Ist Suizidhilfe für Gesunde mittels Natrium-Pentobarbital strafbar?

Bernhard Rütsche / Daniel Hürlimann / Marc Thommen *

Mit Urteil 6B_646/2020 vom 9. Dezember 2021 hat das Bundesgericht entschieden, dass die Verschreibung von Natrium-Pentobarbital (NaP) für eine suizidwillige gesunde Person nicht nach Heilmittelgesetz, sondern nach den strengeren Regeln des Betäubungsmittelgesetzes zu beurteilen ist. Das nicht zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehene Urteil hat für die Frage der Zulässigkeit der Suizidhilfe wegweisenden Charakter, lässt aber die zentrale Frage offen, ob und inwieweit die Verschreibung von NaP im Rahmen der Suizidhilfe strafbar ist. Die Autoren zeigen auf, dass in diesen Fällen eine Bestrafung nach Betäubungsmittelgesetz ausgeschlossen ist. Ärztinnen und Ärzte ausgerechnet dann zu bestrafen, wenn sie das anerkanntermassen wirksamste und sicherste Suizidmittel verschreiben, wäre zudem wertungswidersprüchlich.

Dans l'arrêt 6B_646/2020 du 9 décembre 2021, le Tribunal fédéral a décidé que la prescription de natrium pentobarbital (NAP) à une personne en bonne santé souhaitant se suicider ne devait pas être jugée selon la loi sur les produits thérapeutiques, mais selon les règles plus strictes de la loi sur les stupéfiants. Cet arrêt, qui n'est pas destiné à être publié dans le recueil officiel, a un caractère fondateur pour la question de l'admissibilité de l'assistance au suicide, mais laisse ouverte la question centrale de savoir si et dans quelle mesure la prescription de NAP dans le cadre de l'assistance au suicide est punissable. Les auteurs montrent que dans ces cas, une sanction selon la loi sur les stupéfiants est exclue. Punir les médecins précisément lorsqu'ils prescrivent le moyen de suicide le plus efficace et le plus sûr reconnu serait pour le moins contradictoire.

Zitiervorschlag: Bernhard Rütsche / Daniel Hürlimann / Marc Thommen, Ist Suizidhilfe für Gesunde mittels Natrium-Pentobarbital strafbar?, sui generis 2022, S. 113

URL: sui-generis.ch/211

DOI: https://doi.org/10.21257/sg.211

* Prof. Dr. iur. Bernhard Rütsche , Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Universität Luzern (bernhard.ruetsche@unilu.ch). Prof. Dr. iur. Daniel Hürlimann, Professor für Rechtsinformatik und IT-Recht, Berner Fachhochschule (daniel.huerlimann@bfh.ch). Prof. Dr. iur. Marc Thommen, Ordinarius für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Zürich (marc.thommen@rwi.uzh.ch). Die Autoren danken RA Caroline Ruggli, MLaw, für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und ihre luziden Ergänzungshinweise.



I. Prozessgeschichte

Im Oktober 2019 verurteilte das Genfer Polizeigericht einen Arzt gestützt auf das Heilmittelgesetz[1], weil er einer gesunden Frau das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital (NaP) verschrieben hatte. Das Genfer Kantonsgericht bestätigte den Schuldspruch im April 2020[2]. Das Bundesgericht hiess die dagegen erhobene Beschwerde im Dezember 2021 gut und wies die Sache zur Neubeurteilung an das Genfer Kantonsgericht zurück[3].

Fest stand, dass eine Bestrafung nach Art. 115 StGB[4] (Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord) nicht möglich war, wohl mangels selbstsüchtiger Beweggründe (E. 1.4.1). Das Bundesgericht hatte in seinem Urteil zum ersten Mal die Frage zu beurteilen, ob ein Arzt aufgrund des Heilmittelgesetzes (Art. 26 Abs. 1 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG[5]) strafrechtlich verurteilt werden darf, weil er einer gesunden Person ohne physische oder psychische Beeinträchtigung das Sterbemittel NaP verschrieben hat (E. 1.1; 1.5.1). In materiell-rechtlicher Hinsicht lassen sich dem Urteil im Wesentlichen die folgenden Aussagen entnehmen:

  • Gemäss Bundesgericht ist zweifelhaft, ob mit der Verschreibung von NaP zwecks Suizids für eine gesunde Person ein «Arzneimittel» im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG verwendet wird und damit das Heilmittelgesetz überhaupt anwendbar ist (E. 1.5.2).
  • Die Frage, ob das Heilmittelgesetz an sich zur Anwendung kommen würde, lässt das Bundesgericht offen; die in casu massgebenden Verschreibungsregeln des Heilmittelgesetzes (Art. 26 HMG) müssten ohnehin hinter diejenigen des Betäubungsmittelgesetzes[6] zurücktreten, da Erstere im Sinne von Art. 1b BetmG weniger weit gehen als Letztere (E. 1.5.2).
  • Darüber hinaus bemerkt das Bundesgericht, dass nicht ersichtlich sei, inwiefern die Verschreibung von NaP für eine urteilsfähige gesunde Person mit deren Zustimmung den gesundheitspolizeilichen Interessen, wie sie das Heilmittelgesetz verfolgt, widerspreche. Mit der Verschreibung von NaP habe der Beschwerdeführer der sterbewilligen Frau ermöglicht, ihrem Leben auf eine weniger grausame Weise ein Ende zu setzen als mit einer anderen Methode (E. 1.5.3).
  • Mit Blick auf die Strafbestimmung in Art. 115 StGB (Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord) hätte der Beschwerdeführer der betroffenen Frau zum Zweck des Suizids auch eine Waffe oder ein nicht rezeptpflichtiges Medikament in genügender Menge zur Verfügung stellen können (E. 1.5.3).

Der vorliegende Beitrag diskutiert in kritischer Auseinandersetzung mit den bundesgerichtlichen Erwägungen die folgenden Fragen: Ist das Heilmittelgesetz auf die Verschreibung von NaP für eine suizidwillige gesunde Person anwendbar (Kap. II)? Gehen die Verschreibungsregeln des Betäubungsmittelgesetzes denjenigen des Heilmittelgesetzes vor (Kap. III)? Ist die Verschreibung von NaP für eine gesunde Person zum Zweck des Suizids nach Betäubungsmittelgesetz verboten und damit strafbar (Kap. IV)? Die Antworten auf diese Fragen werden abschliessend in einen rechtspolitischen Kontext gesetzt (Kap. V).

