Die ausbleibenden Stellenerhöhungen bei der Stadtpolizei Zürich sind grundrechtlich problematisch

Regina Kiener / Roman Schuppli *

Der Stadtpolizei Zürich werden von der Politik keine Stellenerhöhungen gewährt, obschon die Polizeiführung und das städtische Sicherheitsdepartement deren Bedarf begründen. Das ist aus Sicht der Grundrechte problematisch. Ein Kurzbeitrag.

Les autorités politiques ont décidé de ne pas accorder d'augmentation de postes à la police municipale de Zurich, bien que la direction de la police et le département municipal de la sécurité en justifient le besoin. Cette situation se révèle problématique du point de vue des droits fondamentaux. Un bref exposé.

Zitiervorschlag: Regina Kiener/Roman Schuppli, Die ausbleibenden Stellenerhöhungen bei der Stadtpolizei Zürich sind grundrechtlich problematisch, sui generis 2022, S. 203

URL: sui-generis.ch/220

DOI: https://doi.org/10.21257/sg.220

* Prof. Dr. Regina Kiener, RA, ist Professorin für öffentliches Recht an der Universität Zürich (regina.kiener@rwi.uzh.ch); Roman Schuppli, MLaw, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Zürich (roman.schuppli@rwi.uzh.ch).



I. Einleitung

Die Stadtpolizei Zürich beantragte im Jahr 2021 die Schaffung insgesamt 152 zusätzlicher Stellen, verteilt auf den Zeitraum von 2022 bis 2030.[1] Sie begründete den Antrag unter anderem mit dem schnellen und anhaltenden Bevölkerungswachstum und den gestiegenen Anforderungen an die Polizeiarbeit in der Stadt Zürich.[2] Der Gemeinderat genehmigte das Budget für die erste Tranche von zehn Stellen für das Jahr 2022 nicht.[3]

Aufgrund der Opposition von grossen Teilen des Gemeinderats fragt sich mittlerweile, ob die Stellenaufstockung überhaupt wie beantragt realisiert werden kann.[4]

Die in der Debatte vorgebrachten Argumente - Entstehung eines «Polizeistaates», Wunsch nach einer vertieften Diskussion über die Rolle und Aufgabe der Stadtpolizei[5] - sind ähnlich jener der «Defund the Police»-Bewegung. Das Schlagwort «Defund the Police» wird insbesondere seit der Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA breit diskutiert. Postuliert wird, dass Sachmittel von der Polizei abgezogen und auf andere Behörden verteilt werden, die für die Erfüllung von Teilen der polizeilichen Aufgaben als geeigneter erachtet werden (etwa: aufsuchende Sozialarbeit oder psychologische und psychiatrische Dienste).[6]

Der definitive Entscheid über die Stellenerhöhung bei der Stadtpolizei Zürich fällt in den Ratssitzungen von Mitte Dezember 2022, anlässlich derer der Gemeinderat über das städtische Budget für das Jahr 2023 befindet.[7]

Aus Grundrechtssicht stellt sich die Frage, ob die Politik der Polizei Stellenerhöhungen gewähren muss, wenn der Bedarf begründet werden kann.

II. Polizeiliche Schutzpflichten

In einem demokratischen Rechtsstaat greift die Polizei nicht nur in Grundrechte ein und verkürzt Rechtspositionen, wie sie es etwa bei Personenkontrollen, Leibesvisitationen oder Festnahmen tut,[8] sondern sie ermöglicht: ein Leben in Freiheit und Sicherheit, die Wahrnehmung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten, das Recht, eine Minderheitsmeinung zu haben und diese gemeinsam mit anderen in der Öffentlichkeit kundzutun. Damit setzt die Polizei den verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz[9] und zur Verwirklichung der Grundrechte um, wie er sich in Art. 35 Abs. 2 BV[10] findet:

Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.

Dieser Aspekt der Polizeiarbeit geht angesichts der gesellschaftlichen und medialen Fokussierung auf die reaktive und repressive Tätigkeit der Polizei zuweilen vergessen.

Werden dem Polizeikorps der grössten Stadt in der Schweiz die aus seiner Sicht notwendigen Stellenerhöhungen verweigert, zieht dies erhebliche Auswirkungen im Dienstbetrieb nach sich. Die Polizei ist noch mehr als bisher gezwungen, abzuwägen und zu priorisieren, Schwerpunkte zu setzen.[11]

Zwangsläufig geht damit ein Abbau von Leistungen der polizeilichen Grundversorgung einher, ein Abbau, der sich vermutungsweise zuerst bei den verletzlichsten Exponenten einer Gesellschaft bemerkbar machen und zu einer Relativierung ihrer Grundrechte führen wird. Es ist zweifelhaft, ob die jederzeitige und unmittelbare Interventionsbereitschaft der Polizei in den zahlreichen Fällen häuslicher Gewalt sichergestellt bleibt oder gewährleistet werden kann, dass auch queere Menschen das Zürcher Nachtleben geniessen können, ohne angepöbelt oder verbal angegriffen zu werden.[12] Auch die aus Grundrechtssicht wichtige Aus- und Weiterbildung der Polizeiangehörigen zur Verhinderung diskriminierender Personenkontrollen wird möglicherweise weniger Priorität geniessen.[13]

