteten Gemeinden zu einer Repräsentation im Kantonsparlament zu verhelfen. Es begründet dies damit, dass die Sitzgarantien in Graubünden zugunsten von Kreisen - Überbleibsel aus der Zeit vor der Gebietsreform - und nicht von Gemeinden gehen.[44] Dies allein genügt gemäss Bundesgericht aber noch nicht, um die Sitzgarantien für verfassungswidrig zu erklären. Die Sitzgarantien sind im Ergebnis erst dann mit Art. 34 BV unvereinbar, wenn sie zu erheblichen Verzerrungen der Stimmkraftgleichheit führen.
Das Bundesgericht bringt fast unbemerkt eine neue Vorgabe ins Spiel: Als Richtwert sei für die minimale Wahlkreisgrösse in Majorzsystemen von der Hälfte der durchschnittlichen Repräsentationsziffer auszugehen.[45] Es lässt für diesen Richtwert nicht nur eine Begründung vermissen, auch Bezüge auf Ansichten der Lehre sucht man vergebens. Diese Vorgabe ist erstaunlich zurückhaltend: Die Lehre akzeptierte bis anhin nur Abweichungen von bis zu 15 % des mittleren Vertretungsanspruchs im Parlament.[46] Bei der nun vom Bundesgericht gemachten Vorgabe resultieren zulässige Abweichungen von deutlich über 50 %.[47]
Die höchstrichterliche Kulanz geht sogar so weit, dass die Einteilung der Kreise Belfort und Rheinwald als verfassungskonform akzeptiert wird, obwohl sie (wenn auch nur sehr knapp) unter dem vorgegebenen Richtwert zu liegen kommen.[48] Dies aufgrund des «Umstands, dass die historisch gewachsene Wahlkreiseinteilung nicht ohne Vorliegen gewichtiger Gründe als verfassungswidrig bezeichnet werden kann, sowie aus Gründen der Praktikabilität».[49] Aber ist der Umstand, dass mit der Gebietsreform genau diese historisch gewachsenen Kreise abgeschafft wurden, nicht gerade solch ein gewichtiger Grund? Beim Wahlkreis Avers jedenfalls brachte das Bundesgericht gerade dieses Argument zur Begründung vor.[50] Dass dem Bundesgericht bei seiner Argumentation nicht ganz wohl ist, wird am anschliessenden obiter dictum ersichtlich: Wenn sich die Einwohnerzahl in den Wahlkreisen Belfort und Rheinwald deutlich verringern sollte und sie damit deutlich kleiner als die durchschnittliche Repräsentationsziffer würde, wären auch diese Wahlkreise nicht mit Art. 34 Abs. 2 BV vereinbar.[51] Aber selbst für solche Fälle bringt das Bundesgericht den Vorbehalt an, dass in besonderen Situationen und bei Vorliegen gewichtiger Gründe ein Wahlkreis dennoch verfassungskonform sein könnte.[52] Damit wird die verfassungsrechtliche Grenze für die minimale Wahlkreisgrösse freilich noch weiter nach unten geschraubt.
Somit gilt für Majorzsysteme (neu): Sitzgarantien sind verfassungskonform, auch wenn sie nicht dazu dienen, mit Autonomie ausgestattete Gemeinden im Parlament zu repräsentieren. Verfassungswidrig sind sie erst dann, wenn sie den Richtwert von Abweichungen von 50 % von der durchschnittlichen Repräsentationsziffer deutlich überschreiten - vorbehältlich «besondere[r] Situationen, in denen gewichtige sachliche Gründe ausnahmsweise für die Beibehaltung eines bestimmten Wahlkreises trotz zu geringer Wohnbevölkerung sprechen würden».[53] Fraglich ist im Lichte dieser neuen Rechtsprechung, bis zu welcher Grenze das Bundesgericht künftig Abweichungen vom Richtwert bei Wahlkreisen, die sich auf ihre Autonomie oder andere gewichtige sachliche Gründe berufen können, akzeptieren wird.
Es ist zu bedauern, dass der vom Bundesgericht aufgestellte Richtwert derart hoch ist. Auch wenn die exzessivsten Abweichungen der Stimmkraft für den Wahlkreis Avers (zwölffache Stimmkraft!) verhindert wurden, bleibt die Stimmkraft einer Wählerin beispielsweise in Belfort fast dreimal so gross wie diejenige eines Wählers in Churwalden. Es ist nicht ersichtlich, warum Verzerrungen der Stimmkraftgleichheit in so hohem Masse auch bei Wahlkreisen hinzunehmen sind, die sich nicht auf eine besondere Autonomie stützen können und teilweise sogar Gegenstand von Gerrymandering[54] werden. Dazu kommt, dass auch in mehrsitzigen Wahlkreisen erhebliche Ungleichheiten resultieren können, ohne dass diese auf Sitzgarantien zurückzuführen wären.[55] Diese Problematik hat das Bundesgericht entweder ausser Acht gelassen, oder aber einfach akzeptiert.[56] Es wäre wünschenswert gewesen, hätte sich das Bundesgericht für die Festsetzung der maximal zulässigen Verzerrungen der Stimmkraft an der Lehre[57] orientiert. Freilich dürfte es sich dabei nicht um starre Grenzen handeln. Vielmehr muss anhand des jeweiligen Einzelfalls eruiert werden, ob eine stärkere Verzerrung aufgrund sachlicher Gründe zu rechtfertigen ist.