II. Anwendbarkeit des Heilmittelgesetzes

Das Heilmittelgesetz gilt für den Umgang mit Heilmitteln, d.h. mit Arzneimitteln und Medizinprodukten (Art. 2 Abs. 1 lit. a HMG). Der Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst gemässArt. 2 Abs. 1 lit. b HMG auch Betäubungsmittel, soweit sie als Heilmittel verwendet werden (ebenso Art. 1b Satz 1 BetmG). Das Sterbemittel NaP ist ein psychotroper Stoff[7], der denselben Regeln untersteht wie Betäubungsmittel, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht (Art. 2b BetmG). Das Heilmittelgesetz ist demzufolge auf den Umgang mit NaP anwendbar, soweit dieses als Arzneimittel verwendet wird. Die Anwendbarkeit des Heilmittelgesetzes hängt somit davon ab, ob die Verwendung von NaP zum Zweck des Suizids unter den Begriff des Arzneimittels fällt. Arzneimittel sind laut Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG «Produkte chemischen oder biologischen Ursprungs, die zur medizinischen Einwirkung auf den menschlichen oder tierischen Organismus bestimmt sind oder angepriesen werden, insbesondere zur Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen».

Das Bundesgericht erachtete es in verschiedener Hinsicht als zweifelhaft, ob im Fall einer Verschreibung von NaP für eine gesunde Person zum Zweck des Suizids (sog. Bilanzsuizid) die Definition des Arzneimittels gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG erfüllt ist (E. 1.5.2): Zunächst werde damit nicht das in dieser Bestimmung genannte Ziel der Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen verfolgt. Die Anwendung des Mittels beruhe mithin auf keiner medizinischen Indikation[8]. Dabei sei hervorzuheben, dass Swissmedic bis heute kein Humanarzneimittel zugelassen hat, welches NaP enthält. Die Tatsache, dass NaP nicht zur Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen, sondern zum Zweck des Suizids verwendet wird, stehe zwar gemäss einem Bericht des Bundesrates von 2011 der Qualifikation als Arzneimittel nicht entgegen[9]. Im Fall einer Abgabe von NaP als Sterbemittel an eine gesunde Person könne jedoch selbst im weiten Sinn nicht von einem Behandlungsziel die Rede sein, welches darin bestehen würde, die von einer Krankheit verursachten Leiden zu beenden. Dementsprechend sei die Suizidhilfe gemäss Standesrecht auch keine medizinische Tätigkeit, zu welcher Ärztin­nen und Ärzte verpflichtet seien; vielmehr liege es in deren freier Entscheidung, ob sie Suizid­hilfe leisten wollen[10]. Ergänzend bemerkt das Bundesgericht, dass die Verschreibung einer tödlichen Substanz für eine gesunde Person keine medizinischen oder pharmakologischen Kenntnisse verlange, sondern eine Frage der Ethik und der Moral sei.

Aus diesen Erwägungen des Bundesgerichts könnte gefolgert werden, dass zwar die Verschrei­bung von NaP für physisch oder psychisch Kranke - nicht aber für Gesunde - als Verwendung eines Arzneimittels gilt. Für diese Interpretation spricht vor allem der Hinweis des Bundes­gerichts auf das Kriterium der medizinischen Indikation. Wenn die Anwendung von Arznei­mitteln begriffsnotwendig eine medizinische Indikation voraussetzt[11], ist die Verschreibung von NaP für Gesunde von vornherein keine Verwendung eines Arzneimittels. Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG spricht jedoch nicht von «medizinischer Indikation», sondern von «medizinischer Einwirkung». Dieser Begriff ist im Sinne einer pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Wirkung eines Stoffs auf den Organismus von Mensch oder Tier zu verstehen[12]. Der in Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG genannte Zweck der medizinischen Einwirkung - die «Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen» - ist gemäss Wortlaut («insbesondere») nicht abschliessend gemeint. So fallen gemäss Botschaft[13] und Zulassungspraxis von Swissmedic[14] auch Mittel, deren Anwendung keine medizinische Indikation voraussetzt, unter den Arzneimittelbegriff, wie z.B. Mittel zur Empfängnisregelung oder Vitaminpräparate.

Daraus kann geschlossen werden, dass Arzneimittel nicht zwingend eine medizinische Indikation zur Behebung eines pathologischen Zustands voraussetzen, sondern dass generell ein Zustand genügt, welcher aus subjektiver Sicht als unerwünscht empfunden wird und mithilfe eines pharmakologisch wirkenden Mittels vermieden oder überwunden werden soll. Diese Auslegung des Arzneimittelbegriffs wird dadurch bestätigt, dass das Heilmittelgesetz die Personen, die Arzneimittel verwenden, an verschiedenen Stellen sowohl als «Patientinnen und Patienten» als auch als «Konsumentinnen und Konsumenten» bezeichnet (z.B. Art. 1 Abs. 2 lit. a und Art. 26 Abs. 2 HMG).

Arzneimittel sind demnach Produkte chemischen oder biologischen Ursprungs, die dazu bestimmt sind oder angepriesen werden, mittels pharmakologischer Einwirkung auf den Organismus einen pathologischen oder sonst wie unerwünschten Zustand zu erkennen, zu vermeiden oder zu beheben. Davon ausgehend lässt sich auch die Verschreibung von NaP für eine gesunde urteilsfähige Person, die sich nach reiflicher Überlegung für einen Bilanzsuizid entschieden hat, durchaus als Anwendung eines Arzneimittels qualifizieren. Das bedeutet, dass die Verschreibung von NaP zum Zweck des Suizids unabhängig davon, ob bei der sterbewilligen Person eine Krankheit diagnostiziert ist, als Verschreibung eines Arzneimittels im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG zu qualifizieren ist.

Das Bundesgericht prüfte die Anwendbarkeit des Heilmittelgesetzes einzig nach Art. 2 Abs. 1 lit. b HMG (Betäubungsmittel, «soweit sie als Heilmittel verwendet werden»). In Betracht fällt indessen auch eine Anwendbarkeit des Gesetzes aufgrund von Art. 2 Abs. 1 lit. a HMGUmgang mit Arzneimitteln»). Dies insofern, als Swissmedic NaP als Tierarzneimittel mit der Indikation der Euthanasie von Pferden, Rindern, Hunden, Katzen, Kaninchen und Nagetieren zugelassen hat[15]. Eine Anwendung im Rahmen der Suizidhilfe liesse sich demnach als Off-Label-Use (Anwendung ausserhalb der von Swissmedic genehmigten Fachinformation) hinsichtlich Adressat (Mensch anstelle von Tier) und Dosierung qualifizieren. Mit dieser Begründung wäre das Heilmittelgesetz unabhängig davon anwendbar, ob NaP im Rahmen der Suizidhilfe im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b HMG «als Heilmittel verwendet» wird.