III. Polizeiangehörige als Grundrechtsträger

Was in der allgemeinen Diskussion ebenfalls häufig vergessen geht: Auch Polizeiangehörige kommen in den Genuss sämtlicher Grundrechte. Wohl stehen Polizistinnen und Polizisten aufgrund ihrer beruflichen Position in einem Sonderstatusverhältnis zum Staat, was zusätzliche Einschränkungen ihrer Rechte erlaubt, etwa zur Aufrechterhaltung der ungestörten Funktionsweise der Polizei.[14] So findet sich in diversen Kantonen ein Wohnsitzerfordernis für Polizeiangehörige, dem einsatztaktische oder demokratiepolitische Überlegungen zugrunde liegen.[15] Weiter existieren Restriktionen hinsichtlich der Meinungsäusserungsfreiheit und dem Streikrecht von Polizeiangehörigen.[16]

Gleichzeitig steht den Polizeiangehörigen ein Anspruch auf besondere Gesundheits- und Sicherheitsmassnahmen zu, die dem spezifischen Charakter der Polizeiarbeit Rechnung tragen.[17] Der Staat ist verpflichtet, alles zum Schutz der Polizeiangehörigen zu tun, was vernünftigerweise erwartet werden kann.[18] Dazu gehört nicht nur die Ausrüstung mit stich- und schusssicheren Westen, sondern vor allem auch die Gewährung von ausreichenden Erholungs- und Freizeitphasen; fehlt es an diesen, erhöht sich das Fehlerpotenzial im Einsatz und es besteht die Gefahr, dass sich auch die Attraktivität des Polizeiberufs verringert und sich die bestehenden Rekrutierungsprobleme akzentuieren.

IV. Fazit

Die Ausstattung der Polizei mit den erforderlichen Personalmitteln und die Aus- und Weiterbildung von Polizeiangehörigen ist in zweifacher Hinsicht grundrechtsrelevant. Für die Politik besteht wenig Spielraum. Sie muss ihren grundrechtlichen Schutz- und Leistungspflichten zugunsten der Öffentlichkeit und zugunsten der Polizeiangehörigen nachkommen, die notwendigen Mittel sprechen und die Polizei adäquat ausstatten, sofern der Bedarf plausibel nachgewiesen werden kann. Temporäre Schliessungen von Regionalwachen, Überstunden, die nicht abgebaut werden können, Urlaubssperren und Erschöpfungszustände im Korps der Stadtpolizei Zürich sind ernst zu nehmen.[19]

Bei der Beurteilung dieser Vorgänge und dem Ergreifen von Massnahmen verfügt die Polizei(-führung) über eine Sachkompetenz, von der nicht leichthin abgewichen werden darf. Die örtlich zuständige Polizei dürfte am besten in der Lage sein, abzuschätzen, welchen Personalbedarf sie benötigt, und wie sie die verfügbaren Personalmittel einsetzt.

Es ist politisch opportun, die Frage nach der Aufgabe und Rolle einer Polizei in einem dynamischen städtischen Umfeld zu stellen - und nach Alternativen zu suchen, beispielsweise durch partizipative Formen der Polizeiarbeit wie «Community policing», das die Bevölkerung verstärkt in die Polizeiarbeit einbeziehen will. Oder durch den vermehrten Einsatz von hybriden Akteuren wie «sip züri», die bei Konflikten im öffentlichen Raum vermitteln, jedoch niederschwelliger als die Polizei agieren.

In einem demokratischen Rechtsstaat muss der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch zahlenmässig genügendes und gut ausgebildetes Personal erfüllt werden, das den hohen Anforderungen, die diese Tätigkeit gerade aus Grundrechtssicht stellt, jederzeit gewachsen ist. Aus Grundrechtssicht sollte die Diskussion um die adäquaten Mittel und Formen der Polizeiarbeit deshalb nur dann mit dem politischen Entscheid über Stellenerhöhungen verknüpft werden, wenn gleichzeitig tragfähige Alternativen zur polizeilichen Aufgabenerfüllung zur Verfügung stehen. Dabei sollte nicht vergessen gehen, dass unterbliebene Hilfeleistungen bei realen und unmittelbaren Grundrechtsgefährdungen durch Private eine grundrechtliche Verantwortlichkeit des Staates auch dann entstehen lassen, wenn das Unterlassen auf fehlende Personalmittel zurückzuführen ist.[20]



[1] Antrag betreffend Stellenerhöhung bei der Stadtpolizei Zürich bis ins Jahr 2030 vom 16. Juli 2021.