Ebenfalls unterliess es das Bundesgericht in Erwägung zu ziehen, dass seit der Gebietsreform eine Sitzgarantie auf Verfassungsstufe nicht mehr vorgeschrieben ist (Art. 27 Abs. 3 KV/GR e contrario). Die Kantonsverfassung schreibt nur noch vor, dass höchstens 39 Wahlkreise gebildet werden können. Auch das deutet daraufhin, dass die Autonomie der einzelnen Wahlbezirke weiter an Bedeutung verliert und eine einfachere Neueinteilung der Wahlkreise ermöglicht werden sollte.
b) Verletzung der Erfolgswertgleichheit
Bisher pochte das Bundesgericht trotz Einwänden aus der Lehre[58] darauf, dass die Erfolgswertgleichheit als Teilgehalt der Wahlrechtsgleichheit auch bei Majorzwahlverfahren zu beachten ist. Diese Rechtsprechung führt es im vorliegenden Urteil weiter und überträgt sie mit gewissen Einschränkungen auf reine Majorzsysteme.
Das Bundesgericht beschäftigt sich in seinen Überlegungen zur Erfolgswertgleichheit überwiegend mit der Bedeutung der Parteizugehörigkeit in Majorzsystemen. Mithin sei die Parteizugehörigkeit auch in Majorzwahlverfahren von Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erachtet das Bundesgericht die bei Majorzsystemen auftretende ungenaue Abbildung der Parteistärken im Parlament als problematisch.[59] Allerdings sieht es die Einschränkung der Erfolgswertgleichheit in Majorzwahlkreisen weiterhin als zulässig an, wenn die Persönlichkeit und nicht die Parteizugehörigkeit der Kandidierenden für die Wahl ausschlaggebend ist. In solchen Fällen «können die Vorteile des Majorzprinzips grösser sein als seine Nachteile»[60]; dann trete auch das Gebot der proportionalen Abbildung im Parlament in den Hintergrund. Dies sei dann wahrscheinlicher, wenn es sich um kleine Wahlkreise handelt, wenn sich das politische und gesellschaftliche Leben dezentralisiert abspielt und wenn Wähler und Kandidaten stark in ihrem Wahlkreis verwurzelt sind.[61] Diese Kriterien sind bekannt und wurden - wie erwartet - von der Rechtsprechung zu Mischsystemen auf die neue Rechtsprechung zu reinen Majorzsystemen übertragen.
Zusätzlich lässt es das Bundesgericht nun zu, dass bei reinen Majorzsystemen die Erfolgswertgleichheit noch weiter in den Hintergrund tritt.[62] Dies rechtfertige sich vor dem Hintergrund des bewussten Entscheids des Kantons gegen ein Verhältniswahl- oder Mischsystem. In solchen Fällen genüge es bereits, wenn zumindest wahrscheinlich ist, dass die Zugehörigkeit zu einer Partei nicht zu stark im Vordergrund steht, sondern vielmehr die Persönlichkeit des Kandidaten von einer gewissen Bedeutung ist.[63] Nach Ansicht des Bundesgerichts rechtfertigt sich ein reines Majorzsystem also nur dann nicht, wenn die Parteizugehörigkeit aus Sicht der Wählenden eine offensichtlich dominierende Rolle spielt. Als Grund für dieses weitere Zurücktreten der Erfolgswertgleichheit führt das Bundesgericht nota bene die Beachtung der kantonalen Autonomie nach Art. 39 Abs. 1 BV an und nicht den Umstand, dass bei Majorzsystemen die Erfolgswertgleichheit schlicht nicht verwirklicht werden kann.
Das ebengenannte Kriterium sah das Bundesgericht mit den Beschwerdegegnern für die Wahlkreise mit weniger als 7000 Einwohnern vermutungsweise als erfüllt an und führte ohne weitere Begründung an, dass daran auch die inzwischen beseitigte Autonomie der Wahlkreise nichts zu ändern vermöge.[64] Es wird hier also eine starre Grenze für die Vermutung der Bedeutungslosigkeit der Parteizugehörigkeit eingeführt.