III. Vorrang des Betäubungsmittelgesetzes

Das Bundesgericht liess die Frage, ob der Arzneimittelbegriff erfüllt und deswegen das Heilmittelgesetz an sich anwendbar wäre, am Ende offen, weil auf die Verschreibung von NaP ohnehin die strengeren Regeln des Betäubungsmittelgesetzes als lex specialis anwendbar seien (E. 1.5.2). Das Bundesgericht stützte sich dabei auf Art. 1b Satz 2 BetmG, wonach die Bestimmungen dieses Gesetzes anwendbar sind, «soweit das Heilmittelgesetz keine oder eine weniger weit gehende Regelung trifft». In Bezug auf die Verschreibung von Betäubungsmitteln treffe das HMG eine weniger weit gehende Regelung bzw. sei die Regelung des Betäubungsmittelgesetzes strenger.

Die strengeren Verschreibungsregeln des Betäubungsmittelgesetzes untermauerte das Bundesgericht mit zwei Beispielen. So dürfen gemäss Art. 46 Abs. 1 BetmKV Ärztinnen und Ärzte Arzneimittel mit kontrollierten Substanzen nur für Patientinnen und Patienten verschreiben, die sie selber untersucht haben, während gemäss Art. 26 Abs. 2 HMG ein Arzneimittel verschrieben werden darf, wenn der Gesundheitszustand der Konsumentin bzw. des Patienten bekannt ist. Weiter darf kraft Art. 48 BetmKV die verschriebene Menge eines Betäubungsmittels nicht über den Bedarf für die Behandlung während einem Monats hinausgehen. Wenn es die Umstände rechtfertigen, kann eine Menge verschrieben werden, die für die Behandlung während höchstens sechs Monaten ausreicht, wobei die verschreibende Ärztin in diesem Fall die genaue Dauer der Behandlung auf dem Rezept anzugeben hat. Im Heilmittelgesetz fehlt eine entsprechende Begrenzung der zulässigen Verschreibungsmenge. Das Bundesgericht kam daher zum Schluss, dass eine Verurteilung des Beschwerdeführers aufgrund von Art. 26 Abs. 1 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG ausgeschlossen sei, weil das fragliche Verhalten - die Verschreibung von NaP an eine gesunde Person zum Zweck des Suizids - vom Heilmittelgesetz nicht erfasst sei (E. 1.6).

Zunächst erstaunt, dass das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung zur Verschreibung und Abgabe von NaP zwecks Suizids[16] das Verhältnis zwischen dem Heil­mittelgesetz und dem Betäubungsmittelgesetz nie geklärt hat, obwohl es hierzu Gelegenheit hatte[17]. Vorliegend hat das Bundesgericht festgehalten, dass das Betäubungsmittelgesetz vorgeht. Der bundesgerichtlichen Argumentation ist im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zuzustimmen. Zwar trifft zu, dass die Ver­schrei­bungsregeln des Heilmittelgesetzes weniger weit gehen als diejenigen des Betäubungs­mittel­gesetzes[18], doch stehen die erwähnten zwei Punkte (eigene Untersuchung, Monatsration) hier nicht im Vordergrund. Ob das «Heil­mittelgesetz keine oder eine weniger weit gehende Regelung trifft» (Art. 1b Satz 2 BetmG), muss vielmehr mit Blick auf die im konkreten Fall in Frage stehende Strafbarkeit des Genfer Arztes beurteilt werden. Zu vergleichen sind somit die straf­rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der beiden Gesetze.

Die angedrohten Rechtsfolgen sind identisch[19]. In beiden Gesetzen wird eine Vergehensstrafe (Art. 10 Abs. 3 StGB) angedroht: Nach Art. 20 Abs. 1 lit. d BetmG wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer als Medizinal­person Betäu­bungs­mittel anders als nach Art. 11 BetmG verwendet oder abgibt. Nach Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG wird mit Frei­heits­strafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer vorsätzlich Arzneimittel entgegen den in Art. 26 HMG statuierten Sorgfaltspflichten verschreibt.

Der Vergleich der zentralen Verschreibungsregeln der beiden Gesetze - Art. 26 Abs. 1 HMG und Art. 11 Abs. 1 BetmG - zeigt, dass die Tatbestands­voraus­set­zun­gen des Betäubungsmittelgesetzes strenger sind. So dürfen Ärztinnen und Ärzte nach Art. 11 Abs. 1 BetmG Betäubungsmittel nur in dem Umfange verwenden, abgeben und verordnen, «wie dies nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig ist»[20]. Weniger weit geht demgegenüber Art. 26 Abs. 1 HMG, wonach bei der Verschreibung, Abgabe und Anwen­dung von Arzneimitteln «die anerkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften beachtet werden»[21] müssen. Der Unterschied dieser beiden Verschreibungs­regeln zeigt sich namentlich dann, wenn die anerkannten Regeln der medizinischen Wissen­schaften oder die - vom Bundesrat gestützt auf Art. 26 Abs. 2bis lit. a HMG konkretisierten - Sorgfaltspflichten der Ärztin oder dem Arzt bei der Verschreibung eines bestimmten Mittels einen Entscheidungsspielraum belassen und medizinisch gleichwertige Alternativen exi­stie­ren. In solchen Fällen wäre die Verschreibung eines Betäubungsmittels nicht notwendig und stünde damit im Widerspruch zu Art. 11 Abs. 1 BetmG, während die Verschreibung eines Arzneimittels durchaus im Einklang mit Art. 26 Abs. 2 HMG stehen würde.

Die bundesgerichtliche Schlussfolgerung, dass sich die Verschreibung von NaP zum Zweck des Suizids ausschliesslich nach den Verschreibungsregeln des Betäubungsmittelgesetzes richtet, muss unabhängig davon gelten, ob sich die Verschreibung an eine gesunde oder kranke Person richtet: Die Verschreibungsregeln des Betäubungsmittelgesetzes sind generell strenger als diejenigen des Heilmittelgesetzes. Deshalb ist jede Verschreibung von NaP zur Begehung von Suizid ausschliesslich nach Betäubungsmittelgesetz zu beurteilen[22].