[2] Antrag Stellenerhöhung bei der Stadtpolizei Zürich (Fn. 1), S. 3.

[3] Auszug aus dem Beschlussprotokoll der 175. Ratssitzung des Gemeinderats Zürich vom 8. Dezember 2021, Geschäftsnummer 047; vgl. zudem NZZ vom 22. September 2022, S. 12 («Feilschen um Polizeistellen»).

[4] Dazu NZZ vom 10. Oktober 2022, S. 11 («Die Einsätze nachts häufen sich»).

[5] Zu den entsprechenden Voten siehe NZZ vom 22. September 2022, S. 12 («Feilschen um Polizeistellen») und NZZ vom 31. Oktober 2022, S. 12 f. («Die Stadtpolizei jammert auf hohem Niveau»).

[6] Vgl. Benjamin Derin / Tobias Singelnstein, Die Polizei, Helfer, Gegner, Staatsgewalt, Inspektion einer mächtigen Organisation, Berlin 2022, S. 354 f. und 362 ff.

[7] Siehe dazu Sitzungskalender Gemeinderat Zürich - Amtsjahr 2022/2023 vom 8. September 2022.

[8] Die Stadtpolizei Zürich stützt das Handeln bei Personenkontrollen auf § 21 Polizeigesetz des Kantons Zürich vom 23. April 2007 (PolG-ZH; LS 550.1), bei Leibesvisitationen auf § 35 PolG-ZH und bei Festnahmen auf § 25 PolG-ZH oder die entsprechenden Regelungen in der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0).

[9] Eingehend zu polizeilichen Schutzpflichten Regina Kiener, Die «Rote Zora», die Zuhälter-bande und die Polizei: Wie das Zürcher Kassationsgericht (sinngemäss) Schutzpflichten anerkannte, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers (Hrsg.), Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 619 ff.

[10] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101).

[11] Das Ermessensprinzip in Ausformung des Entschliessungs- und Auswahlermessens ist ständiger Begleiter der Polizeiarbeit, vgl. etwa Pierre Tschannen / Markus Müller / Markus Kern, Allgemeines Verwaltungsrecht, Bern 2022, S. 571.

[13] Eingehend zur Thematik von diskriminierenden Personenkontrollen Daniel Moeckli, Völkerrechtliche Grenzen des racial profiling, Jusletter vom 18. September 2017, S. 1 ff. und S. 9 zur Aus- und Fortbildung von Polizeiangehörigen, mit Verweisen; spezifisch für die Stadtpolizei Zürich Jörg Künzli / Judith Wyttenbach / Vijitha Fernandes-Veerakatty / Nicola Hofer, Personenkontrollen durch die Stadtpolizei Zürich, Standards und Good Practices zur Vermeidung von racial und ethnic profiling, Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR), 28. Februar 2017, S. 27 ff.

[14] Vgl. hierzu Art. 31 European Code of Police Ethics und den dazugehörigen Kommentar, Recommendation Rec(2001)10 adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe on 19 September 2001 and explanatory memorandum; ebenso Declaration on the Police, The Assembly 6., Resolution 690 (1979), adopted by the Parliamentary Assembly on 8 May 1979.

[15] Statt vieler § 23 Gesetz betreffend die Kantonspolizei des Kantons Basel-Stadt vom 13. November 1996 (PolG-BS; SG 510.100). Auch die Stadtpolizei Zürich kennt für gewisse Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Wohnsitzradius, dieser ist indes nicht Gegenstand einer gesetzlichen Regelung. Zu Sinn und Zweck von einem Wohnsitzerfordernis für Polizeiangehörige Urteil des Bundesgerichts 8C_733/2018 vom 13. Juni 2019.

[16] Siehe etwa Urteil des Bundesgerichts 8C_715/2018 vom 11. Juli 2019 E. 7.2.2 m.w.H. und Urteil des Bundesgerichts 8C_80/2018 vom 9. Oktober 2018.

[18] Vgl. Urteil des EGMR 37801/16, 39549/16 und 40658/16 vom 30. März 2021 (Ribcheva u.a. gegen Bulgarien), Ziff. 161; Ralf Alleweldt, Die wesentlichen menschenrechtlichen Anforderungen an polizeiliches Handeln, in: Kugelmann (Hrsg.), Polizei und Menschenrechte, Bonn 2019, S. 40 f.

[19] Dazu Medienmitteilung der Stadtpolizei Zürich vom 27. Oktober 2022 («Regionalwachen weiterhin mit verkürzten Öffnungszeiten»); NZZ vom 10. Oktober 2022, S. 11 («Die Einsätze nachts häufen sich»).

[20] Vgl. auch Urteil des Zürcher Kassationsgerichts vom 17. Juni 1987, in: ZBl 1987 545, S. 547; Markus H. F. Mohler, Vernetzung von Sicherheit, in: Schweizer (Hrsg.), Sicherheits- und Ordnungsrecht des Bundes III/1, Basel 2008, S. 598.