Problematisch ist das Kriterium der fehlenden Bedeutung der Parteizugehörigkeit auf einer faktischen Ebene.[65] Zwar begnügt sich das Bundesgericht weiterhin mit nachvollziehbaren Behauptungen, dass die Parteizugehörigkeit von Kandidaten nur eine untergeordnete Rolle spielt.[66] Und dies, obwohl die Gebietsreform und die wenigen parteilosen Kandidaten eher den gegenteiligen Schluss nahelegen würden. Doch ist unklar, wie das Bundesgericht dieses Problem künftig in grösseren Wahlkreisen handhaben wird, wo eigentlich eine vertiefte Prüfung der Verhältnisse nötig wäre. Dieses Problem akzentuiert sich weiter, wenn man bedenkt, dass das Bundesgericht dem Kriterium der fehlenden Autonomie der Wahlkreise in diesem Entscheid praktisch keine Bedeutung mehr zumisst.[67] Die Frage nach der Bedeutung der Parteizugehörigkeit einer Kandidatin wird damit zum eigentlichen Gradmesser für die Zulässigkeit von Majorzwahlsystemen. Vor dem Hintergrund der schwierigen Überprüfbarkeit dieses Kriteriums leidet mit dieser Rechtsprechung im Ergebnis die Rechtssicherheit.[68]
Es kann festgehalten werden: Bei reinen Majorzsystemen hat die Erfolgswertgleichheit einen noch kleineren Stellenwert als bei Mischsystemen, die ihrerseits eine Abweichung von der Erfolgswertgleichheit einfacher rechtfertigen können als Proporzsysteme. Zulässig ist ein Majorzsystem, solange nicht offensichtlich ist, dass die Parteizugehörigkeit der Kandidierenden eine vordergründige Bedeutung für die Wähler hat. Dies ist bei Wahlkreisen mit weniger als 7000 Einwohnern zu vermuten. Bei grösseren Wahlkreisen ist hingegen vom Gegenteil auszugehen: Der Nachweis der fehlenden Bedeutung der Parteizugehörigkeit dürfte hier regelmässig misslingen. Dieser Rechtsprechung ist im Ergebnis zuzustimmen, auch wenn das Abstellen auf das Kriterium der Parteizugehörigkeit aus den genannten Gründen nicht unproblematisch ist. Die Vermutung der Verfassungskonformität von Majorzwahlkreisen mit höchstens 7000 Einwohnern ist zwar klar und praktikabel, weil dadurch aktuell keine problematischen Grenzfälle entstehen. Gerade deshalb wirkt der Grenzwert aber zufällig und dürfte darüber hinaus keine Bedeutung haben.
4. Mögliche Folgen des Entscheids
Nach dem vorliegenden Urteil bleibt der Bündner Regierung nicht viel Zeit, um ein neues Wahlsystem auszuarbeiten. Bereits im Jahr 2022 stehen die nächsten Gesamterneuerungswahlen an; in Anbetracht dessen wurde im Grossen Rat bereits ein erster Vorstoss eingereicht.[69] Die Aufgabe der Regierung und des Grossen Rats ist mitnichten einfach, denn es kommen verschiedene Ausgestaltungen für das neue Wahlsystem infrage.
Möglich und wahrscheinlich scheint die Einführung eines gemischten Wahlsystems, wie es die Kantone Appenzell A.Rh. und Uri bereits kennen. Als Massstab könnten die Urteile des Bundesgerichts zu diesen Kantonen dienen.[70] Nicht ignorieren sollte die Bündner Regierung dabei die aktuellen Entwicklungen rund um das Urner Wahlsystem: Nachdem das Bundesgericht dieses 2016 als verfassungswidrig beurteilt hatte, beschloss der Kanton Uri am 19. Mai 2019 eine neue Wahlordnung. Einerseits wurde für die Proporzgemeinden auf Gesetzesstufe der «Doppelte Pukelsheim»[71] eingeführt, andererseits wurde überraschenderweise die Anzahl der im Majorz wählenden Wahlkreise erhöht. Neu findet das Majorzsystem nicht mehr nur auf Wahlkreise mit bis zu zwei Sitzen Anwendung, sondern auf Wahlkreise mit bis zu vier Sitzen. Hierfür war eine Verfassungsänderung notwendig;[72] mit Spannung ist daher der Gewährleistungsentscheid des Bundesgesetzgebers zu erwarten, der nicht nur für die Kantone, sondern auch für das Bundesgericht wegweisend sein wird. Insbesondere wird interessant sein, wie der Bundesgesetzgeber bei dieser Gelegenheit zum vorliegenden Urteil Stellung beziehen wird.[73]