IV. Strafbarkeit nach Betäubungsmittelgesetz?

Das Bundesgericht hat seine Begründung mit der Feststellung abgebrochen, dass eine Verurteilung des Beschwerdeführers auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 1 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG wegen der Verschreibung einer tödlichen Substanz an eine gesunde, urteilsfähige und sterbewillige Person ausgeschlossen sei (E. 1.6). Die kantonale Vorinstanz werde zu prüfen haben, ob der Beschwerdeführer aufgrund des Betäubungsmittelgesetzes verurteilt werden kann (E. 2.).

Damit bleibt offen, inwieweit die Verschreibung von NaP zum Zweck des Suizids nach Betäu­bungsmittelgesetz strafbar ist. Die Strafbarkeit hängt davon ab, ob eine solche Verschreibung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 BetmG «nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig ist». Verletzt ein Arzt diese Vorschrift, wird er gemäss Art. 20 Abs. 1 lit. e BetmG mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Die Anwendung von Art. 11 Abs. 1 BetmG auf die Verschreibung von NaP im Rahmen der Suizidhilfe wirft schwierige Auslegungsfragen auf. Nach einem Hinweis auf die Entstehungs­geschichte der Bestimmung (1.) wird im Folgenden gefragt, inwieweit zur Verschreibung von NaP «anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaften» existieren (2.). Falls solche anerkannten Regeln existieren, ist weiter zu klären, ob eine Verschreibung von NaP zwecks Suizids nach diesen Regeln «notwendig» ist (3.).

1. Entstehungsgeschichte

Vorweg ist festzuhalten, dass sich aus einer historischen Auslegung von Art. 11 Abs. 1 BetmG keine Anhaltspunkte gewinnen lassen: Die Bestimmung findet sich bereits in der Fassung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel vom 3. Oktober 1951[23]. Sie entspricht dem Zweck internationaler Abkommen, die Herstellung und Verwendung der Betäubungsmittel auf den wissenschaftlichen und medizinischen Bedarf zu beschränken[24]. Die Botschaft erwähnt namentlich Opium, Morphin und Diazetylmorphin (Heroin) mit den jeweiligen Salzen, ohne zu definieren, was mit medizinischem Bedarf gemeint ist[25]. Aus den zur Zeit der Entstehung des Gesetzes prakti­zierten Verwendungen von Betäubungsmitteln kann indessen nicht e contrario geschlossen werden, dass der Gesetzgeber eine Verwendung im Rahmen der Suizidhilfe ausschliessen wollte. Vielmehr hat sich der Gesetzgeber zu dieser Frage nicht geäussert. Der Einsatz von Betäubungsmitteln für medizinische Zwecke hat sich seit Erlass des Gesetzes ohnehin aus­ge­weitet. Gegenwärtig anerkannte medizinische Anwendungsgebiete von Betäubungs­mitteln sind vor allem die Anästhesie sowie die Behandlung von Schmerzen, Schlafstörungen oder bestimmten psychischen Störungen[26].

2. Anerkannte Regeln

Die Anwendung von Art. 11 Abs. 1 BetmG verlangt zuerst die Beantwortung der Frage, was «aner­kannte Regeln der medizinischen Wissenschaften» sind. Dieser unbestimmte Rechts­begriff findet sich nicht nur in Art. 11 Abs. 1 BetmG, sondern auch in Art. 26 Abs. 1 HMG. Die kantonale Vorinstanz hatte den Schuldspruch der Erstinstanz mit der Begründung bestätigt, dass der Beschwerdeführer die im Zeitpunkt der Tathandlung massgebenden medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) von 2004 betreffend die «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebens­ende»[27] nicht eingehalten und damit seine Sorgfaltspflichten verletzt habe[28].

Die Vorinstanz ist demzufolge davon ausgegangen, dass die Richtlinien der SAMW «aner­kannte Regeln der medizinischen Wissenschaften» darstellen. Das Bundesgericht bezeichnete in seinem Grundsatzurteil zur Suizidhilfe von 2006 die damaligen Richtlinien der SAMW betreffend die Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende als anerkannte medizinische «Berufsregeln» ― nicht aber als anerkannte Regeln der medizinischen Wissen­schaften[29]. In einem nicht amtlich publizierten Urteil von 2010 hielt das Bundesgericht negativ fest, dass die an keiner (tödlich verlaufenden) Krankheit leidende Beschwerdeführerin die Voraussetzungen der Richtlinien der SAMW betreffend die Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende nicht erfülle und auch aus diesem Grund von der Ärzteschaft oder dem Staat nicht verlangen könne, durch die Abgabe von NaP für den von ihr gewünschten Tod zu sorgen[30]. In einem weiteren Urteil von 2016 stellte das Bundesgericht klar, dass das Gesetz im Bereich der Suizidhilfe nicht direkt auf die Richtlinien der SAMW verweise und das Gericht daher nicht an diese gebunden sei; da es sich um einen sensiblen Bereich handle, sei die Perspektive der medizinischen Fachpersonen und ihrer Ethikkommission dennoch wichtig[31].

Aus der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich damit nicht herleiten, dass die Richtlinien der SAMW im Bereich der Suizidhilfe als anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaften im Sinne von Art. 11 Abs. 1 BetmG und Art. 26 Abs. 1 HMG gelten. In eine andere Richtung deutet demgegenüber der folgende Satz im vorliegenden Urteil (E. 1.6): «Le fait que les dispositions de la LPTh renvoient aux règles émanant de l'ASSM et de la FMH, à savoir des règles non contraignantes et d'origine privée (cf. arrêt CourEDH Gross contre Suisse du 14 mai 2013 précité), ne change rien aux observations qui précèdent, dès lors que le com­portement du recourant n'est pas appréhendé par cette loi.» Das Bundesgericht scheint somit davon auszugehen, dass das Heilmittelgesetz auf die Richtlinien der SAMW und der FMH verweist. Diese Bemerkung steht indessen singulär da, ist nicht begründet und fügt sich nicht ein in die bisherige Rechtsprechung zur Frage, ob die Richtlinien der SAMW als anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaften gelten. Die Aussage, dass für die Verschreibung von Arzneimitteln bzw. Betäubungsmitteln die Richtlinien der SAMW massgebend sind, wäre von grundsätzlicher Bedeutung und hätte eine eingehende Erörterung verlangt. Nicht nur fehlt eine solche Begründung, das Bundesgericht setzt sich damit auch in Widerspruch zur voran­gegangenen Erwägung 1.5.2, wonach die Anwendbarkeit des Heilmittelgesetzes offenbleiben könne. Dem zitierten Satz in den Schlussfolgerungen kommt deshalb kein präjudizielles Gewicht zu.