Möglich, aber unwahrscheinlich ist der Übergang zu einem Verhältniswahlverfahren. Dazu müsste Graubünden eine grundlegende Neueinteilung seiner Wahlkreise vornehmen. Bei einer Einführung des Proporzsystems müsste die Rechtsprechung des Bundesgerichts beachtet werden. Diese akzeptiert natürliche Quoren von maximal 10 % - jeder Wahlkreis braucht also mindestens neun Sitze.[74] Die Wahlkreisgrösse, die das Bundesgericht vorliegend unter Majorzgesichtspunkten als verfassungsmässig betrachtete, wäre in einem Proporzwahlsystem verfassungswidrig, solange keine ausgleichenden Massnahmen wie Wahlkreisverbände vorgesehen würden. Die grösste Hürde wäre bei Einführung eines Proporzsystems aber wahrscheinlich das Bündner Volk, das sich bisher stets gegen ein Proporzwahlsystem gestellt hat.[75]
Die Beibehaltung eines reinen Majorzsystems dürfte schwierig zu rechtfertigen sein. Selbst wenn die grössten Wahlkreise verkleinert bzw. aufgeteilt würden,[76] würde dies nichts an der vorherrschenden Bedeutung der Parteizugehörigkeit ändern. Denn selbst wenn eine Stadt wie Chur auf mehrere Wahlkreise aufgeteilt wird, dürfte die Parteizugehörigkeit der Kandidaten dort einen überwiegenden Einfluss auf die Wahl beibehalten. Dies zeigt eine weitere Problematik des Kriteriums der Bedeutung der Parteizugehörigkeit auf. Eine Aufteilung der Wahlkreise würde bei Wahlkreisen mit über 7000 Einwohnern nicht zwingend zur Verfassungskonformität führen.
Welchen Weg Graubünden auch einschlägt - eine Neueinteilung der Wahlkreise ist für ein seriöses Wahlsystem Bedingung. Wie das Bundesgericht zutreffend feststellt, entspricht die heutige Einteilung längst nicht mehr einer historischen Gebietsorganisation. Dies ist einerseits der unlängst vorgenommenen Gebietsreform und andererseits dem in gewissen Kantonsteilen praktizierten Gerrymandering[77] zuzuschreiben. Die aufgezwungene Wahlreform muss Graubünden als Anlass nehmen, seine Gebietsstrukturen sorgfältig zu analysieren und das Wahlsystem daran anzupassen - nicht umgekehrt. Nicht ohne Grund lautete das Motto der Gebietsreform ursprünglich: «zuerst Gebiets- und dann Wahlreform».[78] Bei der Wahlkreisreform ist auf eine Mischung zwischen proportionaler Repräsentation und Berücksichtigung von sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten zu achten.
Interessant ist auch die Frage, welche Implikationen dieses Urteil für den Kanton Appenzell I.Rh. haben wird, dem einzigen anderen Majorzkanton. Dessen Wahlsystem war bisher wohl als gerade noch verfassungskonform zu betrachten. Dies könnte sich allerdings ändern, sobald die Parteizugehörigkeit der Kandidierenden an Bedeutung gewinnt.[79] Daher erscheint es wahrscheinlich, dass das Bundesgericht in naher Zukunft auch zu Appenzell I.Rh. eine Beschwerde zu beurteilen haben wird - sofern ihr der Kanton nicht mit einer eigenen Wahlreform zuvorkommt.
III. Schlussbetrachtung
Das Bundesgericht war in seiner bisherigen Rechtsprechung zu gemischten Wahlordnungen der Ansicht, dass solche Systeme grundsätzlich besser geeignet sind, die verfassungsrechtlichen Vorgaben einzuhalten, als reine Majorzverfahren.[80] Es brachte gegenüber Majorzsystemen gar eine grundsätzliche Abneigung zum Ausdruck. Von dieser wohl überschiessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zwar nicht abgerückt, doch übt es in Bezug auf neue Vorgaben mehr Zurückhaltung. Diese Zurückhaltung vermag hinsichtlich der neu etablierten Massgaben allerdings nicht zu überzeugen, zumal erhebliche Verzerrungen der Stimmkraftgleichheit hingenommen werden und neue Rechtsunsicherheit geschaffen wird. Das Bundesgericht hätte auch ein härteres Verdikt zum Bündner Majorz fällen können, ohne sich dem Vorwurf einer exzessiven Rechtsfortbildung auszusetzen. Im Ergebnis hätte dies aber für das Bündner Wahlsystem wenig verändert. So oder anders ist es verfassungswidrig und muss durch ein modernes, den aktuellen Gegebenheiten Rechnung tragendes Wahlsystem ersetzt werden. Die Folgen des Urteils sind daher trotz höchstrichterlicher Zurückhaltung weitreichend.