Zu diskutieren sind vorliegend die medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW zum «Um­gang mit Sterben und Tod» von 2018[32]. Die Richtlinien wurden von der SAMW 2021 angepasst und in der Folge von der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) in die Standes­ordnung übernommen[33]. In Ziff. 6.2.1 definieren die Richtlinien die Voraussetzungen, unter denen ärztliche Beihilfe bei der Verwirklichung des Suizidwunschs «medizin-ethisch vertretbar»[34] ist. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Suizidhilfe zulässig sein soll, ist indessen keine medizinische, sondern eine ethisch-normative Frage. Die Tatsache, dass sich die SAMW auch solcher ethischen Fragen annimmt und medizin-ethische Richtlinien verabschiedet, macht die Frage der Zulässigkeit von Suizidhilfe nicht zu einer Frage der medizinischen Wissenschaften. Soweit die SAMW in ihren Richtlinien die normativen Vor­aus­setzungen und Grenzen der Suizidhilfe definiert, kann folglich von anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften im Sinne von Art. 11 Abs. 1 BetmG nicht die Rede sein[35]. Ansonsten würde die SAMW als private Organisation über die rechtliche Zulässigkeit und damit über die Strafbarkeit der Suizidhilfe entscheiden. Dies käme einem dynamischen Verweis bzw. einer Rechtssetzungsdelegation an Private in einer wichtigen Rechtsetzungs­materie gleich, was verfassungsrechtlich unzulässig wäre[36].

Die entscheidende Frage ist somit, ob für die Verschreibung und Abgabe von NaP an suizid­willige Personen ein medizinischer Standard existiert, der in den medizinischen Wissen­schaften anerkannt ist. Die Frage ist zu bejahen: So haben beispielsweise die Royal Dutch Medical Association und die Royal Dutch Society for the Advancement of Pharmacy Leitlinien für die Verwendung von NaP im Rahmen der Sterbe- und Suizidhilfe in den Niederlanden herausgegeben[37]. In diesen Leitlinien wird - anders als in den erwähnten Richtlinien der SAMW zum «Umgang mit Sterben und Tod» - geregelt, welches Mittel in welcher Dosis und welcher Form zum Zweck der Sterbe- und Suizidhilfe zu verabreichen ist. Entsprechende Regeln haben sich auch in der Schweiz und andernorts im Rahmen der seit Jahrzehnten von Ärztinnen und Ärzten praktizierten Suizidhilfe etabliert[38]. Diese aus Leitlinien von medi­zini­schen Verbänden bzw. langjähriger und einheitlicher Praxis folgenden Regeln zur Verschrei­bung von NaP sind durchaus als anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaften im Sinne von Art. 11 Abs. 1 BetmG zu verstehen.

Als Zwischenergebnis ist demnach festzuhalten, dass es zwar anerkannte Regeln der medizini­schen Wissenschaften zur Frage gibt, welches Mittel in welcher Dosis und welcher Form in Rahmen der Suizidhilfe zu verwenden ist. Diese können beigezogen werden, wenn es um die Anwendung von Art. 11 Abs. 1 BetmG und dem dort vorausgesetzten medizinischen Standard geht. Soweit sich Richtlinien von medizinischen Gesellschaften jedoch zur Zulässigkeit von Suizidhilfe äussern, handelt es sich nicht um ankannte Regeln der medizinischen Wissen­schaften im Sinne von Art. 11 Abs. 1 BetmG. Würden die Richtlinien der SAMW zur ethischen Vertretbarkeit der ärztlichen Suizidhilfe als anerkannte Regeln der medizinischen Wissen­schaften interpretiert, käme der SAMW die Funktion einer privaten Schattengesetzgeberin zu. Eine solche Gesetzesinterpretation wäre verfassungsrechtlich nicht haltbar.

3. Notwendige Verschreibung

In einem nächsten Schritt ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 11 Abs. 1 BetmG zu fragen, ob die Verschreibung und Abgabe von NaP an suizidwillige Personen nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften «notwendig» ist. Entscheidend ist dabei, mit Blick auf welches Ziel die Notwendigkeit beurteilt wird: Ist das Ziel die rasche und schmerzlose Herbeiführung des Todes, ist die Verschreibung von NaP im Einklang mit den Vorgaben der anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig. Ist das Ziel die Behand­lung einer Krankheit oder die Linderung von Schmerzen, ist dagegen die Verschreibung von NaP nicht notwendig, da die Herbeiführung des Todes keine «Behandlung» oder «Therapie» darstellt. Dies unabhängig davon, ob die sterbewillige Person krank oder gesund ist. Zwischen diesen beiden Interpretationsvarianten liesse sich das Ziel auch dahingehend verstehen, dass sterbewilligen Personen in einer ausweglosen Notsituation ein menschenwürdiges Sterben ermöglicht werden soll. Zur Erreichung dieses Ziels wäre wohl die Verschreibung von NaP an terminal oder psychisch schwer Kranke - nicht an Gesunde - als not­wendig zu betrachten.

Der offene Begriff «notwendig» in Art. 11 Abs. 1 BetmG eröffnet demzufolge im Kontext der Suizidhilfe ein Spektrum von Auslegungsvarianten, je nachdem, wie das Ziel des Einsatzes von NaP definiert wird. Auf dem Weg der juristischen Auslegung lässt sich keine weitere Klarheit gewinnen. Auch die Rechtsprechung hilft nicht weiter. Insbesondere lässt sich aus den Urtei­len, in denen das Bundesgericht die Zulässigkeit von Suizidhilfe für physisch oder psychisch schwer kranke Personen bestätigt hat[39], für eine Konkretisierung von Art. 11 Abs. 1 BetmG nichts gewinnen. Auch das vorliegend besprochene Urteil liefert keine Anhaltspunkte, son­dern stiftet in der Erwägung 1.5.3 eher zusätzliche Verwirrung: Darin bemerkt das oberste Gericht, dass im konkreten Fall an einer Bestrafung des Beschwerdeführers gar kein gesund­heits­polizeiliches Interesse bestehe. Denn der Beschwerdeführer hätte - so das Bundesgericht - auch straffrei Suizidhilfe leisten können, indem er der betroffenen Person beispielsweise eine Waffe oder eine nicht verschreibungspflichtige Substanz in tödlicher Menge zur Ver­fü­gung gestellt hätte. Ob sich das Bundesgericht mit diesen Äusserungen für eine liberale Interpretation der Verschreibungsregeln ausspricht, einen Verzicht auf Strafverfolgung im Rahmen des Opportunitätsprinzips nahelegt oder lediglich einen Appell an den Gesetzgeber richtet, bleibt gänzlich im Dunkeln.

Aufgrund der Unbestimmtheit des geltenden Rechts wäre es Sache des Gesetzgebers, Voraus­set­zungen und Grenzen der Suizidhilfe zu regeln. Dies hat bereits die Kleine Kammer des EGMR in ihrem Urteil Gross gegen Schweiz vom 14. Mai 2013 festgestellt[40]. Solange der Gesetzgeber dies unterlässt, kommt eine auf das Betäubungsmittelgesetz gestützte Bestrafung von Ärztinnen und Ärzten, die in Übereinstimmung mit den anerkannten Regeln der medizinischen Wissen­schaften bezüglich Substanz, Dosis und Verabreichungsform NaP zum Zweck des Suizids verschreiben, nicht in Frage. Dies weil sich weder Art. 11 Abs. 1 BetmG noch den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften entnehmen lässt, ob und inwieweit die Verschrei­bung und Abgabe von Betäubungsmitteln bzw. psychotropen Stoffen notwendig ist.

Nach ständiger Rechtsprechung umfasst das Legalitätsprinzip nach Art. 1 StGB als Teilgehalt auch das Bestimmtheitsgebot («nulla poena sine lege certa»)[41]. In den Worten des EGMR: «An offence and the sanctions provided for it must be clearly defined in the law. This re­quire­ment is satisfied where the individual can know (…) what acts and omissions will make him criminally liable.»[42] Art. 11 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 lit. e BetmG stellen die Verschreibung von NaP an suizidwillige Personen - seien sie krank oder gesund - unter Strafe, wenn sie nicht «nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig ist». Es wurde gezeigt, dass nicht klar ist, wann eine solche Verschreibung notwendig ist. Eine Bestrafung gestützt auf diese Bestimmungen würde somit das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot nach Art. 1 StGB verletzen.[43]

Das Ergebnis, dass die Verschreibung von NaP für eine suizidwillige gesunde Person nicht nach Betäubungsmittelgesetz strafbar ist, wirft die Frage auf, ob die relevanten Bestimmungen des - an sich anwendbaren (vgl. vorne Kap. II) - Heilmittelgesetzes wieder aufleben. Selbst wenn dies der Fall wäre, ergäbe sich auch aus dem Heilmittelgesetz keine Strafbarkeit. Art. 26 Abs. 1 HMG verlangt, dass bei der Verschreibung von Arzneimitteln die anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften beachtet werden. Dies ist der Fall, wenn NaP als Suizidmittel in einer Dosis und Form verschrieben wird, die dem Standard entspricht, wie er aus Leitlinien von medizinischen Verbänden bzw. lang­jäh­riger und einheitlicher Praxis hervorgeht.

V. Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Heilmittelgesetz auf die ärztliche Verschreibung von NaP für kranke wie auch gesunde suizidwillige Personen an sich anwendbar wäre (Kap. II). Da aber die Verschreibungsregeln des Betäubungs­mittel­geset­zes strenger sind, gehen diese denjenigen des Heilmittelgesetzes vor (Kap. III). Ob die Verschreibung von NaP für Gesunde zum Zweck des Suizids nach Betäubungsmittel­gesetz strafbar ist, hängt davon ab, ob diese gemäss Art. 11 Abs. 1 BetmG «nach den aner­kann­ten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig ist». Zwar darf heute als medizinisch anerkannt gelten, dass sich NaP zur Suizidhilfe eignet; ungeklärt ist jedoch die Frage, inwie­fern eine solche Abgabe als notwendig zu betrachten ist. Letzteres betrifft die Zulässigkeit der Suizidhilfe. Inwiefern die Abgabe von NaP an kranke oder gesunde Sterbewillige zulässig sein soll, ist eine normative Frage. Diese hat der Gesetzgeber zu regeln. Zur Beurteilung der Frage, inwieweit Suizidhilfe zulässig ist, kann deshalb nicht auf die Richtlinien der SAMW zum «Um­gang mit Sterben und Tod» abgestellt werden; ansonsten läge eine verfassungswidrige Rechts­setzungsdelegation an eine private Organisation in einer wichtigen Materie vor. Das Gesetz lässt somit offen, mit Blick auf welches Ziel die Verschreibung von Betäubungsmitteln im Sin­ne von Art. 11 Abs. 1 BetmG als notwendig zu beurteilen ist. Eine strafrechtliche Verurteilung von Ärztinnen und Ärzten, die NaP an urteilsfähige gesunde Personen zum Zweck des Suizids verschreiben, würde damit den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 1 StGB verletzen. Im Übrigen wäre auch eine Bestrafung nach Heilmittelgesetz ausgeschlossen, falls dieses infolge der fehlenden Strafbarkeit nach Betäubungsmittelgesetz wieder aufleben würde. In Betracht kommt somit allein der allgemeine Tatbestand in Art. 115 StGB, der ein Han­deln aus selbstsüchtigen Beweggründen voraussetzt (Kap. IV).

Im Interesse der Rechtssicherheit wäre wünschbar gewesen, dass sich das Bundesgericht zur Strafbarkeit der Verschreibung von NaP für suizidwillige Personen nach Betäubungs­mittel­gesetz geäussert hätte. Die nächste Gelegenheit zur Klärung wird sich voraussichtlich bieten, wenn das neue Strafurteil des zuständigen Genfer Gerichts in der vorliegenden Sache wiederum ans Bundesgericht weitergezogen wird.

Auch aus rechtspolitischer Sicht ist es konsequent, die Verschreibung von NaP für eine urteils­fähige Person zum Zweck des Suizids nicht nach Heilmittel- oder Betäubungsmittel­gesetz zu bestrafen: Die Strafbarkeit der Suizidhilfe kann nicht davon abhängen, mit welchen Mitteln die Hilfe geleistet wird, solange die Mittel geeignet sind, das von der suizidwilligen Person gewünschte Ziel einer raschen und schmerzfreien Herbeiführung des Todes zu erreichen. Die Suizidhilfe wäre ohnehin nicht nach dem Heilmittel- oder Betäubungsmittelgesetz strafbar, wenn sie mit Mitteln erfolgte, die diesen Gesetzen nicht unterstehen, selbst wenn diese Mittel mit grösseren Leiden verbunden wären[44]. Den Arzt ausgerechnet dann zu bestrafen, wenn er das anerkanntermassen wirksamste und sicherste Suizidmittel verschreibt, ist wertungs­wider­­sprüchlich.

Dem Gesetzgeber steht es frei, über Art. 115 StGB hinaus Regeln zur Zulässigkeit der ärztlichen Suizidhilfe zu erlassen. Parlamentarische Vorstösse zu diesem Thema werden indessen von Bundesrat und Parlament konsequent mit der Behauptung, dass eine klare Regelung vorliege, erledigt[45]. Wie im vorliegenden Beitrag gezeigt wurde, ist dem jedoch keineswegs so: Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Verschreibung und Abgabe von NaP an suizidwillige Personen nach Betäubungsmittelgesetz strafbar ist, hat das Bundesgericht auch im besprochenen Urteil offengelassen. Immerhin ist aus dem Urteil de lege ferenda zu schliessen, dass es für ein Verbot der Suizidhilfe zugunsten von urteilsfähigen gesunden Personen an einem hinreichenden gesundheitspolizeilichen Interesse fehlt (E. 1.5.3). Die Autoren haben dargelegt, dass eine Bestrafung bereits de lege lata ausgeschlossen ist.



[1] Bundesgesetz vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21).

[2] Urteil des Kantonsgerichts Genf P/8913/2017 vom 20. April 2020.

[3] Urteil des Bundesgerichts 6B_646/2020 vom 9. Dezember 2021.

[4] Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (StGB; SR 311.0).

[5] Im Zeitpunkt des Bundesgerichtsurteils galt noch die ursprüngliche Fassung des Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG vom 15. Dezember 2000 (AS 2001 2790), die mittels Teilrevision vom 18. März 2016 (in Kraft seit 1. Januar 2019) präzisiert wurde; in der Sache hat diese Änderung von Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG auf den vorliegenden Fall keine Auswirkungen.

[6] Bundesgesetz vom 3. Oktober 1951 über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelgesetz, BetmG; SR 812.121).

[7] Art. 3 Abs. 2 lit. b Verordnung vom 25. Mai 2011 über die Betäubungsmittelkontrolle (BetmKV; SR 812.121.1) i.V.m. Anhang 1, Gesamtverzeichnis der kontrollierten Substanzen der Verzeichnisse a-d, Verzeichnis b der Verordnung des EDI vom 30. Mai 2011 über die Verzeichnisse der Betäubungsmittel, psychotropen Stoffe, Vorläuferstoffe und Hilfschemikalien (BetmVV-EDI; SR 812.121.11).

[8] Mit Verweis auf Thomas Eichenberger, in: Eichenberger/Jaisli/Richli (Hrsg.), Basler Kommentar zum Heilmittelgesetz, 2. Aufl., Basel 2021, N 21 zu Art. 2 HMG (zit. BSK HMG-Bearbeiter:in); Gustav Hug-Beeli, Kommentar zum Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe, Basel 2016, N 1 zu Art. 1b BetmG.

[9] Bericht des Bundesrates vom Juni 2011 (Palliative Care, Suizidprävention und organisierte Suizidhilfe), S. 22 f.

[10] Mit Verweis auf die der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), Medizin-ethischen Richtlinien zum «Umgang mit Sterben und Tod» von 2018, S. 25; Bericht des Bundesrates von 2011 (Fn. 9), S. 24 f.

[11] So etwa Hug-Beeli (Fn. 8), Art. 1b N 1; Thomas Fingerhuth / Stephan Schlegel / Oliver Jucker (Hrsg.), BetmG Kommentar, Betäubungsmittelgesetz mit weiteren Erlassen, 3. Aufl., Zürich 2016, Art. 1b N 2; BSK HMG-Eichenberger, Art. 2 N 21.

[12] BSK HMG-Eggenberger Stöckli / Kesselring, Art. 4 N 15.

[13] Botschaft vom 1. März 1999 zu einem Bundesgesetzt über Arzneimittel und Medizinalprodukte (BBl 1999 III 3453), S. 3488.

[16] Dazu eingehend Daniel Hürlimann, Recht und Medizin am Lebensende, Menschenrechtliche Anforderungen und Regulierungsvorschläge, Baden-Baden 2022, S. 116 ff.

[17] Vgl. BGE 133 I 58 E. 4; Urteil des Bundesgerichts 2C_839/2008 vom 1. April 2009 E. 2; Urteil des Bundesgerichts 2C_410/2014 vom 22. Januar 2015 E. 4.2.

[18] Hug-Beeli (Fn. 8), Art. 1b N 5; Thomas Gächter / Thuy Xuan Truong, Die Rolle der Ärzteschaft in der Sterbehilfe, insbesondere bei der Verschreibung von Natrium-Pentobarbital, Praxis 2019/3, S. 194.

[19] Insoweit zu pauschal Fingerhuth/Schlegel/Jucker (Fn. 11), Art. 1 b N 3.

[20] Kursiv-Hervorhebung durch die Verfasser.

[21] Kursiv-Hervorhebung durch die Verfasser.

[22] Mögliche Rechtsfolgen nach Medizinalberuferecht und ärztlichem Standesrecht (FMH-Standesordnung) werden im vorliegenden Beitrag nicht behandelt; entsprechende Verfahren sind im Bereich der Suizidhilfe in der Praxis selten, vgl. Hürlimann (Fn. 16), S. 349.

[23] Bundesgesetz über die Betäubungsmittel vom 3. Oktober 1951 (Referendumsvorlage; BBl 1951 III 179), S. 182.

[24] Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend Betäubungsmittel vom 9. April 1951 (BBl 1951 I 829), S. 842.

[26] Hug-Beeli (Fn. 8), Art. 11 N 47.

[27] Diese Richtlinien hat die SAMW im Jahr 2018 abgelöst durch die medizinisch-ethischen Richtlinien zum «Umgang mit Sterben und Tod», welche wiederum im Jahr 2021 angepasst wurden (vgl. SAMW, Richtlinien [Fn. 10] und die Hinweise in Fn. 33).

[28] Urteil des Kantonsgerichts Genf AARP/145/2020 vom 20. April 2020 E. 2.8.1.

[30] Urteil des Bundesgerichts 2C_9/2010 vom 12. April 2010 E. 3.1.

[32] SAMW, Richtlinien (Fn. 10); im Zeitpunkt der Tathandlung (ärztliche Verschreibung von NaP für eine gesunde Person) waren noch die SAMW-Richtlinien von 2004 betreffend die «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» massgebend.

[33] Dazu Yvonne Gilli / Henri Bounameaux, Leitplanken für Behandlungen und Betreuung am Lebensende, SÄZ 2022, S. 796 f.

[34] Diese Formulierung wurde erst mit der am 25. November 2021 erfolgten Anpassung der ursprünglichen Version vom 17. Mai 2018 in die Richtlinien aufgenommen.

[35] Ebenso Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt VD.2017.21 vom 6. Juli 2017 E. 5.4.6. Aus der Lehre Hürlimann (Fn. 16), S. 114 und 350; Fingerhuth/Schlegel/Jucker (Fn. 11), Art. 11 N 11; Laura Pultrone, Prävention und individuelle Freiheit / Rezeptierung von NaP für die Suizidbeihilfe, in: Coninx/Ege/Mausbach (Hrsg.), Prävention und freiheitliche Rechtsordnung, Analysen und Perspektiven von Assistierenden des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich, Zürich et al. 2017, S. 187 ff.; Patrick Schaerz, Strafgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, ES.2011.210, Urteil vom 5. Juli 2012, AJP 2013, S. 942;. Anderer Ansicht wohl Eva Maria Belser / Sandra Egli, Das Recht auf einen selbstbestimmten Tod, ZBJV 156/2020 S. 392; Gächter/Truong (Fn. 18), S. 195; unklar BSK HMG-Bürgi (Fn. 11), Art. 26 N 8 ff.

[36] Zur Verfassungswidrigkeit von Rechtsetzungsdelegationen an private Organisationen in wichtigen Materien BGE 136 I 316 E. 2.4.1; Georg Müller / Felix Uhlmann, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 3. Aufl., Zürich 2013, S. 311; Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl., Bern 2021, S. 591.

[37] Royal Dutch Medical Association (knmg)/Royal Dutch Society for the Advancement of Pharmacy (KNMP), Guidelines for the Practice of Euthanasia and Physician-Assisted Suicide, 2012. Von der jüngsten, im September 2021 publizierten Version (Richtlijn Uitvoering euthanasie en hulp bij zelfdoding, 2021) ist bisher keine englischsprachige Fassung erhältlich.

[38] Siehe dazu die (durch das Bundesgericht mit BGE 136 II 415 für nichtig erklärte) Vereinbarung zwischen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und EXIT Deutsche Schweiz über die organisierte Suizidhilfe vom 30. Juni 2009, Ziff. 2.3 (Sterbemittel) sowie die Ausführungen zu Natrium-Pentobarbital bei Klaus P. Hotz, Barbiturat - das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital NaP, in: Wehrli/Sutter/Kaufmann (Hrsg.), Der organisierte Tod, Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende, 2. Aufl., Zürich 2015, S. 257f.; Frank Petermann, Rechtliche Überlegungen zur Problematik der Rezeptierung und Verfügbarkeit von Natrium-Pentobarbital, AJP 2006, S. 441.

[39] BGE 133 I 58 ; Urteil des Bundesgerichts 2C_191/2008 vom 24. Juni 2008; Urteil des Bundesgerichts 2C_9/2010 vom 12. April 2010.

[40] Urteil des EGMR 67810/10 vom 14. Mai 2013 (Gross gegen Schweiz), Ziff. 67. Das Urteil wurde von der Grossen Kammer aufgehoben, weil die Beschwerdeführerin bereits vor dem ersten EGMR-Urteil tot war und dies dem Gericht verschwiegen wurde: Urteil des EGMR [GK] 67810/10 vom 30. September 2014 (Gross gegen Schweiz), Ziff. 37. Siehe dazu Daniel Hürlimann, Kommentar zum jüngsten Suizidhilfe-Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Schweizerische Ärztezeitung 2013, S. 1173 ff.; Yves Donzallaz, Traité de droit médical, Bd. III, 2021, N 8377, 8381.

[41] BGE 145 IV 329 E. 2.2; BGE 138 IV 13 E. 4.1 je m.w.H.

[42] Urteil des EGMR [GK] 23536/94 und 24408/94 vom 8. Juli 1999 (Başkaya und Okçuoğlu gegen Türkei), Ziff. 36; ebenso das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung: «Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann» (BGE 145 IV 329 E. 2.2 m.w.H.).

[43] Vgl. BGE 139 IV 62 nicht publ. E. 2.4 f. [Urteil des Bundesgerichts 6B_771/2011 vom 11. Dezember 2012], wo sogar ein mangelhafter Binnenverweis innerhalb des Heilmittelgesetzes als Verletzung des Bestimmtheitsgebots eingestuft wurde («Die Strafbestimmung gemäss Art. 87 Abs. 1 lit. b HMG erfasst somit das in Art. 33 Abs. 2 HMG geregelte Verhalten nicht mit der nach dem Legalitätsprinzip im Sinne von Art. 1 StGB erforderlichen Bestimmtheit.»). Bei Verweisen auf aussergesetzliche Regelungswerke dürften somit noch strengere Bestimmtheitsanforderungen gelten.

[44] Vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_646/2020 vom 9. Dezember 2021 E. 1.5.3.

[45] Vgl. die Hinweise in Urteil des Bundesgerichts 6B_646/2020 vom 9. Dezember 2021 E. 1.3.4, sowie den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 15. November 2018 (Kt. Iv. NE. Bedingungen für die Suizidhilfe), S. 2 f., und den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 22. März 2018 (Kt. Iv. NE. Bedingungen für die Suizidhilfe), S. 2.